Zur Ausgabe
Artikel 40 / 80

TÜRKEI Thema tabu

Tausende politische Gefangene in Militärgefängnissen rebellierten gewaltlos gegen unmenschliche Haftbedingungen. Sie hungerten 29 Tage lang, doch ohne Erfolg. *
aus DER SPIEGEL 34/1983

In der Türkei sollte nichts bekannt werden. Vom Reserveoffizier Irfan Ucan unterschrieben, landete in den großen Zeitungsredaktionen Istanbuls ein Amtsschreiben der Militärkommandantur: Es sei verboten, über die Situation in den Militärgefängnissen des Landes zu berichten. Verstöße würden mit der Schließung der Blätter geahndet.

Tatsächlich wurden in den vergangenen zwei Wochen die zwei größten Zeitungen des Landes auf unbefristete Zeit geschlossen: das rechtskonservative Boulevardblatt »Tercüman« (515 000 Auflage) und die angesehene liberale Zeitung »Milliyet« (200 000 Auflage). Doch deren Kolumnisten hatten den Kurs der seit September 1980 herrschenden Generäle nur milde kritisiert. Hätten sie über Gefängnisse des Landes berichtet, dann hätten sie einen wesentlich schärferen Tonfall wählen müssen.

Mit unglaublicher Brutalität haben die Militärs Anfang August in mehreren türkischen Haftanstalten einen Hungerstreik nach 29 Tagen niedergeknüppelt. Rund 2500 linke politische Gefangene in Istanbul hatten ihn am 6. Juli begonnen. Zeitweilig hungerten zwei- bis dreitausend weitere Insassen anderer Militärgefängnisse im Lande mit.

Die Gefangenen »sahen keine andere Möglichkeit, als ihr Leben einzusetzen«, heißt es in einem an erster Stelle von Heinrich Böll unterzeichneten Appell europäischer und türkischer Intellektueller, Künstler und Gewerkschafter. Den Opfern der Türken-Diktatur »blieb diese Art des Kampfes als einziges Mittel, um von der Menschheit gehört zu werden«.

Keine Delegation, seien es nun europäische Parlamentarier, Juristen, Ärzte und Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, sind trotz zahlreicher Anläufe je in so berüchtigte Anstalten wie Metris oder Sultanahmet in Istanbul, Mamak in Ankara oder in das Militärgefängnis im kurdischen Diyarbakir vorgedrungen. Alle Kenntnisse über die Situation der Häftlinge setzen sich zusammen aus Kassibern, Berichten von Anwälten, Angehörigen und Entlassenen.

21 000 politische Gefangene, die weitaus meisten davon noch Untersuchungshäftlinge, sitzen derzeit in der Türkei. Es sind in der Mehrzahl Angehörige und Sympathisanten verbotener rechtsradikaler, kommunistischer oder kurdischer Parteien und Organisationen, Mitglieder aller - bis auf eine regimetreue - verbotenen Gewerkschaften, aber auch Sozialdemokraten, linke Künstler, Literaten, Wissenschaftler, Juristen und Journalisten.

In Istanbuler Militärgefängnissen befinden sich nach Schätzungen der türkischen Anwaltskammer zu 90 Prozent »Gesinnungstäter«, überwiegend Jugendliche und junge Erwachsene. Den restlichen 10 Prozent werden Terroranschläge vorgeworfen. Um die Anerkennung als politische Gefangene ging es unter anderem, als die Istanbuler Häftlinge den Hungerstreik ausriefen. Außerdem wollten sie auf die unmenschlichen Haftbedingungen aufmerksam machen.

Auslöser für den Streik war, daß Anfang Juli die Gefängnisverwaltungen damit begannen, den Untersuchungs-Häftlingen alle Privatkleidung abzunehmen. Sie mußten eine Einheitskluft anziehen, an der jeweils eine Art Steckbrief hing: Name und Photo des Inhaftierten, die Höhe der vom Militärstaatsanwalt beantragten Strafe _(Die Strafanträge werden bei türkischen ) _(Militärprozessen vor Eintritt in die ) _(Beweisaufnahme gestellt. )

sowie die Bezeichnung »Terrorist«.

Gegen Sträflingskleidung und die Vorab-Verurteilung richtete sich der Streik zunächst. Doch die Militärs blieben hart. Häftlingen, denen die Privatgarderobe bereits abgenommen war, blieb allein ihre Unterwäsche oder der Schlafanzug. Und auch in allen anderen Forderungen führte der 29tägige Hungerstreik zu nichts. Zumal die Folter ging weiter.

An ihren Folgen sind nach Angaben von Amnesty International seit Antritt der Militärs über 70 Häftlinge gestorben. Aus Angst vor Folter, für die sich dann keine Zellengenossen als Zeugen mehr finden lassen, wehren sich die Gefangenen auch gegen die Einzelzellen in neuen Gefängnissen, von denen das Regime allein in diesem Jahr noch 38 bauen will.

Da der Besitz von Schreibzeug verboten ist, gibt es keine schriftliche Kommunikation zwischen Häftling und Anwalt. Die Sprechzeit eines Verteidigers mit allen seinen Mandanten in einem Gefängnis - das können Dutzende sein - beträgt zweimal pro Woche 20 Minuten.

Besuche der Familienmitglieder (nur ersten Grades) dürfen sogar nur zehn Minuten pro Woche dauern. In Metris sitzen sich Besucher und Häftlinge durch eine Glasscheibe getrennt gegenüber und verständigen sich über eine Telephonleitung, die abgehört wird und jederzeit per Knopfdruck unterbrochen werden kann.

