SOWJET-UNION / SCHUKOW-MEMOIREN Symbol des Sieges
Georgij Konstantinowitsch Schukow, 72, Marschall der Sowjet-Union, halb erblindet und gelähmt, ist zum letzten Gefecht angetreten: Auf den Seiten seiner Mitte April in Moskau erschienenen Memoiren kämpft er noch einmal um die Trophäe, die ihm übellaunige Kameraden streitig machen: um den Anspruch, den entscheidenden Sieg über Hitler-Deutschland erzwungen zu haben.
Das literarische Nachhutgefecht aber hat dem verblaßten Ruhm eines Dritten neuen Glanz verliehen: Schukows »Erinnerungen und Gedanken« (erste Auflage: 600 000) lassen Josef Stalin als einen weisen, gütigen und energischen Führer erscheinen, der den Sieg im »Großen Vaterländischen Krieg« sicherte*.
»Alles an Stalin beeindruckte mich«, erinnert sich Schukow, »seine äußere Erscheinung, seine sanfte Stimme, die Solidität seines Urteils, seine militärischen Kenntnisse und die Aufmerksamkeit, mit der er mir zuhörte.«
Er war, laut Schukow, ein Mann voll innerer Stärke und Würde, dabei bescheiden, mit einem Sinn für Humor begabt, ohne jede Manieriertheit. Er traute niemandem außer den Mitgliedern des Politbüros, dennoch besaß er die Kunst, »das Herz jedes Menschen zu gewinnen, mit dem er sprach«.
Selbst in der Kriegführung leistete Stalin Staunenswertes. Schukows Bilanz: »Keiner hätte die Verteidigung des Vaterlandes damals besser organisieren können als Stalin, und es wäre daher ungerecht, würden wir, das sowjetische Volk, ihm dafür nicht danken.«
* G. K. Schukow: »Wospominanije i rasmyschlenija«; Verlag Nowosti, Moskau; 3,20 Rubel. Die deutsche Ausgabe erscheint in der Deutschen Verlags-Anstalt, Stuttgart.
Solche Formulierungen verlockten westliche Beobachter in Moskau, in den Schukow-Memoiren eine »neue Rehabilitation Stalins« (FAZ) zu sehen. Das ist freilich ein Mißverständnis. Schukow will nicht Stalin rechtfertigen, sondern Schukow.
Denn seit dem Tode des Diktators sah sich Schukow immer härteren Angriffen einer Gruppe sowjetischer Militärs ausgesetzt, die ihm nicht verzeihen können, daß er im Krieg als Aufpasser Stalins und der »Stawka«, einer Art sowjetischem Führerhauptquartier, in die Befehlsbefugnisse der Frontkommandeure hineinkommandierte und sich deren militärischen Lorbeer selber ansteckte.
In der Schlacht von Stalingrad war es zum größten Eklat gekommen: Von Stalin an die Front entsandt, hatte Schukow nach eigenem Gutdünken die Kommandoverhältnisse neu geordnet, die Befehlsgewalt der örtlichen Kommandeure eingeschränkt und mit gröbsten disziplinarischen Maßnahmen die Einhaltung aller Befehle der frontfremden Stawka erzwungen.
Schukow war bald beinahe so verhaßt wie der Feind, zumal in Stalingrad Generale kommandierten, die alle einmal von der Stawka gemaßregelt worden waren: Wassilij Tschuikow war kurz nach Kriegsbeginn seines Postens enthoben, K. S. Moskalenko zur Stabsarbeit degradiert worden, Rodion Malinowski knapp einer Verhaftung entgangen.
Die Stawka-Opfer fanden jedoch in Stalingrad einen Politruk, der sie gegenüber Schukow in Schutz nahm und ihnen später große Karrieren ermöglichte: Nikita Chruschtschow. Ihrer aller Stunde schlug, als Chruschtschow nach dem Tode Stalins an die Macht kam.
Zwar mußte Chruschtschow 1955 den prestigeschweren Berlin-Sieger Schukow zum Verteidigungsminister ernennen, aber schon zwei Jahre später setzte er den auf die Sonderstellung des Militärs pochenden Marschall als »Parteifeind« ab. Jetzt traten die alten Freunde aus Stalingrad an: Malinowski wurde Schukows Nachfolger, Tschuikow erhielt den Oberbefehl über das Heer, Moskalenko wurde Raketen-Chef.
