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ITALIEN Teuflisches Puzzle

Politiker und Richter streiten um die Veröffentlichung eines angeblichen Moro-Verhörs: Es enthält zu viele Vorwurfe gegen die Regierungspartei.
aus DER SPIEGEL 42/1978

Ein Spitzel aus der ultralinken Szene gab der Mailänder Kripo den Tip: In der Via Pallanza 6 habe sich »ein gesuchter Terrorist« eingemietet.

Die Carabinieri folgten der Spur. Anfang Oktober nahmen sie in Mailand insgesamt neun mutmaßliche Mitglieder der berüchtigten Roten Brigaden fest. Mindestens drei von ihnen sind laut Staatsanwaltschaft mitverantwortlich für die Entführung und Erinordung des Ex-Premiers Aldo Moro im Frühjahr 1978. Italiens Massenmedien tauften die erfolgreiche Offensive in Anspielung an Hitlers Blitzkriege »il blitz«.

Bei dem Blitzschlag stellten die Terroristen-Jäger kistenweise Waffen. Sprengstoff sowie Verzeichnisse von Untergrundkämpfern sicher, in der Wohnung Via Monte Nevoso 8 entdeckten sic überdies das »exklusivste Dokument, das dem Anti-Guerilla-Kommando bisher in die Hände gefallen ist« (so das Magazin »Panorama"): einen 53 Seiten langen, maschinengeschriebenen Bericht der Roten Brigaden. insbesondere über das angebliche Verhör des Gefangenen Moro.

Der brisante Fund löste in den vergangenen Tagen eine Flut von Gerüchten, Vorwürfen und Dementis aus. Das politische Klima, klagte ein Mailänder Christdemokrat, »wird zunehmend vergiftet«.

Zunächst, so scheint es, machten sich Justizbeamte, die das Moro-Dossier in die Finger bekamen, Notizen daraus -- oder fertigten gar Kopien für sich und ihre Freunde an. Binnen kurzem gelangten Einzelheiten aus dem angeblichen Verhör Aldo Moros an die Presse. So habe der christdemokratische Parteipräsident den Roten Brigaden versichert, er wolle -- wenn er wieder frei sei -- sogleich aus der »korrupten, gemeinen« DC austreten.

Moro -- laut Dossier -- über Zaccagnini: »Der dümmste Parteisekretär, den die DC je gehabt hat, und obendrein schon völlig der KP ergeben. Den Regierungschef Andreotti qualifizierte der Gefangene Moro als einen »Mann ohne Skrupel« ab, der mit »einem schäbigen Kreis von Geschäftemachern und Intriganten liiert ist«.

Gewiß, scharfe Kritik an seiner Partei hatte der am 16. März entführte Christdemokrat schon in seinen Briefen aus dem Brigadisten-Versteck geübt. Denn der Ex-Premier war tief verbittert, daß seine DC den von den Terroristen verlangten Gefangenenaustausch ablehnte und ihn somit der Staatsräson opferte. Die DC bezeichnete Moros böse Post als »im Grunde nicht authentisch«, weil die Entführer ihr Opfer brutal unter Druck gesetzt hatten. Genauso urteilte sie jetzt über die angeblichen Verhör-Aussagen des Gefangenen.

Gleichwohl wurde in Rom der Verdacht laut, etliche DC-Politiker würden aus Sorge um ihren guten Ruf die vollständige Veröffentlichung des Dossiers verhindern. Der von Moro angegriffene Andreotti, hieß es beispielsweise, habe unter dem Vorwand, der Inhalt einiger Passagen sei »Staatsgeheimnis«. den Text bereits zensiert.

Andreotti dementierte prompt am 8. Oktober: Er habe das Moro-Dossier noch gar nicht zu sehen bekommen. Dies freilich ist wenig wahrscheinlich.

Vergangenen Mittwoch schließlich wartete die Wochenzeitung »L'Espressso«, die durch heftige Angriffe auf Staatspräsident Leone zu dessen Sturz im Juni beigetragen hatte, mit neuen Enthüllungen auf. Sie zitierte aus dem Moro-Dossier, aber auch ausführlich aus angeblichen Protokollen zweier Treffen im März und April, bei denen sich Andreotti mit den Sekretären der fünf wichtigsten Parteien über die Strategie im Fall Moro beraten hatte. Das Dokument zeigt erneut: Nur Sozialisten-Chef Bettino Craxi trat für Verhandlungen mit den Terroristen ein.

Andreottis engste Mitarbeiter beteuern allerdings, bei jenen Sitzungen seien keine Protokolle angefertigt worden. Deshalb mutmaßen viele Bürger, einer der Teilnehmer habe sich bei den Beratungen Notizen gemacht und sie der Presse gesteckt, um aus der Affäre Moro politisches Kapital zu schlagen.

Richter Achille Gallucci, der die Ermittlungen im Fall Moro leitet, gab den verwirrten Italienern gleich noch ein neues Rätsel auf. Die in der Presse zitierten Moro-Äußerungen aus dem Dossier, betonte er, stimmten mit dem in Mailand gefundenen Text gar nicht überein.

Unter diesen Umständen pochten Politiker aller Parteien darauf, endlich das angebliche Moro-Protokoll im Wortlaut zu veröffentlichen. DC-Innenminister Virginia Rognoni: »Ich habe nichts dagegen, wenn der zuständige Richter damit einverstanden ist.«

Doch der ist dagegen. Zum Ärger der Politiker besteht Richter Gallucci darauf, in einem Untersuchungsverfahren müsse das Material geheim bleiben. Außerdem sei nicht sicher, ob das Mailänder »Verhör-Protokoll« die Aussagen Moros getreu wiedergebe.

Es scheinen noch weitere Dossiers zu existieren. Die Roten Brigaden fördern das Verwirrspiel, indem sie gelegentlich dubioses Material an die Zeitungen schicken. »Ein wahrhaft teuflisches Puzzle«, so der »Corriere della Sera«.

Während sich Italiens Politiker und Richter stritten, schlugen Italiens linke Terroristen abermals zu. Vergangene Woche ermordeten sie einen hohen Beamten des römischen Justizministeriums sowie einen neapolitanischen Kriminalistik-Professor und Gefängnisexperten. Die KPI fragte bestürzt: »Sitzt im Justizministerium etwa ein Spion der Roten Brigaden?«

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