MEDIKAMENTE Teure Namen
Nur durch eine wirklich haushälterische Verordnungsweise aller Kassenärzte«, mahnte die Allgemeine Ortskrankenkasse Dortmund die Heilkundigen, »können die Arzneiausgaben der Krankenkassen in erträglichen Grenzen gehalten werden.« Selbstverständlich sei »jedes wirklich notwendige Mittel auch in der Kassenpraxis erlaubt«, kein Kassenarzt gezwungen, »nur billige Mittel« zu verschreiben. »Die sparsame Verordnungsweise verlangt nur eine haushälterische, überlegte Anwendung des ganzen Arzneischatzes.«
Der Appell, wirtschaftlich zu rezeptieren, erging vor 69 Jahren. Er ist aktueller denn je.
Die Arzneimittelausgaben der Krankenkassen erhöhen sich Jahr für Jahr, obwohl die Kassenpatienten nicht kränker sind als eh und je, neuerdings sogar weniger häufig zum Arzt gehen und obendrein, aufgeschreckt durch zahlreiche Arzneimittelskandale, etwa bei Rheumamitteln, zunehmend Abstinenz beim Pillenschlucken üben.
Schuld an der Kostenausweitung - im vergangenen Jahr auf 15,6 Milliarden Mark, 8,1 Prozent mehr als 1983 - ist vor allem die Pharmaindustrie, die in der Bundesrepublik, einmalig in der Welt, unbehelligt von gesetzlichen Preisvorschriften oder wirksamen Zulassungsbeschränkungen agieren kann.
Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und die internen Marktdaten der Pharmabranche beweisen es: Das Umsatzplus der letzten Jahre ist nicht durch therapeutischen Fortschritt, durch neue und bessere Medikamente erzielt worden, sondern fast ausschließlich durch schlichte Preiserhöhung der Altware und ein paar Marketing-Tricks: Die Firmen nehmen therapiegerechte Kleinpackungen aus dem Markt, ersetzen sie durch teure Großpackungen und ersinnen immer neue, teurere »Darreichungsformen« für altbekannte Produkte.
Den pharmakologisch weitgehend ungeschulten Kassenärzten werden diese dann mit einem immensen Reklameaufwand - allein für Vertreterbesuche, Anzeigen in der Ärztepresse und Werbebriefe über zwei Milliarden Mark im Jahr - als »Neuheiten« aufgeschwatzt.
Typisches Beispiel: Um die Marktposition von Valium, seit mehr als zwei Jahrzehnten Bestseller des Schweizer Pharmakonzerns Hoffmann-La Roche, gegen billigere Anbieter der gleichen Wirksubstanz und gegen neue Beruhigungsmittel der Konkurrenz zu verteidigen, haben die Basler eine neue Valium-Darreichungsform ersonnen - »Valiquid«, ein flüssiges Valium, das angeblich eine »bessere Dosisanpassung« ermöglicht. Verglichen mit der 50er-Packung herkömmlicher 10-mg-Valium-Tabletten erhöht sich der Preis für den Verbraucher bei gleicher Wirkstoffmenge um rund 20 Prozent.
Kein Wunder, daß seit Ende der siebziger Jahre alle gesetzlich verordneten Kostendämpfungsmaßnahmen erfolglos blieben: *___Der von der sogenannten Konzertierten Aktion im ____Gesundheitswesen jährlich festgesetzte »Höchstbetrag« ____für die Arzneimittelausgaben der Krankenkassen wurde ____regelmäßig überschritten. Allein die Differenz zwischen ____empfohlenem Limit und tatsächlichem Aufwand hat die ____Kassen schon mit mehr als zwei Milliarden Mark ____belastet, obwohl jede Jahresempfehlung einen ____ordentlichen Pharmazuwachs enthielt. *___Die Einführung der »Negativliste« - Arzneimittel gegen ____Husten, Schnupfen, Verstopfung und Durchfall müssen von ____erwachsenen Kassenpatienten seit knapp zwei Jahren aus ____eigener Tasche bezahlt werden - brachte den ____Krankenkassen keine spürbare Erleichterung. Die ____Pharmafabrikanten unterwiesen die Heilkundigen, wie das ____Ausgrenzungsgebot übersprungen werden könnte: Aus der ____harmlosen Erkältung wurde einfach eine Bronchitis, der ____Bedarf an Abführmitteln bei Kindern und Jugendlichen
nahm, medizinisch unerklärlich, stark zu. *___Eine Preisvergleichsliste, die von der Kassenärztlichen ____Bundesvereinigung (KBV) in gesetzlichem Auftrag seit ____Februar 1979 herausgegeben und ständig aktualisiert ____wird und die inzwischen ein Viertel aller in der ____Kassenpraxis verordneten Wirkstoffe umfaßt, nutzte ____nichts. Die Ärzte beachteten diesen kostenlosen Helfer ____für eine wirtschaftlichere Verschreibungsweise (zu der ____sie nach dem Kassenarztgesetz verpflichtet sind) ____offenbar kaum.
Nach Berechnungen des Wissenschaftlichen Instituts der Ortskrankenkassen (WIdO) hätten die Kassen allein im letzten Jahr bis zu 1,3 Milliarden Mark sparen können, wenn die Ärzte preislistenbewußt rezeptiert hätten.
Sogar die Kassenärztliche Bundesvereinigung gibt den permanenten Verstoß der 62 271 Kassenärzte gegen ihre gesetzlichen Pflichten zu. »Deutsche Kassenärzte sind konservativ«, wies der Geschäftsführer des KBV-Zentralinstituts, Sozialmediziner Friedrich-Wilhelm Schwartz, in einer Untersuchung nach, »deutsche Kassenärzte sind auf bestimmte Markennamen fixiert.«
Die noch unveröffentlichte WIdO-Studie belegt ebenfalls die »deutliche Neigung der niedergelassenen Ärzte, teure Arzneimittel zu verordnen«. Obwohl gerade bei der an der Spitze aller Verschreibungen stehenden Uraltware die Patente längst abgelaufen, die einstigen Forschungskosten voll eingefahren sind und preisgünstigere Konkurrenzpräparate gleicher Wirkstoffqualität seit langem von konzernfreien Herstellern angeboten werden, halten deutsche Kassenärzte im Gegensatz etwa zu ihren amerikanischen, britischen und französischen Kollegen eisern an dem fest, was marktmächtige Pharmakonzerne ihnen unter lediglich warenzeichenrechtlich geschützten Phantasienamen zu teilweise 400 Prozent höheren Preisen ans Herz legen.
Kassenärzte verordnen Markennamen, nicht Wirkstoffe: *___96 Prozent aller Verapamil-Verordnungen lauten noch ____immer auf das Herzmittel »Isoptin« der BASF-Tochter ____Knoll, das bereits im Januar 1963 auf den Markt kam: ____100 Dragees Isoptin mite kosten 27,20 Mark, die gleiche ____Menge an wirkstoffgleichen Dragees »Durasoptin mite« ____nur 14,95 Mark. *___92 Prozent aller Glibenclamid-Rezepte zur Behandlung ____von Altersdiabetes tragen den Namen »Euglucon«, ein im ____April 1969 eingeführtes Präparat von Hoechst und ____Boehringer Mannheim: 120 Tabletten Euglucon N kosten ____39,40 Mark, 120 Tabletten des wirkstoffgleichen ____"Glibenclamid Rekur« 9,50 Mark. *___88 Prozent aller Acetyldigoxin-Verschreibungen werden ____auf die »Novodigal«-Herzpillen von Beiersdorf ____ausgestellt, die im Januar 1965 herauskamen: 100 ____Tabletten Novodigal kosten 14,65 Mark, 100 Stück ____"Acetyldigoxin« der Firma R.A.N. nur 8,05 Mark. *___67 Prozent aller Oxazepam-Verordnungen beziehen sich ____auf den ebenfalls 20 Jahre alten Seelentröster ____"Adumbran« der Firma Thomae, einer Tochter des ____Chemiegiganten Boehringer Ingelheim: 50 ____Adumbran-Tabletten kosten 14,50 Mark, 50 ____wirkstoffgleiche »Durazepam« nur 6,50 Mark.
Sogar die bald neunzigjährige Acetylsalicylsäure wird in der Kassenpraxis zu 55 Prozent noch immer in Form des relativ teuren »Aspirin« von Bayer verschrieben.