Gemeinsam machten sie sich daran, das militärische Renommee Stalins und seiner engeren Gefolgsleute zu zerstören. Im Windschatten von Chruschtschows politischer Entstalinisierung beschuldigten sie Stalin in Memoiren und Einzeldarstellungen, er habe
* die Sowjet-Union 1941 ungerüstet in den Krieg schliddern lassen und alle Warnungen vor dem deutschen Überfall ignoriert,
* den Krieg mit frontfremden Beratern geführt,
* die entscheidende Bedeutung der Schlacht von Stalingrad bewußt heruntergespielt -- zugunsten der Schlacht von Moskau, deren Ausgang er sich selbst zum Verdienst anrechnete.
Die Attacke richtete sich offenkundig auch gegen Schukow, denn als Generalstabschef und stellvertretender Oberbefehlshaber hatte er Stalin in allen wichtigen militärischen Entscheidungen ab Anfang 1941 beraten.
Vor dem zwanzigsten Jahrestag der Schlacht von Berlin klagte Stalingrad-Veteran Tschuikow seinen alten Peiniger Schukow an, durch Eitelkeit und sklavische Stalin-Treue den Krieg verlängert zu haben, Tschuikow: »Ich bin der festen Überzeugung, daß Berlin schon im Februar 1945 gewonnen werden konnte.« Der linke Flügel der sowjetischen Angriffsarmeen« Marschall Konjews Erste -- Ukrainische Front, hätte Berlin damals sofort einnehmen können, aber das habe Schukow nicht zugelassen -- er habe allein der Eroberer Berlins sein wollen.
Schukow schwieg, solange er offiziell als »Parteifeind« galt. Nach dem Sturz Chruschtschows überließ er es zunächst seinen ehemaligen Kommandeuren, zum Gegenangriff überzugehen. Im März 1965 beschuldigte Generalleutnant N. Antipenko den Kritiker Tschuikow, er habe die Tatsachen völlig verfälscht, und einen Monat später sprach Generalleutnant K. Telegin dem Marschall Tschuikow jede Fähigkeit ab, über Schukow zu urteilen.
Endlich rührte sich Schukow selbst, 1966 durch Verleihung des Leninordens wieder rehabilitiert. In mehreren Zeitschriftenartikeln wies er Tschuikows Vorwürfe zurück. Doch das genügte ihm nicht. Und so benutzte er sein breitangelegtes Erinnerungsbuch, um über sein Verhältnis zu Stalin Rechenschaft abzulegen.
Im Mai 1940 hatten sich die beiden Männer kennengelernt. Stalin war von der Art beeindruckt, in der Armeekommandant Georgij Schukow an der Spitze schlecht ausgebildeter Infanterie- und Panzerverbände die in die Äußere Mongolei eingedrungenen Elitetruppen Japans zurückgeschlagen halle. Er ließ ihn nach Moskau zum Rapport kommen.
Die kalte Dunhill-Pfeife in der Hand, in seinem Studio auf und ab schreitend, unterzog Stalin den Soldaten einem schier pausenlosen Verhör. Alles wollte er von ihm wissen: seine Meinung über die Leistungen der eigenen Truppe, ihre Schwächen, den Angriffsgeist der Japaner.
Die Prüfung fiel für Schukow offenbar zufriedenstellend aus, denn noch zur gleichen Zeit erhielt er die Ernennung zum Armeegeneral und den Befehl über Sowjetrußlands wichtigsten Wehrkreis, den Sonderdistrikt Kiew. Aufgeregt eilte Schukow ins Hotel »Moskwa« und konnte in der Nacht kaum schlafen: Er glaubte, einem großen Mann begegnet zu sein.
Auch Stalin fand bestätigt, was man sich über den Bauernjungen aus Mittelrußland erzählte: Schukow sei ein Grobian und Pollerer, hart gegen sich und andere, ein typischer Zögling der zaristischen Dragoner-Tradition, auf der Frunse-Militärakademie und in Lehrgängen der deutschen Reichswehr zu moderner Kriegführung erzogen.
Der Härte aber bedurfte Schukow, wollte er neben Stalin bestehen. Stets peinigte den Diktator das Mißtrauen, von unfähigen Gehilfen umgeben zu sein. »Stalin schien eine Freude daran zu haben«, so erzählt Schukow, »schwache Punkte in Berichten und Dokumenten auszumachen, er legte sie sofort bloß und bestrafte streng jeden, der sich einer Ungenauigkeit schuldig gemacht hatte.«
Wer seine Sache nicht überzeugend vorzutragen wußte, hatte von dem Diktator schärfste Strafen zu gewärtigen. Mancher brach innerlich unter dem stechend mißtrauischen Blick Stalins zusammen. Schukow: »Sein starrer Blick durchdrang alles und schlug einen so in Bann, daß ihn nur Mutige aushalten konnten.«
Der erdhafte Schukow hielt ihn aus. Stalin begann, sich an ihn so zu gewöhnen, daß er Schukow immer mehr zu militärischen Beratungen heranzog. Im Februar 1941 ernannte er ihn zum Generalstabschef der Roten Armee.
Nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges mußte freilich Schukow erfahren, daß sein Rat nur gewünscht war, solange er Stalin gefiel. Zwar beteuert der Memoirenschreiber, Stalin habe auch andere Meinungen geduldet, doch ein Beispiel für die Diktatoren-Toleranz weiß er nicht zu nennen.
Im Gegenteil: Schon ein halbes Jahr nach seiner Ernennung scheiterte der Generalstabschef Schukow an der Intoleranz Stalins. Als er Ende Juli 1941 vorschlug, Kiew vor den Deutschen zu räumen und später durch einen Gegenstoß zurückzuerobern, brauste Stalin auf: »Gegenstoß? Wovon reden Sie da, was ist denn das für ein Quatsch? Wie können Sie nur daran denken, Kiew den Deutschen zu überlassen!«
Schukow brüllte zurück: »Wenn Sie glauben, daß Ihr Generalstabschef nur Quatsch redet, dann hat er hier nichts mehr zu suchen. Ich bitte um meine Entlassung!« Stalin beschwichtigte: »Nun seien Sie doch nicht so hitzig. Aber wenn Sie wollen, können wir auch ohne Sie auskommen.«
Vierzig Minuten später hatte er Schukow entlassen, aber zum Bruch mochte er es nicht kommen lassen. Stalin ernannte Schukow ("Ich kann alles mögliche") zum Befehlshaber einer Heeresgruppe.
Schukow wollte sich abmelden, doch Stalin hielt ihn zurück: »Setzen Sie sich, wir trinken noch eine Tasse Tee zusammen. Wir haben noch viel miteinander zu besprechen.« Die Szene war nicht ohne Symbolkraft: Der Diktator beschimpfte ihn noch oft, verbat sich Schukows Ratschläge, setzte ihn
* Bei einem Besuch der sowjetischen Südfront, im Hauptquartier der 1. Panzerbrigade; 1943.
ab, doch nie verlor er das Vertrauen zu seinem Lieblingssoldaten.
Schukow wiederum sah sich, ob er wollte oder nicht, auf alle Zeit mit Stalin verbunden. Noch heute fühlt er sich Stalin so verpflichtet, daß er keine schwerwiegende Kritik an dem einstigen Chef akzeptieren will. Den Vorwurf der Stalingrad-Gruppe, der Diktator habe das Land miserabel auf den Krieg mit Deutschland vorbereitet, weist Schukow zurück.
Dabei opfert er sogar eigene Überzeugungen. Noch 1956 hatte den Verteidigungsminister Schukow die Erkenntnis bewegt, Stalin habe durch die blutige Säuberung der Roten Armee 1937/38 (20 000 Offiziere kamen dabei um) Sowjetrußlands militärische Elite vernichtet. In seinen Memoiren tut Schukow jetzt den größten Aderlaß einer Armee in Friedenszeiten mit der Bemerkung ab, 1937 sei es zu »unbegründeten Verhaftungen in der Armee« gekommen, die »natürlich die Entwicklung der Streitkräfte berührten«.
Auch die These, aus politischer Blindheit habe Stalin alle Warnungen vor dem deutschen Überfall ignoriert, bagatellisiert Schukow: Die meisten Warnungen seien von westlichen Alliierten gekommen, die Stalin im Verdacht gehabt habe, Rußland zum Krieg gegen Hitler provozieren zu wollen; im übrigen hätten auch die Militärs die Warnungen mißdeutet.
