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BONN / GROSSE KOALITION Tausend Tage

aus DER SPIEGEL 13/1967

Drei Tage lang hatte die »Sofort«-Vorlage einen Vorzugsplatz auf dem imitierten Louis-XVI-Schreibtisch des Bundeskanzlers im Palais Schaumburg.

Immer wieder nahm Kurt Georg Kiesinger das Papier zur Hand und studierte Zahlenreihen, während zierliche Zimmerpendulen dem Bonn-Rückkehrer mit silberhellem Klang die Stunden seiner ersten Erfolge schlugen.

Das Allensbacher Institut der Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann hatte im Kanzler-Auftrag ermittelt, wie es um das Ansehen des jungen schwarzroten Regiments beim Wählervolk bestellt sei. Und das Ergebnis übertraf die kühnsten Erwartungen des Auftraggebers:

> Kiesinger war vor seiner Kanzlerschaft nur 55 Prozent der Bundesbürger bekannt; heute wissen 96 Prozent, wer er ist;

* Sitzung des Bundeskabinetts im Kanzleramt.

> Kiesinger gilt bei den Wählern beute auch als der fähigste deutsche Politiker; er ist, mit 32 Prozent, Tabellenführer;

> Kiesingers Sympathie-Kurve ist in den letzten drei Monaten von 28 auf 60 Prozent gestiegen.

Doch eher bestürzt als bescheiden kommentierte Deutschlands neuer Darling: »Die Kurve steigt mir fast zu steil.«

Denn: Die Noelle-Umfrager hatten nicht nur Kiesingers persönliche Popularität erforscht, sondern waren auch der Frage nachgegangen, wie den endlich doch vereinten Parteien CDU/CSU und SPD die Große Koalition in der Volksmeinung bekommen sei. Der Ausgang dieser Befragung aber mußte den Kanzler erschrecken:

> Die CDU/CSU, Kiesingers eigene Partei, hat zwar den Abwärtstrend aus Erhards letzten Tagen aufgefangen, stagniert aber jetzt bei einem Wähleranhang von 41 Prozent (Bundestagswahl 1965: 47,6 Prozent);

> Die SPD hingegen, nach 17 Jahren Opposition erstmals Bonner Regierungspartei, ist in der Wählergunst seit Ende letzten Jahres von 45 auf 48 Prozent gestiegen und hat damit ihren bisher höchsten Stand erreicht (Bundestagswahl 1965: 39,3 Prozent). Noch nie zuvor seit Bestehen der Bundesrepublik sind in den Diagrammen der Demoskopen die Sympathiekurven von Kanzler und Kanzlerpartei so weit auseinandergelaufen.

Zum erstenmal schreibt die Wählerschaft ihre Zuneigung zu einem Kanzler nicht mehr allein seiner Partei gut, sondern teilt ihre Sympathie zwischen einem CDU-Kanzler und der von Niesingers Vorgängern stets verteufelten SPD Wehners, der die Genossen, gegen mancherart heftigen Widerstand, in den neuen Bund geführt hat.

Wochenende für Wochenende kann das deutsche Fernsehvolk nun den Gesamtdeutschen Minister Wehner im schwarzen Dienstanzug, die Spange des Bundesverdienstkreuzes am Revers, als Träger der Staatsmacht vor Parteien, Kirchen und Verbänden paradieren sehen. Bei einer Bischofsweihe im Kölner Dom erscheint er als Gast von Kardinal Frings im Stresemann, beim Schaffermahl der Bremer Kaufleute und Kapitäne sogar im vordem stets verpönten Frack.

Die Deutschen nämlich, denen der Parteien Zank und Zwist noch nie behagt hat, sehen es gern, wenn in Bonn fortan alle einig, einig, einig sein wollen.

Nach 100 Tagen Regierung Kiesinger wurde an der Volksmeinung offenbar, daß die Ablösung Ludwig Erhards durch Kurt Georg Kiesinger von den Bundesbürgern nicht als schlichter Kabinettswechsel verstanden worden ist, sondern als Aufbruch in eine neue politische Ära.

Kiesingers schwarz-rote Mannschaft weiß, daß sie sich vor dem Volk bewähren muß. Sie weiß, daß jeder, der den jungen Frieden stört, unweigerlich den Volkszorn auf sich zieht. Sie ist in den Bonner Krisenwochen Ende 1966 als letztes Aufgebot in die Schlacht zur Rettung des Vaterlandes gezogen.

Das bürgerliche Regime von Christen-Union und FDP-Liberalen hatte abgewirtschaftet. Die Staatsfinanzen waren ruiniert, die einst florierende Wirtschaftskonjunktur zeigte Krisen-Signale. Verbitterte Ruhrkumpel hißten schwarze Fahnen, unzufriedene Beamte schimpften auf den Staat, auf muckende Generale baten um ihren Abschied.

Mit langsamerwachsendem Wohlstand und lecken Kassen ging auch Bonns außenpolitischer Kredit dahin. Nie zuvor war so deutlich geworden wie in dem düsteren Winter 1966/ 67, daß die Bundesrepublik ihren Platz an der Sonne der Völkergemeinschaft weder politischer noch militärischer Kraft verdankt, sondern allein ihrem Geld.

Kanzler Kiesinger, schuldloser Erbe des verschuldeten Erhard-Nachlasses, erkannte schnell: »Wir sind in einen ganz langen Tunnel gefahren, in dem wir so bald kein Licht sehen werden.«

Inmitten dieser Finsternis aber wurde die schwarz-rote Rettungsmannschaft der Gnade der Stunde Null teilhaftig: Sie entdeckte -- und nutzte -- die Chance, die seit je darin gelegen hat, in einer verfahrenen Situation mit neuen Leuten vermeintlich ganz von vorne anzufangen. Was immer sie auch anpackte, sie konnte es eigentlich nur besser machen.

In dieser Erkenntnis begann das Abfuhr-Unternehmen Kiesinger, den gröbsten Erhard-Schutt wegzuräumen. Und der Beifall der Menge begleitete jede einzelne Fuhre.

Am 49. und 50. Tag der Großen Koalition ertrotzte der vom Radikalismus des reinen Tisches erfaßte Franz-Josef Strauß, woran sein Vorgänger im Finanzministerium, der FDP-Mann Dahlgrün, letzten Sommer gescheitert war: In zwei Dauersitzungen stopfte Kiesingers Kabinett das 3,68-Milliarden-Loch im Jahresetat 1967 und erzielte damit den Haushaltsausgleich.

Strauß zwang alle Ressorts zu Millionenopfern. Selbst Arbeitsminister Katzer und Familienminister Heck, an deren Rücktrittsdrohung im vorigen Sommer alle Sparversuche Ludwig Erhards gescheitert waren, beugten sich nun. Katzer mußte Einbußen im Sozialetat hinnehmen, Heck sogar auf sein Paradestück, das Pennälergehalt, ganz verzichten. Kiesinger hatte keinen Zweifel gelassen: »Rücktrittsgesuche werden angenommen.«

Nachdem die Regierung so ihr Hauptbuch in Ordnung gebracht hatte, machte sie sich daran, das fehlende Geld zu pumpen. Schon vier Wochen nach der Haushaltssanierung beschloß das Kabinett Kiesinger auf Betreiben des sozialdemokratischen Wirtschaftsministers Schiller, zweieinhalb Milliarden Mark Kredit für einen Investitionshaushalt zur Ankurbelung der stagnierenden Wirtschaft und zur Arbeitsbeschaffung aufzunehmen. Zugleich überredete der neue Professor in Ludwig Erhards Amt die Frankfurter Bundesbank, mit zwei Senkungen des Diskontsatzes um zusammen ein Prozent den Bankenkredit zu verbilligen und die Unternehmer zu neuer Aktivität zu ermuntern.

Zudem brachte Schiller Gewerkschaften und Unternehmer an einen Tisch und bewog sie -- was seinen Vorgängern Erhard und Schmücker nie hatte gelingen wollen -, beim gemeinschaftlichen Drehen an der Lohn- und Preis-Schraube zurückhaltender zu sein.

