USA / VIETNAM-PROTEST Tag der Trauer
In North Newton im Staate Kansas wurde eine uralte Glocke reaktiviert. Sie schlug fast 40 000mal -- und jeder Glockenschlag erklang für einen in Vietnam gefallenen Amerikaner.
In der Trinity Church von New York, mitten im Zentrum des Wall-Street-Kapitalismus, wechselten sich Geistliche und Intellektuelle, Rechtsanwälte und Bankiers ab beim Verlesen von fast 40 000 Namen -- und jeder Name stand für einen in Vietnam gefallenen Amerikaner,
In Patterson im Staat New Jersey forderten 100 Beschäftigte der Lite Industries Inc. den Rückzug aus Vietnam -- obwohl das für sie selbst Arbeitslosigkeit bedeuten könnte: Ihre Firma liefert kugelsichere Westen und Leichensäcke nach Vietnam.
Im kalifornischen Orange County« wo vor 55 Jahren Richard Nixon geboren wurde, organisierte Edward Whetmore, 23, die erste Studenten-Demonstration in dieser Gegend. »Frieden jetzt«, schrien die Demonstranten. Whetmores Vater, Senator im Staatsparlament, wird von der rechtsradikalen »John Birch Society« unterstützt.
In Wisconsin protestierte der Student John Laird, 21: »Ich finde, jedermann sollte gegen den Krieg sein. Er ist ein bißchen außer Kontrolle geraten,« Johns Vater, Melvin Laird, ist Verteidigungsminister der USA.
Millionen Amerikaner demonstrierten am vergangenen Mittwoch gegen Amerikas Engagement in Südostasien. Millionen folgten dem Aufruf zum »Moratorium«, zum Aufschub ihrer Alltagsarbeit aus Protest gegen einen Krieg, in dem bis zum 11. Oktober 38 969 Amerikaner fielen und 254 847 Amerikaner verwundet wurden. Kinder gingen nicht zur Schule, Väter nicht zur Arbeit, Vietnam-GIs trugen als Zeichen der Solidarität schwarze Armbinden, überall hingen Flaggen auf halbmast. Aber es gab auch dies:
Frauen mit haßverzerrten Gesichtern pöbelten in Fort Bragg friedliche Demonstranten an: »Ihr dreckigen Kommunistenschweine.«
15 republikanische Kongreß-Abgeordnete forderten ihren republikanischen Präsidenten auf, den Krieg sofort zu verschärfen: »Wir haben die halben Maßnahmen und das Gerede von einem feigen Rückzug satt.«
Auf den Straßen schalteten zahlreiche Amerikaner -- auf Vorschlag des »Komitees für verantwortlichen Patriotismus« -- am hellichten Tage ihr Abblendlicht an: als Zeichen der Unterstützung für Amerikas obersten Kriegsherrn Richard Nixon.
»M-Day«, der Moratoriums-Tag« brachte Amerika »die größte Anti-Kriegs-Demonstration seiner Geschichte« -- so die Fernsehgesellschaft NBC. »M-Day« machte zugleich aber auch den Riß, der das Land seit dem Beginn des Vietnam-Abenteuers durchzieht, zur Kluft, die Familien und Parteien, Rassen und Religionen, die das ganze Land spaltet.
Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam hat es schon seit Jahren gegeben. 1967 belagerten die »Armeen der Nacht« (Norman Mailer) das Pentagon, 1968 protestierten Zehntausende während des Parteitags der Demokraten in Chicago. Diesmal aber war alles anders -- und die Kluft deswegen um so tiefer.
Diesmal demonstrierten nicht etwa, wie der konservative Kolumnist Joseph Alsop meinte, »unverantwortliche dumme Jungen, die sich selbst vergiftet haben«, diesmal demonstrierten auch Millionen erwachsener Amerikaner der Mittelklasse, die nie Im Leben einen langen Bart getragen oder einen Einberufungsbefehl verbrannt haben.
Gewiß, auch diesmal hatte die Jugend den Protest organisiert -- dieselbe Jugend, die 1968 für den Vietnamkriegs-Gegner Eugene McCarthy über das Land gezogen war. Die Namenslisten der McCarthy-Freunde waren das wichtigste Hilfsmittel der M-Day-Organisation und zu den McCarthy-Freunden kamen noch die Anhänger des ermordeten Robert Kennedy.