Solche Markentreue niedergelassener Mediziner ist nicht nur die Folge ihrer dürftigen pharmakologischen Ausbildung während der Studienzeit. Sie ist vor allem auch Ärzte-Dank für viele Gaben.
Die Großen der Pharmabranche überschütten die niedergelassenen Ärzte mit nützlichem Krimskrams für Praxis und Privathaus, von der Uhr für den Ordinationsschreibtisch bis zum Brettspiel für den Feierabend. Sie stopfen ihnen die Praxen mit »Ärztemustern« voll, deren Herstellungsaufwand - nach Berechnungen des Bundesverbandes der Ortskrankenkassen jährlich zwei Milliarden Mark - sie auf die Abgabepreise ihrer regulär über die Apotheken abgesetzten Pillenschachteln schlagen.
Sie finanzieren ihren ärztlichen Umsatzgaranten durch Anzeigen die Standes- und Statuspresse, angefangen vom »Deutschen Ärzteblatt« bis hin zum »Ärztlichen Reise- und Kultur-Journal«. Sie laden die Doktores immer wieder zu Arbeitsessen und Symposien ein, die, wie sogar der Präsident der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, einmal rügte, lediglich »vordergründiger oder geschickt verschleierter Produktwerbung« dienen.
Die jüngste Variante haben sich Werbestrategen der Biberacher Pharmafirma Dr. Karl Thomae ausgedacht: Sie laden jeweils einen Kreis von »circa 16 bis 20 niedergelassenen Kinderärzten« zu einer »Beratungsklausur« über »Bronchitis-Therapie« für einen Tag in das rheinische »Hotel Schloß Auel« - Thomae trägt nicht nur Reisekosten, Verpflegung und Unterkunft, sondern honoriert die »Mitarbeit« auch noch mit 700 Mark pro Teilnehmer.
Daneben schicken die finanzstarken Arzneimittelhersteller den Heilkundigen ihre sogenannten Pharmaberater ins Haus, Handelsvertreter, die immer von neuem für Altes werben - mit durchschlagendem Erfolg: »90 Prozent ihrer Arzneimittelinformationen«, rühmt sich der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie, »beziehen die niedergelassenen Ärzte von Pharmaberatern.«
Kassenappelle zur Sparsamkeit und Politiker-Schelte - Bundessozialminister Norbert Blüm: »Es wird zu viel und zu teuer verordnet« - müssen in diesem industriellen Werbe-Bombardement untergehen.
Einem Kassenmann fiel nun zwar eine Lösung ein, wie dennoch preisbewußtes Rezeptieren in der Kassenpraxis verwirklicht werden könnte. Der Geschäftsführer des Landesverbands der Ortskrankenkassen in Bayern, Hans Sitzmann, kam auf die Idee, »den pharmazeutischen Sachverstand der Apotheker zur Kostendämpfung einzusetzen«. Doch der »Modellversuch« einer »Wirkstoffverordnung in einem begrenzten Bereich« trifft auch schon auf erbitterten Widerstand.
Nach Sitzmanns Plan sollen Kassenärzte bei einer festgelegten Gruppe von Arzneiverschreibungen nur noch den Wirkstoff, dessen Stärke, Darreichungsform und Menge auf dem Rezeptformular vermerken. Der Apotheker, dem das Rezept vom Kassenpatienten vorgelegt wird, entscheidet dann - aufgrund seiner detaillierten Preiskenntnis -, welche Pillenschachtel als »wirtschaftliche Verordnung« an den Patienten abzugeben ist.
Das Sitzmann-Programm ist bescheiden. Nur elf pharmazeutische Substanzen sollen in den Modellversuch einbezogen werden, die seit Jahrzehnten zum Standard-Repertoire der Ärzte gehören, wenn sie etwas gegen Herzweh und Alterszucker, Gicht und Rheuma, Kreislaufbeschwerden und Durchblutungsstörungen, Infektionen und schwache Nerven verschreiben.
Intellektuelle Mühsal sollte der Modellversuch keinem Kassenarzt bereiten, es sei denn, er hat noch immer nicht begriffen, daß die Valium-Pillen, die er seit Jahren seinen Patienten zur Nervenberuhigung verschreibt, an wirksamer Substanz nichts anderes enthalten als ein paar Milligramm Diazepam.