Schiller über Schiller: »Ich brauche keine Public-Relations-Kampagne, ich bin meine eigene Werbeagentur.«

Diese im Stil der neuen Zeit erfochtenen innenpolitischen Starterfolge der jungen Regierung komplettierte Gerhard Schröders Nachfolger im Bonner Außenamt, der SPD-Vizekanzler Willy Brandt, mit drei längst fälligen Entscheidungen, die Erhard und Schröder zwar vorbereitet, aber aus Furcht vor Partei-Revolten nicht zu treffen gewagt hatten. Brandt

> beendete den Streit um den Status der französischen Truppen in Deutschland: die Franzosen bleiben, obwohl sie aus der Nato ausgeschieden sind, mit unverminderten Rechten in der Bundesrepublik;

> knüpfte Bonns ersten diplomatischen Kontakt zu Sowjet-Verbündeten im Ostblock und lockerte damit die Hallstein-Doktrin: Bonn und Bukarest kamen überein, Botschafter auszutauschen;

> entspannte das seit der diplomatischen Anerkennung Israels festgefahrene Verhältnis Bonns zur arabischen Welt: Als erster Araber-Staat nahm Jordanien die abgebrochenen diplomatischen Beziehungen wieder auf.

Kanzler Kiesinger gab dem Aufwind, den sein Außenminister machte, geschwind den neuen Dreh: Nach drei Jahren Hader zwischen seinem Vorgänger und dem gallischen General fuhr der Schwabe zum Versöhnungs-Rendezvous mit Charles de Gaulle an die Seine und gelobte Besserung.

Daheim freute sich Schiller: »Klappt das nicht wunderbar? Alles Schlag auf Schlag. Das Timing ist doch fabelhaft.«

Den beiden Gründern der Großen Koalition -- CDU-Kanzler Kiesinger und SPD-Vize Wehner -- konnte es indessen gar nicht schnell genug vorangehen.

Kiesinger mußte darauf bedacht sein, sich vom Start weg als führungskräftiger Regierungschef zu erweisen, der seinen Ministern die Gangart vorschreibt, anstatt sich, wie sein Vorgänger, von ihnen bremsen zu lassen. Schon gleich nach Neujahr trieb er deshalb Schiller und Strauß mit Mahnbriefen zu noch größerer Eile an: Wo denn das neugefaßte Gesetz zur Stabilisierung und Ankurbelung der Wirtschaft beziehungsweise das Konzept für eine Vorausplanung der Bundesfinanzen auf die nächsten Jahre bleibe?

Wehner brauchte schnelle Erfolge, um die grollenden Genossen ruhig zu stellen, die sich auch jetzt noch nicht damit abfinden mochten, auf Gedeih und Verderb mit den zwei Jahrzehnte lang erbittert befehdeten Christdemokraten verbunden zu sein. In eigens anberaumten SPD-Minister-Konferenzen drückte Wehner auf das Tempo. Denn:« Wer weiß, wie lange das gut geht.«

Schneller noch als der gemeinsame Erfolg stellte sich freilich die Erkenntnis ein, daß die Große Koalition einen entscheidenden Unterschied zwischen den verbündeten Parteien nicht verwischen konnte: Die SPD blieb geschlossen, die CDU zersplittert. Die Sozialdemokraten gingen am Zügel, die Christdemokraten scheuten.

Der schwarz-rote Honigmond ging zu Ende. Graue Alltagsgesichter blickten sich an. Die Wogen des euphorischen Neubeginns verebbten. Die alten Konturen wurden wieder sichtbar.

Unverändert zeigte sich vor allem die krisenträchtige Christen-Union. Die Gegensätze innerhalb der Volksgemeinschaftspartei -- zwischen Atlantikern und Gaullisten, Entspannern und Kalten Kriegern, Liberalen und Konservativen, Deutschnationalen und Christsozielen -- fanden neue Nahrung.

Bauernflügel, Linkschristen und Industrielobby fingen an, der Großen Koalition und ihrem Kanzler Kiesinger den gleichen Ärger zu bereiten wie früher Ludwig Erhard und seinem Bürgerblock:

> Die Grüne Front der CDU eroberte mit Radikalisierungsdrohungen 200 von 289 gestrichenen Subventionsmillionen zurück.

> Die CDU-Sozialpolitiker forderten doppelt soviel Arbeitslosengeld-Erhöhung wie die SPD im Kabinett; dann holten sie erste Pläne zur Ausweitung der gewerkschaftlichen Mitbestimmung in der Wirtschaft hervor und setzten sie im Verein mit der SPD gegen Kabinett und rechten CDU-Flügel im Bundestag durch.

> Der CDU-Wirtschaftsflügel brachte, zusammen mit den alten Freunden von der FDP, Schillers Programm zur Krisenbekämpfung in Gefahr.