Das Gefängnisessen ist karg und mit Steinen und Bindfäden von Kartoffelsäcken versetzt. Ohne Zusatznahrung, die von Familienangehörigen gebracht wird, könnten die Gefangenen nicht überleben. Allerdings darf die Notspeisung nicht vom heimischen Herd stammen, sondern muß zu überhöhten Preisen in eigens eingerichteten Gefängniskantinen gekauft werden.

Wer keine oder nur mittellose Verwandte hat und auf das Gefängnisessen angewiesen ist, läuft neben der Gefahr der Unterernährung ein weiteres Risiko:

Eine entlassene Wissenschaftlerin berichtete, daß bei vielen ihrer weiblichen Mitgefangenen nach längerer Haft die Kopfhaare ausgefallen seien und sich Haarwuchs auf der Brust eingestellt habe, daß überdies die Monatsregel, in einem Fall zwei Jahre lang, ausgeblieben sei.

Das Phänomen ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß die Frauen und Mädchen dieselbe Kost bekommen wie die Männer - vermischt mit Anti-Androgenen.

Das sind seit etwa zehn Jahren von der Pharmaindustrie angebotene triebdämpfende Mittel. Was früher bei Insassen von Gefängnissen das Hausmittel Soda bewirken sollte, dafür sorgen diese relativ preiswerten Medikamente heutzutage perfekt: Sie killen Libido und Potenz, die Fachwelt spricht von »hormonaler Kastration«.

Frauenärztinnen stehen in den Gefängnissen nicht zur Verfügung, und bei den Ärzten handelt es sich meist um wehrpflichtige Soldaten, die nach dem medizinischen Examen und vier Monaten militärischer Grundausbildung bar jeder Berufserfahrung in die Gefängnisse abkommandiert werden. Sie stehen »zu 99 Prozent auf seiten des Militärregimes«, so ein Angehöriger eines Häftlings.

Das zeigte sich in den letzten Tagen des Hungerstreiks. Kaum einem Häftling wurde ärztliche Hilfe zuteil.

Die Streikenden hatten im Schnitt 20 bis 25 Kilogramm abgenommen. Um ihren physischen Zusammenbruch zu beschleunigen, hatten die Gefängnisleitungen öfter die Wasserversorgung gekappt.

Ein Teil der auf den Tod erschöpften Gefangenen soll in Isolierzellen geschleppt und Elektroschocks, Prügel und der Bastonade ausgesetzt worden sein. Ihre Schmerzensschreie jedenfalls wurden zur Abschreckung über Lautsprecher im ganzen Gefängnis verbreitet und drangen auch vor die Tore der Anstalten, wo Angehörige warteten.

Blutende und bewußtlose Häftlinge, so der Bericht von Verwandten, seien durch die Zellen der Hungerstreiker geschleppt worden, und die Wärter hätten eines klargemacht: Sie könnten wählen zwischen Tod oder Abbruch der Aktion.

Sie entschieden sich am 4. August für den Abbruch. Ungewiß ist, ob es, wie die BBC meldete, Tote gegeben hat. Unbekannt ist, ob Abdullah Bastürk, der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes Disk, den Hungerstreik überlebt hat oder auch der Ökonomie-Professor Yalcin Kücük, der für seine Arbeit »Auf dem Weg zu einer neuen Republik« zu acht Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Bastürk ist wegen eines Protests gegen die Behandlung der Hungernden in einer Einzelzelle verschwunden, Kücük mit Herz- und Kreislaufkollaps vorübergehend in ein Militärkrankenhaus eingeliefert worden.

Im Gegensatz zum Hungerstreik der türkischen Häftlinge bewirkten Solidaritätsaktionen in Westeuropa - befristete Hungerstreiks, Mahnwachen, Flugblattaktionen - zumindest eines: Drei Delegationen, zusammengesetzt aus Ärzten und Juristen, machten sich in der vorletzten und letzten Woche im Auftrag von Parteien und humanitären Organisationen auf den Weg, um abermals herauszufinden, wie es beim Nato-Partner und Europaratsmitglied Türkei um die Einhaltung der Menschenrechtskonvention bestellt sei.

Die Militärgefängnisse blieben ihnen, wie zu erwarten, verschlossen. Im deutschen Generalkonsulat in Istanbul mußten sich zwei deutsche Anwälte, ein Pastor und ein österreichischer Völkerrechtler von Diplomaten belehren lassen, die Prügelstrafe habe eine lange Tradition in der Türkei, man dürfe das nicht »mit deutschen Augen« sehen.

Ständig beschattet von Geheimdienstagenten, gelangte der von den österreichischen Sozialisten entsandte Wiener Anwalt Gabriel Lansky zusammen mit einem deutschen Kollegen und einem Arzt immerhin an einen hohen Beamten im Justizministerium in Ankara. Lansky: »Das Thema Hungerstreik war tabu.«

Ein Mitglied des Polizeipräsidiums in Istanbul schließlich verschreckte die Menschenrechtler gar mit vollendeter Demagogie.

Befragt, wie der Widerstand besonders verschwiegener Häftlinge, über die er sich gerade beklagt hatte, gebrochen werde, sagte der Polizist: »Diese Frage haben Sie auch nicht in Deutschland gestellt, als Mitglieder der Baader-Meinhof-Bande im Stammheimer Gefängnis tot aufgefunden wurden.«

Die Strafanträge werden bei türkischen Militärprozessen vor Eintrittin die Beweisaufnahme gestellt.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 40 / 80
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren