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»Teilweise heißt nicht ganz«

Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher mußten auf dem Nato-Gipfel in Brüssel viele Kompromißformeln schlucken, die neuen Streit im Bündnis herausfordern. Dennoch: Die Aufrüstung mit neuen Kurzstreckenraketen wurde erst einmal vertagt, Verhandlungen mit Moskau sollen - wenn auch mit Bedingungen - stattfinden.
aus DER SPIEGEL 23/1989

Als der Gast aus Amerika die Republik wieder verlassen hatte, war Helmut Kohl noch immer voller Dankbarkeit. »Nie waren die deutsch-amerikanischen Beziehungen besser als heute«, zitierte der Kanzler im Bundestag den prominentesten Wahlkampfhelfer der CDU, den amerikanischen Präsidenten George Bush.

In Mainz, laut Kohl »geistig mitten im Europa beheimatet«, hatte der »bewährte Freund« aus den USA am vergangenen Mittwoch genau den schwülstigen Ton seines Gastgebers getroffen: »An den Ufern des Rheins und im Herzen der Weinberge und Dörfer« sei »die deutsche Seele zu Hause«.

Und als habe es Streit um neue Atomraketen und Zweifel an der Bündnis-Disziplin der Deutschen nie gegeben, erhob George Bush die Bundesrepublik zum »Partner in einer Führungsrolle« der westlichen Allianz.

Mit seinen Schmeicheleien dankte der amerikanische Präsident der Bonner Regierung, daß sie vergangene Woche im Raketenstreit eingeknickt war und ihn beim Nato-Gipfel in Brüssel seinen ersten außenpolitischen Erfolg voll auskosten ließ. Und Kohl genoß das Lob. Eine Woche vor dem Besuch des sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow ist die Kluft zwischen der Bundesrepublik und der westlichen Vormacht, fürs erste, überbrückt.

Schon in Brüssel - der Raketenpoker war noch nicht ausgestanden - hatte Kohl am vergangenen Montag versucht, sich mit überschwenglichen Lobpreisungen an die Amerikaner heranzurobben: Die »großartige Initiative« des amerikanischen Präsidenten zur Verminderung der konventionellen Streitkräfte, mit der Bush seine europäischen Verbündeten ohne vorherige Konsultationen überrascht hatte, sei ein »weitsichtiger Schritt«, der die »Führerschaft der USA erneut eindrucksvoll bekräftigt« habe. So dick mochte kein anderer Nato-Regierungschef auftragen.

Doch Helmut Kohl, endlich wieder in innerem Frieden mit der großen Schutzmacht, tat mehr. Die »feste Verankerung« in der Nato, gelobte der CDU-Kanzler, sei »unwiderruflich« und »Teil unserer Staatsräson«.

Der Bundeskanzler hatte sich in den vergangenen Monaten nur widerwillig auf den Konfliktkurs mit den Amerikanern eingelassen; er hoffte, sich und die Unionsparteien kurz vor den Europawahlen aus dem Popularitätstief herauszuführen, und war daher weniger aus Überzeugung als aus innenpolitischer Schwäche dem FDP-Außenminister Hans-Dietrich Genscher gefolgt.

Jetzt aber, nach dem Kompromiß des Nato-Gipfels über die atomaren Kurzstreckenraketen, steht Kohl besser da als sein Außenminister. Der Kanzler und die Unions-Parteien können ihre ursprünglichen Positionen im Nato-Gesamtkonzept »für Rüstungskontrolle und Abrüstung« viel leichter wiedererkennen als der Vizekanzler und seine Freidemokraten.

»Wir haben mit den Nato-Beschlüssen weniger Probleme als Genscher«, ermittelte CDU/CSU-Fraktionsvize Volker Rühe. »Eine dritte Null-Lösung«, triumphierte der Wehrexperte der CDU/ CSU, Ortwin Lowack, »ist damit vom Tisch.«

Der Außenminister kann sich nur schwer zur Wehr setzen. Denn in Brüssel hatte Kohl seinen Vize geschickt eingebunden und ihn fürs erste des Themas beraubt, mit dem sich die FDP gegen die Union profilieren wollte.

Als der Jubiläumsgipfel der Westallianz zu scheitern drohte, weil die Experten keinen Ausweg aus dem Raketenstreit fanden, widersprach der Bonner Regierungschef einer Forderung Margaret Thatchers: Nicht die Staats- und Regierungschefs, wie die britische Premierministerin verlangte, sollten einen Kompromiß aushandeln, sondern, so Kohl, die Außenminister.

Während der Regierungschef und seine Kollegen im Schloß Val Duchesse tafelten, rangen die 16 Außenminister mit ihren Spitzenbeamten in einem kahlen Konferenzraum bei Brötchen und Wasser um die von Genscher angestrebten »klaren Formulierungen«. Am Ende waren die Formeln weder klar, noch entsprachen sie Genschers Wunschvorstellungen; heraus kam ein Kompromiß, den jeder Nato-Partner auslegen kann, wie er will.

