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SOWJET-UNION Tausend Mark für Gulag

Schuhe, Mäntel, Pelze, Kassettenrecorder, Autos und sogar der »Archipel Gulag« sind in der Sowjet-Union zu haben -- auf dem schwarzen Markt.
aus DER SPIEGEL 1/1977

Ein junger Russe, der soeben in Moskau von Ausländern eine Pelzmütze erworben hatte, war sie schnell wieder los.

Als er auf öffentlicher Toilette -- ohne Tür und Sitzgelegenheit, halb in der Hocke stehend -- seine Notdurft verrichtete, riß ihm ein Fremder die Mütze vom Kopf und verschwand.

Anderen Moskowitern werden Pelzmützen abends in dunklen Straßen von Jugendlichen vom Kopf stibitzt und später dann verkauft. Denn schicke Pelzmützen aus Fuchs- oder Nerzfell sind in der Sowjet-Union Mangelware und in Geschäften. in denen Sowjetbürger gegen Rubel kaufen, praktisch nicht zu haben. Sie werden aber auf dem schwarzen Markt von Farzowschtschiki (Schwarzhändlern) zu hohen Preisen feilgeboten.

Eine Mütze aus Fuchsfell. die im Geschäft 50 Rubel (160 Mark) kosten würde, wenn es sie gäbe, wird von Schwarzhändlern dann für über 400 Mark an den Mann gebracht.

Ebenso viele andere Konsumwaren. In sowjetischen Großstädten, wo Einzelwarengeschäfte und Warenhäuser Güter des höheren Bedarfs selten anbieten, ist dennoch alles zu kaufen -- auf dem schwarzen Markt. Nur in der Hafenstadt Odessa ist erlaubt, was anderswo heimlich geschieht: Jeden Samstag und Sonntag können dort clevere Händler Westartikel feilbieten, sie brauchen nur 35 Pfennig Platzmiete zu zahlen.

In Moskau zum Beispie[ wird an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten gehandelt und gefeilscht. In der Begowaja uliza, nahe der Pferderennbahn, verkaufen Händler vor allem Textilien, am Gartenring, nahe der US-Botschaft, technische Geräte.

Das große Business indes wird nicht an Straßenecken, sondern in Wohnungen gemacht. Dort allerdings können reiche Sowjetbürger nur auf Empfehlung kaufen.

Sie vereinbaren vorher über einen Freund einen Decknamen. Der Händler selbst verkauft unter einem Pseudonym. Vor der Wohnung nennt der Käufer dann seinen falschen Namen und wird reingelassen. Die Größten unter den Schwarzhändlern haben regelrechte Warenlager.

Ein kanadischer Damenpelzmantel etwa kostet in der Schwarzhändlerwohnung rund 1500 Rubel (über 5000 Mark). Für einen Kassettenrecorder von BASF (CC 9110), der in der Bundesrepublik für 200 Mark zu haben ist, werden ohne zu handeln über 1200 Mark gezahlt. Eine Stereoanlage mit Lautsprechern von Grundig bringt über 6000 Mark, ein dunkelblauer Blazer mit Metallknöpfen 700 Mark.

Bei Elite-Schwarzhändlern kann, ähnlich wie bei einem Versandhaus, Ware sogar bestellt werden: vom Kaugummi über Zigaretten und Textilien jeder Art bis hin zur Antibabypille und verbotenen Büchern. Solschenizyns »Archipel GULAG«, in Paris in Russisch erschienen, bringt mittlerweile 1000 Mark und mehr.

Die Verkaufsmethoden der Straßenhändler sind gut ausgetüftelt, Vorsicht und Diskretion oberste Grundsätze.

Vermutet der Straßenhändler einen potentiellen Käufer beispielsweise für eine Uhr. dann fragt er nach der Uhrzeit. Der Interessent kapiert sofort, beide verschwinden um ein paar Straßenecken, wo dann ein Mittelsmann die Ware bereithält.

Eine japanische Uhr (Marke: Orient) kostet über 1200 Mark. Gefeilscht wird selten, weil eine begehrte Uhr rasch einen anderen Käufer findet. Oft auch fahren die Handelspartner aus Vorsicht in einem Auto an den Stadtrand von Moskau, um dort die Ware zu übergeben.

Da Schwarzhändler von Behörden geschnappt werden können, machen einige neuerdings ihre Geschäfte 50 Kilometer außerhalb von Moskau im Städtchen Bronnizy. Dort werden Socken und Unterwäsche, Zigaretten und Radios, aber auch Schmuck und Brillanten gehandelt. Halblange Socken (Baumwolle/Synthetik) aus dem Westen bringen über 30 Mark, gefütterte Damenstiefel aus Italien 600 Mark.

Selbst Waffen, die in sowjetischen Geschäften an Privatpersonen nicht verkauft werden, sind im Schwarzhandel zu haben, obschon der Besitz streng bestraft wird.

Die Reichsten unter den Schwarzhändlern sind die Spekulanten, die mit Westvaluta handeln. Sie verkaufen einen Dollar für vier Rubel. (Offizieller Kurs: ein Dollar = 0,75 Rubel.) Werden sie von Staatsschützern geschnappt, erhalten sie auch die höchste Strafe: bis zu 15 Jahre Gefängnis.

Für den Verkauf gebrauchter Autos aus heimischer und ausländischer Produktion gibt es in Moskau einen offiziellen Automarkt im Südhafen der Moskwa. Doch auch dort wird geschoben und der Staat betrogen.

Zwar machen Verkäufer und Käufer einen Vertrag über eine staatliche Firma, aber untereinander sind sie sich unterdes über einen viel höheren Preis einig geworden. Beispiel: Ein Mittelklassewagen des Typs Wolga, der offiziell auf 8000 Rubel taxiert wurde, wird tatsächlich für 12 000 Rubel (38 000 Mark) verkauft. 4000 Rubel übergibt der Käufer privat.

Mit Ware und Geld werden die Schwarzhändler von Landsleuten, die ins Ausland fahren dürfen, und Ausländern -- besonders Afrikanern und Arabern -- versorgt.

Da Schwarzhändler oft zu dritt oder viert arbeiten, gut organisiert und informiert sind, erfahren sie schnell, in welchen Geschäften Moskaus Westwaren angeboten werden. Sie kaufen große Mengen auf und verscherbeln sie dann mit hundertprozentigem Profit weiter.

Viele Sowjetbürger, die sich westlichen Konsumluxus leisten können, zeigen ihn nicht immer protzig. Uhren tragen sie oft nur an Sonn- und Feiertagen, aber nicht während der Arbeit. Auch Geld, das sie hintenherum verdient haben, lassen sie lieber unter dem Kopfkissen liegen, als es auf Sparkassen zu bringen: Sie haben Angst, ausgefragt zu werden. Experten haben errechnet, daß Sowjetmenschen auf diese Art 40 Milliarden Rubel zu Hause horten.

Um den Schwarzhandel in Grenzen zu halten und kontrollieren zu können, gründeten die Staatsplaner in allen Großstädten der Sowjet-Union sogenannte Kommissionsgeschäfte. Dort können Russen und auch Ausländer gegen Rubel sowjetische und ausländische Produkte kaufen, die sowjetische Bürger vorher an die Geschäfte verkauft haben. Der Staat setzt Preise fest und kassiert eine Verkaufsprovision.

Kommissionsgeschäfte gibt es für fast alle Produkte. Aber sie können den Schwarzhandel nicht verdrängen. Die Warenmengen sind zu klein, die Preise, die der staatliche Laden privaten Anbietern zahlt, zu niedrig: Begehrte Waren können sie über Schwarzhändler lukrativer absetzen.

Gesuchte Westwaren sind in Kommissionsgeschäften zwar in der Regel auch 30 bis 40 Prozent billiger als bei Schwarzhändlern, aber eben nur selten zu haben.

Schwarzhändler wiederum sind meistens die ersten Kunden im Kommissionsgeschäft. Sie kaufen interessante Artikel auf und veräußern sie dann mit einem fetten Gewinn weiter.

Ein Kenner der Schwarzmarktszene: »Diese Leute verdienen an einem Artikel oft mehr als ein normaler Sowjetbürger im ganzen Monat.«

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