LUFTFAHRT Tausend Engel
Für Lufthansa-Kapitän Manfred Hoffmann verlief der Start der LH 452 anfangs ganz normal. Nach dem Okay des Lotsen im Tower donnerte die vollbesetzte Boeing 747 mit Tempo 260 über die Piste des Frankfurter Flughafens. Plötzlich schrie der Pilot auf: »Da!« Ein paar hundert Meter vor dem Jumbo-Jet zuckelte ein Vorfeld-Bus die Rollbahn entlang.
Ein Bremsmanöver war zu riskant. Geistesgegenwärtig gab Hoffmann Gas, und mit 370 Kilometern pro Stunde hob der Jumbo ab, Richtung San Francisco, der drohenden Kollision scheinbar entgangen. Über Funk gab der Pilot Entwarnung: »Den Wagen hätten wir bald erwischt.« Antwort des Fluglotsen: »Welchen Wagen?«
Auf dem Rollfeld war ein Unfall passiert, wie er selten vorkommt, aber offenbar alle Tage vorkommen kann. Der Jet hatte den Kleinbus gerammt, unbemerkt von der Boeing-Crew und vom Kontrollturm. Aus dem völlig demolierten VW-Transporter wurde der Fahrer John Wayne Lehmann, 37 und fast zwei Meter groß, mit Prellungen, Schnittwunden und einem schweren Schock geborgen.
Auch die Boeing »Bayern« war lädiert. Die Fahrwerksklappen waren abgerissen und lagen mit Teilen der Rumpfverkleidung verstreut auf dem Flughafen-Gelände. Gut eine Stunde später landete der kaputte Jumbo mit 260 Menschen an Bord wieder auf Rhein-Main. Er war vom Tower zurückbeordert worden.
Die Karambolage war zwar noch einmal glimpflich abgelaufen. »Tausend Schutzengel und das Zusammentreffen vieler glücklicher Umstände«, sagte Flughafen-Chef Erich Becker, »haben ein größeres Unglück verhindert.« Ein mißglücktes Bremsmanöver beispielsweise hätte leicht zur Katastrophe führen können; daß Busfahrer Lehmann lebte, war für Becker »ein Wunder«. Doch derartige Unfälle, so glauben Fluglotsen, könnten sich jederzeit wiederholen.
Der Frankfurter Lotse hatte, wie die Flugunfalluntersuchungsstelle des Braunschweiger Luftfahrt-Bundesamtes (LBA) ermittelte, erst dem Bus zu einer Kontrolltour und dann der Boeing für den Start die Bahn freigegeben - alles innerhalb von zwei Minuten. Mit schuld an dem Vorfall, da war Flughafendirektor Becker damals sicher, war der »Dauerstreß,
dem Fluglotsen weiterhin ausgesetzt sind«. Und in der Tat scheint sich nicht viel geändert zu haben an der Arbeitslast der Flugleiter, die vor zehn Jahren mit ihrem Bummelstreik für bessere Arbeitsbedingungen monatelang den Luftverkehr über der Bundesrepublik lahmlegten.
So bewältigen etwa Frankfurter Fluglotsen in Spitzenzeiten bis zu 70 Starts und Landungen pro Stunde - ein wesentlich größeres Pensum als erlaubt. Die Bundesanstalt für Flugsicherung hält einen »Eckwert« von 45 Flugbewegungen pro Stunde für genug. »Wenn's drüber geht, wird es heiß«, sagt Wolfgang Heim vom Verband Deutscher Flugleiter, menschliches Versagen sei dann »immer drin«. Aber für die Öffentlichkeit scheinen solche Experten-Einsichten nicht bestimmt.
Ein Jahr lang recherchierten die Braunschweiger Unfallexperten, wie es an dem Februar-Sonntag, bei leichtem Nieselregen und beeinträchtigter Sichtweite, zu der Kollision kommen konnte.
Seit dem 23. Februar 1983 liegt der LBA-Abschlußbericht vor, der die Unfallursachen säuberlich auflistet. Nur hat kaum einer das Werk bislang zu Gesicht bekommen, die beteiligten Behörden streiten noch darum.
Die Bundesanstalt für Flugsicherung (BfS), am Ort für die Verkehrslenkung auf Start- und Landebahnen verantwortlich, ist mit der Analyse des Luftfahrt-Bundesamtes nicht einverstanden. Der Unfallbericht, klagt BfS-Referatsleiter Hans U. Ohl, »ist nicht so ausgefallen, wie wir das gewünscht hätten«. Vor einer Veröffentlichung seien doch noch »Details zu klären«.
Was noch fehlt, halten die Kritiker im dunkeln, was sie bedrückt, läßt sich denken. Denn der Bericht schiebt, neben dem Fehler des Lotsen, der Flugsicherung die Verantwortung an der Havarie zu. Für die Unfallkosten - allein 1,5 Millionen Mark Gesamtschaden - müßte sie folglich aufkommen.
Für das Luftfahrt-Bundesamt steht eindeutig fest, wie es zu dem Rums kam und warum. »Zum Zeitpunkt des Vorfalls«, so schreiben die Gutachter in ihrem Bericht, »arbeitete der Flugverkehrslotse ohne Gehilfen« - der Platz im Tower war mithin unterbesetzt. Ein Assistent, da sind sich die Experten einig, hätte den Lotsen auf den »Follow-Me«-Bus aufmerksam gemacht. Das Auto auf der Rollbahn aber hatte der von der startenden Boeing beanspruchte Lotse, wie er zu Protokoll gab, »völlig vergessen«.
Auf bedenkliche Weise wurde auch der Funkverkehr geführt. So ergaben die Recherchen der Braunschweiger einen regelrechten Frequenzsalat als »mitverursachenden Unfallfaktor": Gefunkt wird zwischen Kontrollturm und der startenden Maschine sowie dem Kontrollfahrzeug auf zwei verschiedenen Frequenzen. Ein »altes und bekanntes Problem«, wie ein Sprecher der Bundesanstalt zugibt.
Weder der Fahrer des Busses noch der Flugkapitän hatten deswegen die Erlaubnis des Fluglotsen an den jeweils anderen Fahrzeugführer mithören können. Mit dem Jetpiloten sprechen die Lotsen auf englisch über »Flugfunkfrequenz«, mit den »Follow-Me«-Fahrern auf deutsch über den »Landfunkdienst« - laut LBA eine »risikobehaftete Situation«. Ein derartiger Unfall wäre auch nicht passiert, so meinen die Luftfahrtexperten, wenn bei dem Inspektionstrip im »Follow-Me« ein zweiter Mann mitgefahren wäre, der, rückwärts gewendet, die Startbahn beobachtet hätte.
Unmittelbar betroffen von dem Behördenstreit über den Unfallbericht ist Busfahrer Lehmann ("Ich bin dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen"). Monatelang war er arbeitsunfähig, als »Follow-Me«-Fahrer kann er nicht mehr tätig sein. Bisweilen rennt Lehmann, verfolgt von dem »Wahnsinnscrash«, in panischer Angst aus dem Flughafengebäude, wo er seit dem 1. Juni im Büro jobbt.
Solange kein offizielles Schriftstück über den Unfallhergang vorliegt, muß Lehmann auf Schmerzensgeld, Ausgleich für den Verdienstausfall und Anwaltskostenerstattung warten. Wie bei dem Zusammenstoß, sagt er, herrsche nun »Funkstille von allen Seiten«.