Als Beweise legt Schukow sowjetische Geheimdienstmeldungen vom März 1941 vor, in denen der russische Militärattaché in Berlin den deutschen Operationsplan gegen die UdSSR detailliert beschrieb und den Angriffstermin auf die Zeit zwischen dem 15. Mai und 15. Juni 1941 terminierte. Der sowjetische Geheimdienst-Chef General F. I. Golikow sah jedoch in solchen Informationen nur Tricks der deutschen Gegenspionage, mit denen die Vorbereitungen für die (von Moskau erwartete) Landung in England verschleiert werden sollte. Golikow am 20. März 1941: »Der wahrscheinlichste Termin eines Angriffs gegen die UdSSR liegt nach dem Sieg über England.«
Weitergehender Kritik aber hält Schukow entgegen, er selber habe als Generalstabschef die Armee auf den Waffengang mit den Faschisten vorbereitet, die Einsatzpläne laufend verbessert und die Streitkräfte modernisiert. Er habe auch schon vor dem deutschen Angriff die Armee mobilmachen wollen, sei aber bei Stalin nicht durchgedrungen, der Hitler keinen Vorwand zu einem Krieg liefern mochte.
Selbstbewußt rechnet sich Memoirenschreiber Schukow das Verdienst zu, mit der »Geschichte machenden Schlacht von Moskau« den deutschen Angriffswillen gebrochen zu haben: Ende Oktober 1941 stoppte er als Oberbefehlshaber den deutschen Vormarsch nach Moskau und leitete die erste sowjetische Gegenoffensive ein.
Die Schlacht von Moskau, so Schukow, habe die Deutschen »überzeugt, daß die sowjetischen Streitkräfte ein unüberwindliches Hindernis für die Ziele des Nazismus waren«. Entsprechend dürr fällt sein Lob für die Stalingrad-Marschälle aus: Den Sieg an der Wolga habe nicht ein einzelner Militär errungen, sondern die ganze Armee, das Volk und die Partei.
Dennoch weiß Schukow selbst hier noch genügend Ruhm für sich zu sichern. Er notiert, nicht ohne Seitenblick auf die Rivalen: »Für die erfolgreiche Führung der Gegenoffensive in Stalingrad erhielt ich neben anderen den Suworow-Orden Erster Klasse.«
»Für mich«, fügt er hinzu, »war die Verteidigung von Stalingrad und die Vorbereitung der Gegenoffensive von besonderer Bedeutung, weil sie mir mehr Erfahrungen bei der Führung von Gegenoffensiven verlieh.« Schukow spielt damit bereits auf seinen Sieg in der Schlacht von Berlin an.
Von Anfang an war .Schukow entschlossen gewesen, Berlin allein zu erobern. Stalin tat ihm den Gefallen: Im November 1944 ordnete er an, Schukows Heeresgruppe solle Berlin den Todesstoß geben. Schon hatte Schukow im Januar 1945 die Oder erreicht, da wurde sein Vormarsch durch einen deutschen Gegenstoß von Norden her aufgehalten.
In diesem Augenblick bot sich der von Südost auf Berlin marschierende Schukow-Rivale Konjew an, mit seiner Heeresgruppe die Stadt zu erobern. Stalin wich einer Entscheidung aus, die Berlin-Offensive wurde unterbrochen. Schukow-Kritiker Tschuikow gab später an, er habe am 4. Februar 1945 bei einer Konferenz im Hauptquartier der 69. Armee ein Telephongespräch zwischen Schukow und Stalin mitgehört, in dem Schukow aus purem Eigennutz verschwieg, daß Konjew sofort Berlin nehmen könne.
Schukow aber kann In seinem Buch nachweisen, daß dieses Telephongespräch nie stattgefunden hat. Mit Unterlagen aus dem sowjetischen Verteidigungsministerium belegt er, daß die angeblichen Konferenzteilnehmer an jenem Tag an anderen Orten weilten. Schukow: »Die Erinnerung hat W. 1. Tschuikow wohl Im Stich gelassen.«
Zudem beschreibt er »die logistische Lage der Sowjetarmeen so genau, daß sich die Folgerung aufdrängen muß, Schukows und Konjews Heeresgruppen seien »im Februar 1945 nicht in der Lage gewesen, Berlin zu erobern Erst Schukows neuer Anlauf am 16. April brach die letzten Dämme rund um Berlin.
In Moskau aber erwartete der Diktator das »Symbol des Sieges« -- so Stalin über Schukow. Ob er eigentlich das Reiten verlernt habe, fragte ihn Stalin, als sich Schukow bei ihm am 19. Juni meldete, Schukow verneinte. Stalin: »Gut, Sie werden die Siegesparade abnehmen. Ich rate ihnen, nehmen Sie den Schimmel, den Ihnen Budjonny zeigen wird.«
Schukow will sich zunächst gesträubt haben, aber drei Minuten vor zehn Uhr am 24. Juni 1945 ritt er auf dem Roten Platz unter den Klängen von Glinkas Gloria-Marsch der Feier des Sieges entgegen -- seines Sieges.