Tendenzwende: Jeder fühlt den neuen Wind
Ein Gespenst ging um im Schlußverkauf anno 1974. Festredner und Leichenbitter suchten sieh seiner zu bemächtigen, seine Herkunft blieb dunkel. Aber die Bayerische Akademie der Schönen Künste genoß das Privileg, dem Schemen ein Etikett anzuheften. Für den 26. und 27. November setzte sie sechs Professoren das Thema: »Tendenzwende«. mit Fragezeichen. Alle sechs gaben ihr Bestes.
Den Dingen wohnt, wer wollte das bestreiten, die Tendenz inne, nicht so zu bleiben, wie sie sind, sich womöglich zu ändern, ja sogar sich zu wenden. Aber so scheint's nicht gemeint. Nur wie dann? Im Wesen der Tendenzen liegt, daß jeweils eine von einer anderen abgelöst, überholt oder überlagert wird. Tendenzwende?
War etwa der Wechsel zum romantischen Biedermeier im vorigen Jahrhundert eine Tendenzwende? Keine Einigkeit unter den Gelehrten in München. Ist unsere Situation vergleichbar? Noch weniger Einigkeit. Schließlich gibt es immer Tendenzen, die einander konträr laufen, und wer will sagen, welches die jeweils herrschende Tendenz ist? »Tendenz«, sagt Meyers Lexikon von 1908, ist Abzielen auf Verwirklichung eines bestimmten Zweckes. Der Brockhaus von 1957 ist da schon vorsichtiger. Schließlich gibt es eine -- vom ganz großen Uhrmacher kaum dirigierte -- Börsentendenz, und auf diesem weniger wolkigen Feld hat sich die Tendenzwende tatsächlich eingestellt; nur nicht 1974, sondern schon Jahre früher.
Indes, kein Fragezeichen, weder gelehrte Nüchternheit noch politische Vorsicht konnten den Siegeszug des eingängigen Wortes hemmen. Kaum heraus, gedieh es, unter Kerzenlicht und Knallfroschgetöse, zum Anreiz epochaler Besinnlichkeit. Weihnachtszeit ist Wendezeit, und jedem fiel dazu etwas ein -- den Redakteuren der Festtagsausgaben, den professionellen Kulturkritikern, den Magazinmachern und, zum Schluß und Jahreswechsel, auch dem Journalistendompteur Werner Höfer.
Possierlich sprangen die Geladenen durch den feurigen Tendenzreifen -- so der Amerikaner Melvin Lasky: »Utopie ist weg, Revolution ist weg. man ist müde geworden.« Andererseits: Sogar Bayerns christlicher Kultusminister Hans Maier möchte rundweg ausschließen, daß uns »neuerlich, novalishaft, eine abendländische Erneuerung ins zeitgenössische Haus« stehe, trotz. so trug er seiner Akademie vor, trotz Solschenizyn nicht.
Mit dem Wort von der Tendenzwende gehe »ein hörbares Aufatmen« einher, schrieb die »Süddeutsche Zeitung«. »Der Fortschritt hat Rost angesetzt«. triumphiert Curt Hohoff im »Rheinischen Merkur«. Der »Münchner Merkur« erklärte, daß die Jugend heutzutage nicht mehr Ché Guevara lese, sondern das Tibetanische Totenbuch. Rolf Zundel analysierte in der »Zeit«, daß der »aufklärerischen Renaissance« in der Bundesrepublik offenkundig nur »ein kurzes Leben vergönnt« gewesen sei, und die »FAZ« sprach das Urteil: »Wo immer man hinsieht, das ... vielzitierte Wort vom umschlagenden Wind findet Bestätigung und Gründe.«
Wirklich, die Abiturienten eilen wieder zu den Fahnen der Bundeswehr (wo sie nicht jahrelang auf ihren Beruf warten müssen). »Ein Mann sieht rot«, filmische Verherrlichung der Selbsthilfe mit dem Revolver, bricht alle Kinorekorde. Um der Bilder des Caspar David Friedrich ansichtig zu werden, stehen Menschen Schlange im Regen, stundenlang.
Links ist nicht mehr »in«, links ist Scheiße. Nur, die Arbeitslosigkeit wurde nicht von Linken erfunden, nicht der Hunger auf zwei Dritteln der bewohnten Erde, und schon gar nicht die Explosion der Rohstoffpreise. Konservative, deren Gehirnschätze nicht so mühsam zu heben sind wie bei dem bekannten Hessen Dräcker*, überlegen sich denn auch bereits, ob sie die ihnen winkende Erbschaft nicht ausschlagen sollen. Günter Zehm in der »Welt": »Jeder fühlt den neuen Wind« aber keiner kann angeben, aus welcher Richtung er weht. Vielleicht gibt es gar keine bestimmte Windrichtung.«
Schließlich hatte die »Tendenzwende« einen kurzlebigen, aber imposanten Vorläufer. Das Jahr 1973 brachte nämlich die »Kulturwende«. Keineswegs sind die unter dieser Standarte galoppierenden apokalyptischen Übel in alle Winde zerstreut worden. Aber die Unwiderruflichkeit schreckte. Man half sich mit einer Verniedlichung.
Im Börsenwesen, sagt der Brockhaus von 1957, bezeichnet eine Tendenz die
* Phantom-Diplomat des Auswärtigen Amtes.
jeweilige Entwicklung im Börsengeschäft, sie kann fest oder flau sein. Solange wir nur eine Tendenzwende feststellen, ist noch Hoffnung, daß die Dinge sich von selbst und ohne unser Zutun wieder zurechtziehen. Die Entwicklung ist ja nur eine jeweilige, fest oder flau, das Blatt kann sich wenden, die Tendenz sich umkehren. Welch ein Trost für die Politiker und uns alle, die sogenannten Tendenzbetriebe nicht ausgeschlossen.
Heraus kommt: Das Gespenst der Tendenzwende ist ein Kurzzeitrekrut. Hat die Bonner Koalition die Wahlen in Nordrhein-Westfalen verloren, darf er den Dienst quittieren. Schnaps wird dann wieder Schnaps sein. Warten wir auf den Mai. Windige Wende. Wendige Winde. Oder auch: windige Wände. Tendenz, Tendenz ...