Jene 15 der 65 Paragraphen des »Gesamtkonzepts«, die atomare Kurzstreckenwaffen in Europa betreffen, bleiben erheblich hinter den Forderungen des im April ausgehandelten Koalitionskompromisses zurück - von den hochgesteckten Erwartungen des Kölner FDP-Parteitages am vorletzten Wochenende und der FDP-Drohung, notfalls die Koalition platzen zu lassen, ganz zu schweigen.

Dennoch: Ganz ohne Erfolg sind die Bonner nicht geblieben. Margaret Thatcher hat, wie jetzt auch die konservative britische Presse entdeckt, eine Niederlage einstecken müssen.

Die Premierministerin hatte bis zuletzt verlangt, die Nato müsse in Brüssel

die »Modernisierung« genannte Aufrüstung mit neuen Atomraketen beschließen,

Verhandlungen mit dem Osten über diese Waffen ablehnen und

eine dritte Null-Lösung nach dem Abbau der atomaren Mittelstreckenwaffen ein für allemal ausschließen.

Daraus wurde nichts. Am Ende des nächtlichen Pokers war Frau Thatchers Außenminister Geoffrey Howe isoliert. Durch ihr Eingehen auf amerikanische Forderungen hatten die Deutschen die Eiserne Lady in Verlegenheit gebracht. Margaret Thatcher mochte ebensowenig für ein Scheitern des Geburtstagsgipfels verantwortlich sein wie Kohl oder Genscher. Der Preis, dem neuen amerikanischen Präsidenten seinen ersten außenpolitischen Erfolg zu versagen, wäre zu hoch gewesen.

So tat Frau Thatcher, was sie immer in Stunden der Niederlagen auf internationalem Parkett tut - sie redete die Konferenz-Ergebnisse mit schriller Stimme schön: »Das ist eines der besten Nato-Dokumente, das ich je in Händen hatte.«

Das Bonner Spiel, sich im Raketenstreit »im deutschen Interesse« querzulegen, hatte sich, geht man von den Grundpositionen aus, in zwei Punkten ausgezahlt: Amerikaner und Briten gestanden zu, die Nato-Entscheidung über die Stationierung der neuen Atomraketen bis nach der für Kohl und seine Union riskanten Bundestagswahl 1990 zu vertagen und mit den Sowjets auch über Kurzstreckenraketen zu verhandeln.

Diese Zugeständnisse haben sich die Bonner allerdings teuer erkaufen müssen. Die in Kohls Regierungserklärung vom 27. April erhobene Forderung, das »Gesamtkonzept« müsse einen »Verhandlungsauftrag« auch für die nukleare Artillerie-Munition enthalten, kommt in dem Brüsseler Papier nicht vor. Dabei ist die Abschaffung der wegen ihrer kurzen Reichweite von rund 30 Kilometern fast nur für die Deutschen bedrohlichen Atomgranaten seit Jahren ein Kernanliegen der CDU/ CSU und ihres Bonner Fraktionschefs Alfred Dregger.

Ein weiterer Preis ist die förmliche Zustimmung aller Allianz-Partner zur Entwicklung eines Nachfolge-Modells für die Lance-Kurzstreckenraketen in den USA. Noch bei der letzten Tagung der Nuklearen Planungsgruppe im April hatten die Bonner dies Ja-Wort verweigert. Damals galt noch der Satz aus Kohls Regierungserklärung, die Entwicklung des Lance-Nachfolgers sei »eine nationale amerikanische Entscheidung«.

Nun wird der »Wert« der amerikanischen Ausgaben für die Raketenentwicklung ausdrücklich »anerkannt«. Auf diesem europäischen Signal hatte US-Außenminister James Baker bestanden, weil sonst der amerikanische Kongreß die Millionen Dollar für die neue Atomrakete mit 480 Kilometern Reichweite hätte sperren können. Seinem deutschen Amtskollegen Genscher gestand er immerhin den Satz zu, bei der Enwicklung des Lance-Nachfolgers gehe es den Verbündeten der USA darum, »ihre Optionen in dieser Beziehung zu wahren«.

Außenminister Genscher gibt vor, damit sei ein Schlupfloch für die dritte Null-Lösung offengehalten: »Option kann auch Null heißen.« Doch mit dieser Auslegung steht er allein auf weiter Flur. Um die aufgeregte Margaret Thatcher zu besänftigen, verkündete der amerikanische Präsident auf dem Nato-Gipfel in Brüssel gleich zweimal: »Eine dritte Null wird es nicht geben.«

Das hatte auch Helmut Kohl immer betont, bevor Koalitionspartner Genscher ihn im Frühjahr gegen die Amerikaner in Stellung brachte: 1992 sei zu entscheiden, hieß es dann auch in der Regierungserklärung vom 27. April, »ob für 1996 die Einführung eines Lance-Nachfolgesystems in das Bündnis und demzufolge Produktion und Stationierung erforderlich ist oder nicht«.

Das »Gesamtkonzept« - so sehen es vor allem Amerikaner und Briten - schließt eine dritte Null-Lösung gleich an mehreren Stellen aus. Für Kohl schrumpfte die dritte Null-Lösung vergangene Woche schon wieder zu einer »pseudophilosophischen Frage«, die er nicht »weiter verfolgen« wolle.

Aus Kohls Sicht ist das logisch. Er hat - anders als Genscher - nie an den völligen Abbau der Nato-Kurzstreckenraketen in Europa geglaubt. Und so heißt es im »Gesamtkonzept«, »soweit voraussehbar«, seien auch künftig »bodengestützte Flugkörper« notwendig; es soll nur über eine »teilweise Reduzierung« der Raketen mit den Russen verhandelt werden. »Teilweise heißt teilweise - und nicht ganz«, kommentierte der deutsche Nato-Generalsekretär Manfred Wörner.

Obendrein mußte Unterhändler Genscher zugestehen, daß erstmals in einem Nato-Dokument den Kurzstreckenwaffen in Europa eine neue Rolle zugewiesen wird. Bisher galt, daß diese Waffen zuallererst die Unterlegenheit des Westens bei konventionellen Streitkräften ausgleichen sollen. Deshalb konnte auch der Planungsstab des Bonner Verteidigungsministeriums noch kürzlich feststellen, die Kurzstreckenwaffen spielten keine Rolle mehr, sobald die östliche Überlegenheit beseitigt sei.

Fortan aber gelten die erstmals als »sub-strategische Systeme« bezeichneten Kurzstreckenwaffen der Nato als »wesentliches Bindeglied zwischen konventionellen und strategischen Streitkräften sowie zwischen den europäischen und den nordamerikanischen Mitgliedern des Bündnisses«. »Nie«, also auf unabsehbare Zeit, dürfe eine Lage entstehen, heißt es im »Gesamtkonzept«, in der ein Angreifer nicht auch mit einer nuklearen Reaktion aus Europa rechnen müsse. Lance forever?

Von »baldigen« Raketenverhandlungen - die Kohl nur halbherzig gefordert, Genschers FDP-Parteitag aber »dringlich« verlangt hatte - ist im Gesamtkonzept keine Rede mehr. Die Bonner mußten eine Formel schlucken, die ihnen noch vorletzte Woche als Zumutung der Amerikaner erschien: Erst wenn bei den Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte ein Vertrag unterschrieben und mit dem Rüstungsabbau in Europa begonnen worden ist, soll mit den Sowjets auch über Kurzstreckenraketen geredet werden. Mit der Beseitigung der Raketen darf erst begonnen werden, wenn Nato und Warschauer Pakt auf gleiche Stärke heruntergerüstet haben.

Der US-Präsident hat seinen deutschen Verbündeten die bitteren Pillen allerdings versüßt. Er brachte ein neues Abrüstungskonzept mit nach Brüssel, das den Forderungen der Sowjets entgegenkommt. In Wien soll nun auch über Flugzeuge, Kampfhubschrauber und Truppenstärken verhandelt werden und nicht nur über Kampfpanzer, Schützenpanzer und Artilleriegeschütze, wie die Nato es wollte.

Außerdem bot Bush eine Verringerung der US-Land- und -Luftstreitkräfte in Europa um 30 000 auf 275 000 Mann an, falls die Sowjets ihre Armeen in Osteuropa auf die gleiche Stärke verringern - also rund 325 000 Mann abziehen.

Bush hofft, daß sich die Wiener Unterhändler schon »in sechs bis zwölf Monaten« auf ein Konzept verständigen können. Auf diese Dynamik setzt auch Hans-Dietrich Genscher. »Er hat sich abhängig gemacht von Hoffnungen«, klagt indessen der erfahrene Ost-Unterhändler Egon Bahr.

Wohl wahr. Denn die Formel im Gesamtkonzept, das Bündnis werde die Modernisierung der Lance-Raketen erst wieder 1992 »behandeln«, verleitet den FDP-Außenminister zu der optimistischen Prognose: »Behandeln heißt nicht entscheiden.«

Bis dahin aber hat die Regierung durchzustehen, was Kohl seiner Union eigentlich ersparen wollte: einen Raketenwahlkampf. SPD-Chef Hans-Jochen Vogel gab letzte Woche im Bundestag die Parole aus: »Neue Raketen wird es mit uns auf deutschem Boden unter keinen Umständen geben.«

Wie immer sich die Wähler entscheiden, auch für Hans-Dietrich Genscher steht fest, daß es in der Bundesrepublik keinen Lance-Nachfolger geben wird: »Die Regierung möchte ich sehen, die 1992 sagt: Wir wollen die Modernisierung.« #

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