Das dirigistische Instrumentarium, das der planungsfreudige SPD-Professor dem Stabilitätsgesetz Erhards angefügt hatte (zum Beispiel eine Ermächtigung, die Einkommensteuer je nach Konjunkturlage zu heben oder zu senken), wurde in den Ausschußberatungen des Bundestages wieder abgeschwächt.

Nur durch Eingreifen der Fraktionsspitzen (Barzel·. »Wenn es Ärger gibt, heben Helmut Schmidt und ich die Sache auf höhere Ebene und kalmieren sie") konnte die drohende Panne vereitelt werden: CDU/CSU und SPD wollen das seit vorigem Herbst überfällige Gesetz nun gleich nach Ostern gemeinsam beschließen.

Aber die harten Außenpolitiker der Union waren nicht zu besänftigen. Adenauer, Strauß und Krone schossen gegen Entspannung nach Osten, Entkrampfung gen Pankow und gegen den Atom-Sperrvertrag.

Adenauer gab fleißig Interviews ("Morgenthau-Plan im Quadrat"), CSU-Chef Strauß ("Versailles von kosmischen Ausmaßen") schickte seinem Duzbruder Kiesinger einen ersten dräuenden Beschwerdebrief; der »Bayernkurier« ging offen mit der Regierungspolitik ins Gericht. Es war wie in alten Zeiten.

Kanzler Kiesinger erkannte, daß er so auf die Dauer nicht mit sich umspringen lassen durfte. Er begriff, daß die Funktionsfähigkeit der Großen Koalition ernstlich in Gefahr geriete, wenn es ihm nicht gelänge, der Zwietracht in der CDU/CSU ein Ende zu machen. Und er beschloß, dies zu versuchen.

Entgegen seiner ursprünglichen Absicht, aber aufgestachelt von dem auf reibungsloses Funktionieren der Koalition bedachten Herbert Wehner, fand Kiesinger sich bereit, neben dem Kanzleramt den CDU-Parteivorsitz zu übernehmen. Von diesem Platz aus will er, wie weiland Adenauer, die Union an die Kanzlerleine legen und zugleich verhindern, daß an der Parteispitze ein Profil-Neurotiker vom Typ Dufhues der SPD vorhält, wie anders sie doch sei. Kiesinger zum SPIEGEL: »Dem geschlossenen Block der SPD einen ebenso geschlossenen Block der CDU/CSU gegenüberzusteilen, das ist die Aufgabe. Und das trau« ich mir zu.«

An Selbstvertrauen freilich hat es dem Kanzler Kiesinger ohnehin nicht gemangelt. Eine geschlossen formierte CDU/CSU aber braucht er dringend. Denn anders kann es ihm nicht gelingen, alles das, was er in den ersten hundert Tagen mit Fortune und gutem Wetter begonnen hat, auch mit Erfolg zu Ende zu führen.

Die Schonfrist ist um. Jetzt muß die Regierung Kiesinger über die Meßstrecke. Die wahre Bewährungsprobe der Großen Koalition war nicht in den abgelaufenen ersten hundert Tagen abzulegen. Sie muß bestanden werden in den tausend Tagen Regierungszeit, die dem Kabinett Kiesinger bis zur Bundestagswahl im September 1969 zugeteilt sind.

Die Große Koalition wird daran gemessen werden, ob es ihr gelingt,

> die Staatshaushaltspläne auch in den nächsten Jahren auszugleichen -- obwohl das Problem der Drosselung steigender Staatsausgaben nur vertagt ist;

> die Wirtschaft mit geborgtem Geld wieder so anzukurbeln, daß sie genug Steuern zur Schuldenbezahlung abwirft -- obwohl nicht erwiesen ist, daß die gepumpten Beträge dazu ausreichen werden;

> das seit Erhards letztem Washington-Besuch vorigen Herbst gestörte, mit Kiesingers Einigung über die Bonner Devisenhilfe für die amerikanischen Truppen in Deutschland vorige Woche halbwegs reparierte Verhältnis zur Schutzmacht USA wieder ganz in Ordnung zu bringen -- obwohl durch den Streit über den Atom-Sperrvertrag neue Belastungen entstanden sind;

> die Aussöhnung der Bundesrepublik mit den kommunistischen Ostblock-Staaten weiterzutreiben -- obwohl die neue Bonner Ostpolitik nach erfolgversprechendem Start auf erhebliche Widerstände gestoßen ist.