Doch diesmal war der Appell der Jugend noch erfolgreicher -- vielleicht, weil sie gegen den Tod an der Front warben und nicht für einen Schöngeist, den sie 1968 in Ermangelung eines Helden auf ihren Schild gehoben hatten.
Gouverneure mehrerer Bundesstaaten, 47 Abgeordnete des Repräsentantenhauses, 17 Senatoren, 79 Hochschul-Präsidenten, der alte Kardinal Cushing und der alte Diplomat Harriman begrüßten den M-Day als Tag des nationalen Gewissens. New Yorks Bürgermeister Lindsay proklamierte ihn zum »Tag der Trauer
Für den republikanischen Kongreßabgeordneten John J. Duncan aus Tennessee freilich war es »ein Tag der Schande«, für die konservative »New York Daily News« ein »Helf t-dem-Feind-Tag«, für den ultrarechten Abgeordneten Wayne Hays aus Ohio waren alle Moratorium-Befürworter »selbsternannte Botschafter Hanois«.
Denn Wayne Hays und seine Freunde glauben, daß Vietnam auch in Amerika verteidigt wird. Für sie gilt, was Nixons Vorjahresgegner Humphrey so formulierte: »Das Schlimmste, was wir tun können, ist, die Position des Präsidenten zu unterminieren.«
Dabei forderten die meisten Demonstranten keineswegs die bedingungslose Kapitulation, protestierten sie »nicht aus Haß, sondern aus Liebe zu unserer Heimat« (Ex-Uno-Botschafter Arthur Goldberg). Sie wären vermutlich schon mit einem präzisen Termin für die endgültige Beendigung des Vietnam-Engagements zufrieden. »Wir brauchen einen Zeitplan«, so erklärte der republikanische Senator Jacob Javits, »um die innenpolitischen Auseinandersetzungen ein für allemal zu beenden.«
Zwar gab sich Richard Nixon optimistisch:« Ich bin zuversichtlich und glaubte, daß der Krieg in etwa drei Jahren vorüber ist.«
Aber er steht unter dem Druck der Militärs, die -- wie schon zu Johnsons Zeiten -- jeden Abzug für Leichtsinn halten. Und er steht unter dem Zwang, wenigstens jene Amerikaner in seinem Lager halten zu müssen, die ihn im letzten November zum Minderheitspräsidenten wählten: die konservativen Südstaatler und die »Law and Order«-Advokaten der unteren Mittelklasse.
Ihnen imponierte es gewiß, daß sich der Präsident vom Protest der Millionen »unter keinen Umständen beeinflussen lassen« wollte. Ihnen imponierte es, daß Richard Nixon eine Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates über Lateinamerika leitete, während draußen vor dem Weißen Haus Tausende schweigend für den Frieden demonstrierten.
Doch mit jedem Tag, an dem in Vietnam amerikanische Soldaten fallen, wächst für Richard Nixon der Zwang, sich zu entscheiden. Schon hat das M-Day-Komitee sich in Washington mit eigenem Büro und eigener Telephonnummer fest etabliert. Schon sind neue Tage der Trauer geplant.
»Von den Demonstrationen können wir nichts Neues lernen«, hatte Richard Nixon kurz vor dem Moratorium-Tag an den Studenten Randy J. Dicks geschrieben. Die »Iden des Oktober« ("Newsweek") müßten ihn dennoch eines gelehrt haben: daß die Kluft, die jetzt schon das Volk spaltet, sich auch zwischen seiner Regierung und dem Volk zu vertiefen droht, daß sie ihn -- schon wurde das Wahljahr 1972 erwähnt -- verschlingen könnte wie seinen Vorgänger Lyndon Johnson, wenn er weiter nur taktiert, statt zu handeln, wenn er weiter nur ausklammert, statt zu entscheiden.
»Präsident Nixon«, so schrieb die »New York Times«, »kann sich nicht länger in der Illusion wiegen, daß nur die radikalen Splittergruppen einen Bruch mit der Politik der Vergangenheit fordern.«