»Tavor entzieht der Angst den Boden«
Ein Mann in Not. Ruhelos unterwegs, getrieben von Terminen. Süchtig nach immer neuen Erfolgen, geplagt von der Angst zu versagen. Streß im Büro, zu Hause und unterwegs. Keine wahren Freunde, kein warmherziger Schatz. Überall »steht die Angst auf der Tagesordnung«. »Die Angst sitzt mit am Tisch.« »Wenn die Angst einengt.«
Dem Manne kann geholfen werden. Er ist ein Fall für »Tavor«, die kleine Glückspille aus dem großen Pharma-Hause Wyeth. _____« Angesichts persönlicher Krisensituationen können sich » _____« individuelle Angstsymptome verselbständigen und so lange » _____« verstärken, bis alles schier unlösbar scheint. Ein » _____« Patient, der einmal in einen solchen Angstkreis » _____« hineingeraten ist, vermag sich aus eigener Kraft nur » _____« schwer zu befreien. Dabei ist es im Grund nicht viel, was » _____« er braucht: Angstfreie Gelassenheit bei Tag und » _____« psychovegetative Entspannung bei Nacht. Damit er seine » _____« Probleme lösen kann, statt sie zu verdrängen. Tavor » _____« entzieht der Angst den Boden. »
Seit 15 Jahren bringt der amerikanische Pharma-Riese Wyeth mit solchen Szenarien den deutschen Doktoren seinen Seelentröster Tavor nahe. Gut 40 Millionen Mark pro Jahr beträgt der bundesdeutsche Tavor-Umsatz. Im Handel ist die rezeptpflichtige Arznei, ein »Tranquilizer«, seit 1972. _(Tranquilizer: von lateinisch tranquillus ) _(= ruhig. )
Eine »Happy pill«, die Ängstliche gelassen, Nervöse mutig und Schlaflose nachts träumerisch machen soll - die Wirkung von Tavor, heißt es in der kleingedruckten Gebrauchsinformation, sei gekennzeichnet »durch eine fein abstufbare Abschirmung psychischer Streßeinflüsse und die Abschwächung emotionaler Streßreaktionen; dabei ist der angstlösende Effekt besonders ausgeprägt«.
Eine Wunderdroge also, die alle Tröstungen des Alkohols und des Christentums vereint, ganz ohne Kater und Kopfschmerzen? So gut wie »Soma«, die visionäre Arznei des britischen Schriftstellers Aldous Huxley, der damit 1932 seine »Schöne neue Welt« ausstaffierte, um, wenn''s not tut, einen frohen »Urlaub von der Wirklichkeit« nehmen zu können?
Schön wär''s ja. »Was Sucht und Mißbrauch angeht, ist Tavor das schlimmste Benzodiazepin-Präparat«, urteilt der Berliner Pharma-Kritiker Dr. Ulrich Moebius, Herausgeber des unabhängigen »Arznei-telegramm«. Andere Sachkenner stimmen Moebius zu.
Der chemische Grundstoff des Arzneimittels, das Benzodiazepin, ist 1958 von dem Chemiker Leo Sternbach für den Schweizer Pharma-Konzern Hoffmann La Roche entdeckt worden. Die beiden ersten Präparate hießen »Librium« (Werbeslogan: »Sonnenbrille für die Psyche") und »Valium«. Seither ist die Substanz weltweit hundertfach variiert worden und derzeit unter mindestens 40 Markennamen in der Bundesrepublik im Handel. Die bekanntesten sind »Lexotanil« ("Rechtzeitig psychische Spannungen beheben"), »Adumbran« ("Der Schlüssel zur seelischen Rast") und »Tranxilium« ("Schafft die Ausgeglichenheit der Psyche").
Die Substanzen entfalten ihre Wirkungen mit Bruchteilen eines Milligramms. Sie lagern sich an bestimmte Schaltstellen der Nervenzellen an und dämpfen auf diese Weise die Erregbarkeit vor allem des unbewußten ("vegetativen") Nervensystems. Die von den Herstellern versprochenen Wirkungen - »entspannend, vegetativ stabilisierend, beruhigend, schlaffördernd, muskellockernd« - treten allesamt wirklich ein (was bei den Heilsversprechen der Pharma-Industrie sonst nicht die Regel ist).