Dabei war Kiesinger aus Stuttgart nach Bonn mit dem Vorhaben zurückgekehrt, sobald wie möglich den Dialog mit Moskau zu eröffnen. Er beendete den Boykott gegen Sowjetbotschafter Zarapkin, den Erhard nie empfangen hatte, und erbot sich, »an jedem Ort zu jeder Zeit« mit Sowjetpremier Kossygin zusammenzutreffen.

Als der neue Gesamtdeutsche Minister Wehner per Zeitungsinterview sogar die offizielle Anerkennung einer »titoistisch liberalisierten« DDR durch Bonn nicht mehr ausschloß, deckte der Kanzler seinen Koalitionsgenossen: »Das liegt völlig auf der Linie der Regierungserklärung.«

Aber die Reise der Rumänen an den Rhein blieb bisher ein Alleingang. Prag, Warschau und Pankow bildeten ein eisernes Dreieck zur Abwehr der Bonner Annäherung. Ulbricht ging auf extremen Spalterkurs.

Den an Osteuropas Türen pochenden Bonnern wurden auf Ulbrichts Betreiben maximale Eintrittspreise abverlangt -- Anerkennung der Oder-Neiße-Linie und der DDR, Verzicht der Bundesrepublik auf jede atomare Teilhabe und auf alle Ansprüche aus dem Münchner Sudeten-Abkommen von 1938.

So weit aber wollte auch die Große Koalition nicht gehen. Weder die geballte Kraft der starken Männer aus den beiden großen Parteien noch die Super-Mehrheit der Koalition im Parlament hatte den neuen Herren die Furcht vertrieben, als Verzichtpolitiker zu gelten.

Der Kanzler über das Oder-Neiße-Problem zum SPIEGEL: »Ich mache mir keine Illusionen. Aber es wäre ein verhängnisvoller Fehler, heute Verzichte auszusprechen, wenn uns das nicht weiterbringt.«

Eher als erwartet bestätigt sich so, daß die Große Koalition im vergangenen Herbst nicht deshalb zustande gekommen ist, weil nur sie in der Lage wäre, die Lasten des verlorenen Krieges abzutragen und dem Volk die Wahrheit zu sagen, sondern weil das Bonner Bürgerblock-Regime am Ende war: Kiesinger hatte gar keine andere Wahl, als die SPD mitregieren zu lassen; Wehner hatte gar keinen anderen Wunsch, als mit der CDU zu regieren.

Dennoch müssen die vereinigten Regierungspartner sich danach beurteilen lassen, ob es ihnen gelingt, nicht nur den außenpolitischen Tabus, sondern auch dem innenpolitischen Provisorium der Bundesrepublik Ade zu sagen.

Denn obgleich es die Angst vor der Staatskrise war und nicht der Drang nach der Staatsreform, was Christdemokraten und Sozialdemokraten vergangenen November zusammengebracht hat, ist der Umbau der provisorischen Bonner Grundgesetz-Ordnung von 1949 immer wieder als die wichtigste Aufgabe einer Allianz der großen Parteien propagiert worden -- vor allem von den großen Parteien selbst.

Kein Geringerer als der Sozi-Schreck Konrad Adenauer gestand bereits im August 1965: »Für diese Reformwerke -- Notstandsverfassung, Finanzreform -- ist die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit und damit die Mitwirkung der SPD nötig. Diese wird nur zu erreichen sein, wenn man sie an der Regierung beteiligt.«

Und in der Regierungserklärung der Großen Koalition verhieß Kurt Georg Kiesinger, bis zur nächsten Bundestagswahl solle ein neues Wahlrecht grundgesetzlich verankert werden, das in künftigen Wahlen (nach 1969) »klare Mehrheiten« ermögliche. Außerdem versprach der Kanzler in wohlgesetzten Worten eine »Reform der Finanzverfassung, weiche diese Regierung ... verwirklichen will«. Oh ein solches Programm bis 1969 zu schaffen sein wird ist indessen völlig ungewiß.

Zwar konnten Kiesinger und seine Minister just an ihrem hundertsten Regierungstag im Eilverfahren die jahrelang liegengebliebene Notstandsverfassung fertigstellen und dem Parlament überreichen.

