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POLEN Tiefe Narben

Trotz neuer Ostblockhilfen kommt General Jaruzelski mit der Wirtschaft nicht zurecht. Und Zustimmung bei der Volksmehrheit findet er gleichfalls nicht.
aus DER SPIEGEL 2/1982

In seiner Neujahrsansprache hatte Staatspräsident Jablonski Volk, Parteien, Gewerkschaften und Kirche zur nationalen Verständigung und zum Aufbruch in eine bessere Zukunft eingeladen: »In Polen ist für alle Platz.«

Ganz wörtlich war das wohl nicht gemeint. Denn vier Tage später sondierte Kriegsherr General Jaruzelski bei einem Empfang für die Botschafter der zehn EG-Staaten, ob der Westen bereit sei, Dissidenten und Gewerkschaftsführer, die noch immer in den Isolierungslagern festsitzen, bei sich aufzunehmen.

Nach heftiger Reaktion im Westen (Belgiens AA-Chef Tindemans: »Eine grausame Frage") beeilte sich die Warschauer Führung zu dementieren, daß sie die Absicht habe, politische Gegner über die Grenze abzuschieben.

Aber dementiert hat im Jahr 1977 auch der CSSR-Präsident Husak seinen Versuch, die Unterzeichner der Prager Bürgerrechtsakte »Charta 77« im geheimen Handel mit Österreichs Kanzler Kreisky in einem Schub an die Wiener loszuwerden. Gekommen sind sie - wenn auch einzeln - später dann doch.

Jaruzelskis Rückgriff auf derartige Praktiken zeigt, daß Warschauer Militärs auch nach der vierten Woche ihrer Herrschaft die Lage im Land noch nicht voll unter Kontrolle haben.

Was trotz der von ihnen verhängten Nachrichtensperre immer deutlicher wird: Jaruzelski ist mit seiner Absicht gescheitert, durch den Schock des Putsches vom 13. Dezember die zerstrittenen Lager zum Konsens für seine nationale Rettungsaktion zu zwingen. Die Rechnung des Generals, das Kriegsrecht möglichst noch vor Jahreswende durch eine politische Lösung auf breitester Basis abzulösen und unter dem militärischen Schild von Law and Order zur disziplinierten Tagesordnung überzugehen, ging nicht auf.

So bleibt dem General - in der Logik der Militärs - nur der Weg, seinen Willen mit Härte durchzusetzen. Wie in der Verkündung des Kriegsrechts schon angedroht, überzieht eine Welle von Abschreckungs-Prozessen das Land. Bis vorigen Donnerstag wurden 428 Polen, überwiegend Mitglieder der Gewerkschaft »Solidarität«, wegen Streikvorbereitung, Flugblattverteilung oder »Aktivitäten in einer verbotenen Organisation« zu Gefängnisstrafen verurteilt. Berufung gibt es gegen diese Urteile nicht.

Mit der Prozeßlawine haben die Militärs, so scheint es, zwar den letzten S.87 aktiven Widerstand der Arbeiter in den Betrieben gebrochen; die Bereitschaft zu produzieren aber nicht so sonderlich erhöht: Selbst Behörden, die mit den Militärs eng zusammenarbeiten, mußten vorige Woche zugeben, daß um die Jahreswende in »mindestens 20 Großbetrieben nicht normal« gearbeitet wurde. Die gesamte Industrie läuft - hauptsächlich bedingt durch den Ausfall von Rohmaterial und Ersatzteilen - zu höchstens 60 bis 70 Prozent.

Trotz des vorsichtigen Optimismus von Radio Warschau: »Die Arbeit vollzieht sich in vielen Betrieben rhythmisch« häufen sich Berichte über Massen-Krankmeldungen und passiven Widerstand. Die Betriebsdirektoren und Manager beschweren sich darüber, daß sie ihre Aufgaben mit noch immer gesperrten Telephonen und Fernschreibern nicht erfüllen können.

Damit ist in Gefahr geraten, was General Jaruzelski als seine »wichtigste Pflicht« bezeichnet hatte: die Sanierung der polnischen Wirtschaft.

Von der ursprünglich auf den Jahresbeginn angesetzten Wirtschaftsreform ist ohnehin nur ein Torso übriggeblieben. Die bis zuletzt zwischen der »Solidarität« und der Regierung umstrittene Form der Arbeiter-Selbstverwaltung wurde völlig aus dem Programm gestrichen. Zwar ist die Wirtschaftslenkung wie versprochen inzwischen weitgehend dezentralisiert. Die meisten Betriebe haben mehr Selbständigkeit bekommen, müssen sich in Zukunft aber auch selbst finanzieren.

Den Weg dazu sieht das Militärregime in kostendeckenden Preisen. Bei den bisher üblichen hohen Staatssubventionen für Konsumgüter müßten sich deren Preise mehr als verdoppeln - für die polnische Bevölkerung, ihrer kleinen Freiheiten durch das Militär beraubt, eine weitere Zumutung.

In einem Dekret, das erneute Preiserhöhungen für Mitte Januar ankündigt, hat die Regierung ihre Absicht erst einmal »zur Diskussion gestellt«. Um übermäßige Härten zu vermeiden, sei sie bereit, für die unteren Einkommensschichten »Kompensationen«, also staatliche Unterstützung, zur Verfügung zu stellen.

Wie sich die zum Teil von jeder Preisbindung befreiten Preise auf einen Binnenmarkt auswirken, der ja nicht nur an Block-üblicher Mangelwirtschaft sondern unter totaler Auszehrung leidet, ist vorerst nicht abzusehen.