Tavor gilt darüber hinaus als besonders »angstlösend«. Diese Wirkung soll bereits durch 0,5 Milligramm der Wirksubstanz Lorazepam hervorgerufen werden. Offiziell gilt nur die krankhafte ("pathologische") Angst - wie sie beispielsweise bei Schizophrenie auftreten kann - als Verordnungsgrund, jedenfalls unter Wissenschaftlern. Viele niedergelassene Ärzte, auch Barschels Doktoren, verordnen das Präparat jedoch gegen alle möglichen Befindlichkeitsstörungen, auf Wunsch immer wieder und ohne jede Voruntersuchung.
Dabei gehören die Benzodiazepin-Präparate zu den wenigen »Jahrhundert-Medikamenten«, so wie Aspirin oder Penicillin. Im Kreißsaal und auf dem Sterbebett, vor der Operation und nach _(Mit Kohl und Stoltenberg nach der ) _(Wahlniederlage am 14. September im ) _(Bonner Konrad-Adenauer-Haus. )
dem Herzinfarkt sind sie unentbehrlich und segensreich.
In Verruf sind die Benzodiazepine durch ihren weit verbreiteten Mißbrauch geraten: Grüne Witwen schlucken sie als »bürgerliches Pendant zum Haschisch« (so der Psychiater Uwe Peters), im Krankenhaus und im Knast werden sie hochdosiert und dauerhaft zur Erzeugung der »LmA«-Stimmung verabfolgt. Pennäler bekämpfen damit ihre Prüfungsangst, und Uwe Barschel rückte damit, wie seine Witwe sagt, seiner »Flugangst« und der Reisekrankheit zu Leibe, »im Auto, wenn ihm sterbenselend war«.
Dafür ist Tavor nicht gedacht. Doch wer den kleinen Freund in Stunden der Angst erst mal liebgewonnen hat, mag ihn später selten missen. Innerhalb weniger Monate kann sich dadurch zuerst eine psychische, später auch körperliche Abhängigkeit herausbilden. Die erwünschten Effekte sind nur noch durch eine Dosissteigerung zu erreichen.
In den Monaten vor dem Flugzeugabsturz am 31. Mai hat Barschel nach den Berechnungen der Lübecker Gutachter es pro Tag auf 4,5 Milligramm Tavor gebracht, durchschnittlich also zwei Tabletten a 2,5 Milligramm Wirkstoff. Bei dieser Dosis, die von den Herstellern nur für Zeiten klinischer Behandlung empfohlen wird, können die intellektuellen und emotionalen Leistungen deutlich gestört sein - sie müssen es aber nicht. Barschel blieb trotz Tavor smart, schnell und tricky - Eigenschaften, die bei Benzodiazepin-Mißbrauch gewöhnlich gedämpft werden.
Erst als es mit ihm zu Ende ging, hat Barschel die Dosis nochmals verdoppelt. Er schluckte, auf Kosten seiner Barmer Ersatzkasse, nun durchschnittlich 10 Milligramm Tavor pro Tag. Beim letzten Bonn-Besuch, am Tag nach der Schleswig-Holstein-Wahl, stand der Verlierer, erkennbar schon in seine Lügen verstrickt, mit leerem Gesicht antriebsschwach vor dem Portal des Konrad-Adenauer-Hauses - über Ort, Zeit und Situation lange Sekunden offensichtlich im unklaren. Millionen Fernsehzuschauer erlebten die Tavor-Wirkung als Bild vom »Häufchen Elend«.
Als er, elf Tage später, wieder live vor TV-Kameras seinen Rücktritt bekanntgeben mußte, wurde die Wirkung hochdosierter Seelentröster auch noch hörbar: Barschel litt an Wortfindungsstörungen und Silbenschleifen - zwei charakteristische Zeichen der Psychopharmaka-Überdosierung.
Uwe Barschel, der vor dem Tod noch Sartre las, hätte bei Aldous Huxley mehr Trost gefunden: »In einer Welt«, so prophezeite der Kulturphilosoph, »in der niemand etwas für nichts erhält, geben die Beruhigungsmittel für sehr wenig sehr viel.«
Tranquilizer: von lateinisch tranquillus = ruhig.Mit Kohl und Stoltenberg nach der Wahlniederlage am 14. September imBonner Konrad-Adenauer-Haus.