In den anderen Fällen aber, in denen die politische Praxis und die wirtschaftlichen Interessen eine größere Rolle spielen, wird es so glatt nicht gehen:

> In Arbeit sind die Grundgesetzergänzungen, die für das Gesetz zur Stabilisierung der Wirtschaft nötig sind.

> Völlig offen ist, ob die Finanzreform« an der außer dem Bund die elf Bundesländer samt ihren Parlamenten mitzuwirken haben, binnen zwei Jahren vollendet werden kann

* Die Finanzreform soll Zufälligkeiten und Mißstände der föderalistischen Staatsstruktur beheben, die Staatsausgaben nach den heutigen Staatsaufgaben zwischen Bund, Ländern und Gemeinden neu verteilen und die Basis für eine mittelfristige Finanzplanung (Fünfjahresvorausschau statt Einjahreshaushalt) der öffentlichen Hände schaffen. Aussichtslos erscheint schon heute das Vorhaben, ein Mehrheitswahlrecht in die Verfassung einzufügen, das die Große Koalition wieder auseinanderzwingen und die Bonner Demokratie zum Zweiparteien-System machen soll (SPIEGEL 11/1967). Schon heute steht fest, daß aus Furcht vor Mandatsverlusten in den Reihen des Bonner Machtkartells eine Zweidrittelmehrheit für die Wahlrechtsreform nicht zu rekrutieren ist. Der selbstgesetzte Prüfstein der Großen Koalition ist zu ihrem sperrigsten Stolperstein geworden. An der Wahlrechtsreform wird sie sich schwerlich bewähren können.

Kanzler Kiesinger, dem dies nicht verborgen geblieben ist, machte sich denn auch schon wenige Wochen nach seiner Regierungserklärung vorsorglich daran, einen neuen, niedrigeren Maßstab für die Bewährung seiner Großen Koalition zu setzen.

Der CDU des Rheinlandes, die ihrem zukünftigen Parteichef lange mit Reserve gegenüberstand, verkündete Kiesinger Mitte Februar in Oberhausen: »Wenn es uns gelingt, Wachstum unserer Wirtschaft, Stabilität unserer Währung, Sicherheit des Arbeitsplatzes zu erreichen, dann allein schon könnten wir sagen, hat sich die Gründung dieser Großen Koalition gelohnt.«

Das Angebot eines neuen verkürzten Maßstabes zur Beurteilung der schwarzroten Regierung hielt der Kanzler schon deshalb für ratsam, weil sich immer deutlicher abzuzeichnen begann, daß die Koalition ihre erste praktische Bewährungsprobe bereits in den nächsten hundert Tagen zu bestehen haben würde: nämlich bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz am 23. April, in Niedersachsen am 4. Juni.

Zwar gelobten sich Kiesingers Kabinettsherren in streng geheimer Ministersitzung schon Anfang Februar, bei unvermeidlichen Wahlauftrittes nicht mit dem Messer aufeinander loszugehen. Von ihrer parteibedingten Verpflichtung aber, sich gegenseitig beim Wähler auszustechen, konnten sie einander nicht befreien.

Solchermaßen zum Erfolg nicht allein der Großen Koalition, sondern auch seiner eigenen christdemokratischen Partei verurteilt, betrachtete Kurt Georg Kiesinger die Ergebnisse der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am vorletzten Sonntag wie ein -- ihm wohlgesonnenes -- Orakel: Die SPD verlor fünf Prozent Stimmen, die CDU gewann vier Prozent.

Wenn auch die Berliner Ausnahmesituation die Wertung dieser Wahl als Test für die Bundespolitik verbot, so sah Kiesinger doch zumindest seine Hoffnung bestätigt, daß sich mit Hilfe der Parole von Oberhausen die Differenz zwischen der Popularität des Kanzlers und der Kanzlerpartei wieder beseitigen lassen werde.

Gern glaubt der neue Kanzler nun an den ungebrochenen Erfolg eines Rezeptes, das so alt ist wie Adenauer: »Das Wichtigste ist doch, daß an der Ruhr wieder Ruhe herrscht, daß die Bauern zufrieden sind und daß es so wenig Arbeitslose wie möglich gibt. Da müssen »ir zu Lösungen kommen.«

Kiesinger zum SPIEGEL: »Wenn das erreicht ist, dann haben die Leute doch nur einen Wunsch -- daß es so bleibt.«

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