Ministerpräsidentenwahl in Thüringen: "Dass Höcke antritt, ist ein Zeichen"

Wir haben mit jungen Menschen aus der Zivilgesellschaft über die politische Lage in Thüringen gesprochen.
Foto: Bodo Schackow/dpa

Dieser Beitrag wurde am 04.03.2020 auf bento.de veröffentlicht.

Am 27. Oktober 2019 fanden Landtagswahlen in Thüringen statt. Seitdem regiert dort hauptsächlich das Chaos. Als Anfang Februar der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, schlitterte das Land in die Regierungskrise. Bundesweite Proteste waren die Folge, die gemeinsame Abstimmung von bürgerlich und stramm rechts wurde von vielen als "Dammbruch" bezeichnet. (SPIEGEL)

Wie blicken junge Menschen aus der Thüringer Zivilgesellschaft auf die Krise? Was hat sich ihrer Ansicht nach durch den "Dammbruch" verändert? Und was wünschen sie sich für Thüringens Zukunft?

Wir haben mit jungen Menschen gesprochen, die sich in Thüringen engagieren. 

Sascha*, 22, engagiert sich in einem linken Ladenprojekt und einer feministische Gruppe in Erfurt.

Als ich von der Wahl Kemmerichs erfahren hab, saß ich in der Bibliothek. Ich war geschockt, konnte mich nicht mehr konzentrieren. Ich war dann bei der Demo, die spontan in Erfurt gestartet wurde. Ich habe von CDU und FDP nicht viel erwartet, aber das hat mich doch überrascht. Es hat gezeigt, dass der Hass auf Linke bei manchen offenbar größer ist als die Ablehnung von Nazis.

Die nächsten Wochen waren für mich und mein Umfeld aufreibend, ständig Demos, wenig Zeit zu verschnaufen.

Ich denke, dass die Wahl Kemmerichs nachhaltig etwas verändert hat. Es wurde klar, dass wir uns im Kampf gegen Rechtsradikalismus nicht auf Bürgerliche und Konservative verlassen können. Auf der anderen Seite glaube ich, dass das linke Lager dadurch enger zusammengerückt ist und einige Gräben zugeschüttet wurden. Ein breites Bündnis von der Antifa bis zur Kirche war gemeinsam auf der Straße.  Ich hoffe, dass wir diese Kräfte weiter bündeln können.

André, 27, Referent für Pflanzenbau und Umwelt beim Thüringer Bauernverband

Als Kemmerich gewählt wurde, ist mir alles aus dem Gesicht gefallen. Die Situation seitdem ist desaströs. Das Land ist führungslos. Wir Landwirte brauchen Verlässlichkeit und langfristige Regelungen, auf die wir uns einstellen können.

Ich bin konservativ, aber auch weltoffen. Die AfD lehne ich ab. Ich fahre jeden Tag am Glockenturm der KZ-Gedenkstätte Buchenwald vorbei. Wenn ich dann den Höcke reden hören, stellen sich mir die Nackenhaare auf.

Ich als CDU-Sympathisant wäre zufrieden gewesen, wenn Linke und CDU koaliert hätten, mit Ramelow als Ministerpräsident. Die Linke in Thüringen ist nicht radikal, das ist eigentlich die neue SPD. Derartige Bestrebungen gab es ja auch, aber die Bundespartei hat unnötigerweise dazwischen gegrätscht. Seitdem geht es nur noch um die Parteien, nicht mehr um Thüringen.

Eine gute Sache hatten die Ereignisse rund um die Kemmerich-Wahl: CDU und FDP sind in eine Krise geschlittert, beide haben bei der Wahl in Hamburg klar verloren. Das hat gezeigt, dass es nicht einfach hingenommen wird, wenn Parteien mit der AfD zusammen einen Ministerpräsidenten wählen.

Ich komme aus Brasilien und wohne seit sechs Jahren in Thüringen. Ich habe das Gefühl, dass die deutsche Gesellschaft in den letzten Jahren in einer Komfortzone steckte. Es ist alles in Ordnung, dann wählen wir halt weiter CDU.

Aber wir erleben gerade weltweit Krisen, die diese Bequemlichkeit nicht mehr erlauben. Hetzer wie Trump und Bolsonaro gewinnen Wahlen. Wir müssen mehr Haltung zeigen! Der Pädagoge Paulo Freire hat einmal gesagt: "Wer sich aus dem Kampf zwischen Mächtigen und Machtlosen heraushält, ist nicht neutral, sondern schlägt sich auf die Seite der Mächtigen."

In den letzten Wochen wird in meinem Umfeld mehr über Politik geredet. Ich habe die Hoffnung, dass Deutschland nicht den gleichen Weg einschlägt wie Brasilien. Dafür muss die Politik raus aus der Komfortzone und Armut bekämpfen, für soziale Gerechtigkeit sorgen.

Jessica, 29, Jugendbildungsreferentin, DGB-Jugend Thüringen

Am Abend nach der Kemmerich-Wahl war ich bei einer Kundgebung in Erfurt und habe protestiert. Es hat mich beeindruckt, wie viele Menschen da waren. Es herrschte viel Wut, viel Enttäuschung, aber irgendwie auch Kraft.

Wir vom DBG haben innerhalb einer Woche die Großkundgebung vom 15.2. auf die Beine gestellt. Als durchgesagt wurde, dass wir 18.000 Menschen sind, hatten ich Gänsehaut und Tränen in den Augen. Und der Druck, der von der Straße ausging, hat ja auch Wirkung gezeigt. Ohne die starken Proteste wäre Kemmerich nicht zurückgetreten.

Trotzdem bin ich immer noch entsetzt über den Tabubruch, der passiert ist. Dass Höcke jetzt als Ministerpräsident antritt, ist für mich schon ein Zeichen, dass sich etwas verändert hat. Das ist eine klare Provokation. Vorher haben sie noch einen Noname aufgestellt. Und jetzt Höcke – einen Faschisten. 

Susanne, 29, Sozialarbeiterin bei Refugio, psychosoziales Zentrum für Geflüchtete

Die derzeitige Situation erschwert unsere Arbeit. Die Landesregierung ist unser Hauptgeldgeber, wir sind massiv von ihr abhängig. Die Zukunft des Zentrums und damit auch die psychosoziale Versorgung der Menschen, die wir betreuen, ist davon abhängig, wer Thüringen regiert. Der Haushalt für 2020 ist gesichert, aber es muss zeitnah darüber gesprochen werden, wie es danach weitergeht.

Aber auch darüber hinaus ist es für Geflüchtete enorm wichtig, eine Landesregierung zu haben, die ihre Rechte verteidigt, sich für sie einsetzt. Auf Bundesebene wurde das Asylrecht in den letzten Jahren ständig verschärft, auf Landesebene gibt es aber Spielraum, die Situation für die Menschen zumindest punktuell zu verbessern.

Der rechtsradikale Anschlag in Hanau hat die Situation für viele Geflüchtete zudem dramatisch zugespitzt, viele haben noch mehr Angst als zuvor. Auch hier hat man meiner Meinung nach gemerkt, dass eine Regierung fehlt, die sich positioniert, die konkrete Maßnahmen ergreift. Ich wünsche mir, dass Bodo Ramelow gewählt wird, damit es weitergehen kann – ohne die AfD.

*Name geändert. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt

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