OSTBLOCK / KIESINGER-ECHO Teufel und HeiIige
In einer Eilmeldung verbreitete die sowjetische Nachrichtenagentur »Tass« am 10. November die Botschaft von der Kanzler-Kandidatur Kurt Georg Kiesingers - eines dem Sowjet -Leser bis dahin unbekannten Mannes.
Mit der Nachricht von der Koalition zwischen Christ- und Sozialdemokraten am 28. November ließen sich die Moskauer Meinungsmacher mehr Zeit. Die Leser der »Prawda« (Auflage 6 700 000) erfuhren die Neuigkeit zunächst nur aus dem Zitat einer von Karl-Hermann Flach ("Frankfurter Rundschau") abgegebenen Prognose »schwerster Folgen für die SPD«,
Am 1. Dezember endlich, als die Staatszeitung »Iswestija« in einer Karikatur die Koalition bereits als revanchistisch abstempelte, veröffentlichte das Parteiorgan »Prawda« eine 17-Zeilen-Meldung auf Seite drei vom Regierungseintritt der Sozialdemokraten. Zwei kommentarlose Korrespondentenberichte aus Bonn folgten in den nächsten beiden Tagen. Der Griff der Sozialdemokraten nach der Macht in Bonn hatte den Kreml-Kolumnisten vorerst die Sprachregelung verschlagen.
Die ostdeutschen Kommunisten, die einen »scharfen Rechtskurs« prophezeiten, mußten erleben, daß gerade in der Einschätzung der Wandlungen in Bonn der Ostblock auseinanderlief.
Allein China und sein Satellit Albanien rieben sich mit den DDR-Schreibern an der Kiesinger-Koalition. Peking behauptete, sie sei ein Produkt sowjetisch-amerikanischer Packelei.
Die polnische Presse - im Kampf gegen Bonn sonst Pankows enger Verbündeter - hielt sich hingegen zurück.
Die Warschauer Zeitung »Zycie Warszawy« verurteilte lediglich die Ernennung von Hassels, des »brutalen Fürsprechers des deutschen Militarismus« zum Vertriebenenminister.
»Glos Pracy« teilte westdeutsche Proteste gegen die Groß-Koalition, die vom polnischen Fernsehen aufgenommen worden waren: »Der Wunsch der SPD -Führer, unter den Regiereriden zu sein«, mäkelte die Zeitung, »war so groß, daß sie sich gerade in dem Augenblick zum Regierungseintritt entschlossen; als die bisherige politische Konzeption der Christlichen Demokraten zusammenbrach.«
UngarnsParteichef Kádár, der zu Beginn seines Parteitages in Budapest noch Bonn beschimpft hatte, änderte nach Bildung der Großen Koalition sogleich den Ton: Im Parteitags-Schlußwort versicherte Kádár, der oft sozialdemokratischer Neigungen bezichtigt worden war, den staunenden Delegierten sein Interesse an normalen Beziehungen mit der sozialdemokratisch angereicherten Bundesregierung.
Jugoslawiens Parteiorgan »Borba«, auf Preisgabe der Hallstein-Doktrin
durch die neue Regierung erpicht, erläuterte elegant die östliche Abstinenz von der sonst geübten Propaganda: »Dieses Ereignis in Bonn - obwohl es eine Reihe widersprüchlicher Gefühle wachrufen kann - verdient, sorgfältig und ohne spontane Reaktion verfolgt zu werden.«
In Erwartung der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Bonn zeigten sich die Rumänen am freundlichsten: Verständnisvoll nannten sie das, was die »Iswestija«-Karikatur vorschnell als »ungleiche Ehe« ausgab, die »Vernunftehe am Rhein«. In Rumänien arbeitet seit fast drei Jahren eine Bonner Handelsvertretung, die wahrscheinlich Bonns erste diplomatische Mission in einer Volksdemokratie werden wird.
Nach einwöchigem Schweigen fand auch die Moskauer »Prawda« wieder Worte zu Bonn. Ihr Korrespondent berichtete wertfrei über die Kabinettsbildung. Zu einem Kommentar, der die Sowjetmenschen über die Parteilinie angesichts des Bonner Regierungsstreichs orientiert hätte, vermochte sich Moskau noch immer nicht zu entschließen.
Die ostpolitischen Passagen der Regierungserklärung vom 13. Dezember wurden von der kommunistischen Presse exakt wiedergegeben. Erste vorsichtige Interpreten wollten es mit den neuen Männern in Bonn, an die sie manche Wünsche haben, offenbar nicht gleich verderben:
Die polnische Nachrichtenagentur PAP registrierte, was Warschau wichtig war: der Anspruch auf die Grenzen von 1937 sei in Kiesingers Regierungserklärung nicht erhoben worden. Das offizielle Parteiblatt »Trybuna Ludu« fand, Kiesingers »neue Idee, Deutschland als Brücke zwischen Ost und West hinzustellen«, unterscheide sich durchaus von Adenauers »Bastion der westlichen Welt« - und sei genauso riskant; seine Erklärung sei »poliert« und »wohlüberlegt«, mit Verbeugungen nach allen Richtungen - gleich den auf polnischen Jahrmärkten gehandelten Heiligenbildern, bei denen durch einen Kniff des Malers man, von links betrachtet, den heiligen Joseph sieht, von rechts jedoch - den Teufel.
Von rechts sah »Trybuna Ludu« hinter einer »Ansammlung von Worten ... das Verlangen nach einem Feilschen, für das es überhaupt keinen Anlaß gibt und geben wird": Warschau will sich auf ein Tauschgeschäft Oder-Neiße-Grenze gegen Wiedervereinigung nicht einlassen.
Die Parteizeitung der an einer Annullierung des Münchner Abkommens von 1938 interessierten Tschechoslowakei, »Rude Právo«, überlegte, ob Kiesingers Worte »ernst gemeint« seien, die Prager Jugendzeitung »Mladá frontat aber entdeckte auf den ersten Blick - von links - »gewisse positive Momente und Tendenzen vorwärtszuschreiten, besonders in einigen außenpolitischen Fragen«. Denn: »Zum erstenmal verurteilt eine Bundesregierung offen die Vernichtungspolitik Hitlers gegenüber der Tschechoslowakei.«
Auch Budapest blieb bei seinem Interesse an besseren Bonn-Beziehungen: »Einen gewissen Fortschritt durch die Einnahme eines realistischeren Standpunkts« konstatierte die ungarische Gewerkschaftszeitung »Népszava«.
Selbst als am letzten Donnerstag schließlich die »Iswestija« zum traditionellen Mißtrauen zurückfand, war es in relativ höfliche Worte gekleidet: »Es scheint«, orakelte das Staatsblatt, »als ob mit den Friedensakzenten Pläne verborgen werden sollen, die nichts gemein haben mit Liebe und mit Frieden.«
Sowjetische Karikatur zur Großen Koalition*
* Inschriften: Auf Adenauers Umhang »Revanche«, in seiner Hand »Koalition«, an Kiesinger. »CDU«, an Brandt »SD« (für Sozialdemokraten).