Einzusparen wäre vieles. Die Herzhilfe Acetyldigoxin haben 13 Hersteller im Programm. Die Pillen wirken alle gleich, aber sie können die Krankenkassen acht Pfennig pro Stück kosten, oder auch 22 Pfennig.
Den Wirkstoff Allopurinol verarbeiten 26 Arzneimittelfirmen zu Tabletten gegen Gicht, der Wirkmechanismus ist stets derselbe. Rezeptiert der Arzt preisbewußt, kostet die Kasse eine Allopurinol-Tablette 25 Pfennig. Mißachtet er seine gesetzliche Pflicht zur »wirtschaftlichen Verordnungsweise«, muß die Kasse bis zu einer Mark pro Pille zahlen. Das Chemotherapeutikum Trimethoprim variiert im Apothekenverkaufspreis zwischen 40 Pfennig und 1,10 Mark je Pille, der Nervendämpfer Diazepam zwischen 20 und 54 Pfennig je Einzeldosis.
Was wie Pfennigfuchserei anmutet, schlägt sich in den Büchern der Krankenkassen mit Millionenbeträgen nieder. Die 100-Stück-Packung Allopurinol beispielsweise ist bereits für 24,75 Mark zu haben - sie kann aber auch, als »Zyloric« rezeptiert, 100,08 Mark kosten.
Würde insgesamt im Bundesgebiet nur bei den elf vom Sitzmann-Plan erfaßten Substanzen - nicht einmal drei Prozent aller in der Kassenpraxis eingesetzten Wirkstoffe - preisbewußt verordnet, würden die Krankenkassen pro Jahr rund 350 Millionen Mark einsparen, zum Nutzen der Beitragszahler.
Doch kaum hatte Sitzmann für seinen Plan der »Mitbestimmung des Apothekers« einhellige Zustimmung auf dem letzten »Deutschen Apothekertag« erreicht - »dieses Selbstbewußtsein braucht unser Stand«, frohlockte die »Deutsche Apotheker Zeitung« -, legten sich Bayerns Kassenärzte quer.
Hans Joachim Sewering, Chef der Kassenärztlichen Vereinigung in Bayern, lehnte es kategorisch ab, »Kompetenzen auf die Apotheker zu übertragen«. Die »Arzneimittelauswahl« sei ausschließlich »ärztlicher Auftrag«, Nichtmediziner hätten sich da nicht einzumischen. »Kassenärzte benötigen zur wirtschaftlichen Verordnungsweise keine zweite Instanz.«
Im übrigen, behauptete Sewering freiweg, »hat bisher noch keine Institution nachweisen können, daß preisgünstige Arzneimittel einer Wirkstoffgruppe genauso gut und sicher sind wie die teuersten«.
Der Berufspolitiker und Nichtpharmazeut Sewering irrt. Qualitätsvergleiche wirkstoffidentischer Arzneimittel verschiedener Hersteller gibt es längst. Sie werden regelmäßig durchgeführt. Das Zentrallaboratorium Deutscher Apotheker hat sogar den gesetzlichen Auftrag dazu.
Kassenverbandschef Sitzmann will daher »am Ball bleiben«. Er hält noch einen Trumpf in der Hand: Der Honorarvertrag für die Vergütung kassenärztlicher Leistungen läuft demnächst aus. Sitzmann: »Wenn die KV beim Kostendämpfen weiter stur bleibt, sind wir Kassen es beim Bezahlen auch, dann gibt's nicht nur keinen Pfennig mehr, dann gibt's weniger.«
Die marktwirtschaftlichste aller westeuropäischen Regierungen unter Maggie Thatcher freilich geht noch einen weit rigoroseren Weg zur Dämpfung der Pharmakosten: Die Gewinnspannen der Hersteller sind dort schon begrenzt, ebenso die Höhe des Werbeaufwands. Und vom kommenden April an sollen die Ärzte in Großbritannien für die Sozialversicherten nur noch jene Medikamente einer Gruppe verschreiben dürfen, die von der Regierung als preisgünstig anerkannt wurden.