»Es ist, als ob ein Kurpfuscher einen Todkranken, der an Lungenentzündung leidet, nachts in den Schnee legt, weil frische Luft gesund sei« - so ein polnischer Wirtschaftsexperte im westlichen Exil.

Auch die drastische Abwertung des Zloty gegenüber den Westwährungen um rund 56 Prozent kommt nach Meinung vieler Experten für die polnischen Export-Betriebe zu abrupt und zu früh. Gleichwohl verkündete der Chef der staatlichen Preiskommission, Krasinski: »1983 wird es in Polen wieder volle Regale geben«.

Vorerst freilich ist das ein schöner Traum. Wenn in den polnischen Regalen überhaupt noch etwas zu finden ist, dann stammen die Waren aus dem Westen oder von den sozialistischen Brudervölkern, die auf Befehl Moskaus das bettelarme Polen seit dem Putsch wieder mit Konsumwaren unterstützen müssen. Sogar die ferne Mongolei ist mit 2000 Tonnen Rinder- und Hammelfleisch dabei.

Auch China, das lange Zeit das Wirken der »Solidarität« mit wohlwollenden Kommentaren bedacht hatte, begrüßte nun das Vorgehen der Generäle; wohl aus der Sorge, daß das antiautoritäre Beispiel der polnischen Gewerkschaft im eigenen Lande Schule macht. In einer Botschaft an das Militärregime versprach Peking zusätzliche Lieferungen von Schweinefleisch.

Die Sowjet-Union, spürbar erleichtert, die Drecksarbeit der erzwungenen Disziplinierung den polnischen Militärs überlassen zu können, war vorige Woche zur weiteren Stundung der polnischen Schulden bereit. Zudem ließen sich die Sowjets das Ende der gefährlichen Gewerkschaft »Solidarität« einen neuen Polenkredit in Höhe von rund acht Milliarden Mark kosten.

Tausende von Polen, vor allem junge Arbeitskräfte, wandern auch wieder als Gastarbeiter in die benachbarte DDR, deren Grenzen seit März 1981 für den östlichen Nachbarn verschlossen waren. In Krakau startete Anfang voriger Woche ein Sonderzug, der polnische Bauarbeiter nach Guben brachte.

Junta-Chef Jaruzelski scheint zu wissen, daß die Zeit gegen ihn arbeitet und er schnellstens, wenn auch nur zum Schein, eine politische Lösung finden muß, die es ihm erlaubt, das Kriegsrecht wiederaufzuheben.

Der von ihm eingesetzte »Militärrat der Nationalen Rettung« besteht zwar noch immer, die faktische Macht in Polen aber wird seit Jahresbeginn von acht Männern, vier Militärs und vier Zivilisten, ausgeübt:

* General Wojciech Jaruzelski, 58, gleichzeitig Partei- und Regierungschef; Generalmajor Michal Janiszewski, 55, Geschäftsführer des Ministerrats; Generaloberst Florian Siwicki, 56, Generalstabschef und Kandidat des Politbüros; Generalleutnant Czeslaw Kiszczak, 56, Innenminister und ehemaliger Chef des militärischen Abwehrdienstes;

* Politbüro-Mitglied Stefan Olszowski, 50, Anführer des orthodoxen Parteiflügels und seit längerem als künftiger S.88 Parteichef im Gespräch; Politbüro-Mitglied Kazimierz Barcikowski, 54, Anführer des liberalen Parteiflügels und Autor des Programms für die Parteireform; Mieczyslaw Rakowski, 55, Vizepremier, ZK-Mitglied und Verhandlungs-Experte mit der »Solidarität«; der bisher farblose Wirtschaftsexperte Janusz Obdowski, 51. Als Vizepremier ist er zuständig für die Finanzen und den Außenhandel. Obdowski war bereits Minister für Arbeit.

Zwei der Militärs im Krisen-Management, das sich »Direktorium« nennt, haben spezielle Erfahrungen im Niederschlagen von Revolutionen: General Siwicki führte die polnischen Einheiten, die 1968 in die CSSR einmarschierten, General Kiszczak war als Verantwortlicher 1970 beim blutigen Militäreinsatz gegen die Arbeiterunruhen in Danzig dabei.

Die Partei, deren Chef Jaruzelski ist, spielt bei der Lösung der polnischen Probleme auch weiterhin keine Rolle. In allen Woiwodschaften wird sie derzeit von »unzuverlässigen« Mitgliedern - meist liberalen - gesäubert, fast 100 Spitzenbeamte, darunter fünf Woiwoden und zwei Bürgermeister, verloren ihre Ämter, weil sie »mit den neuen Aufgaben des Kriegsrechts nicht fertig geworden sind«.

Weit mehr Genossen haben die Partei seit der Junta-Herrschaft aus Protest verlassen, so der Publizist Jagiello, Vize-Chef der Kulturabteilung im ZK, und der gesamte Redaktionsstab der Wochenzeitung »Kultura«. In Bromberg haben enttäuschte Genossen nachts einen Sarg vor das Parteihaus gestellt, bis oben angefüllt mit zerfetzten Parteiausweisen.

Vieles spricht dafür, daß Jaruzelski die mit der Katastrophe belastete, schwer diskreditierte Partei ähnlich wie Janos Kadar nach dem ungarischen Volksaufstand von 1956 auflösen und eine neue Partei unter anderem Namen gründen will.

Die Basis dafür soll offensichtlich die vom Direktorium angeordnete Gründung örtlicher »Komitees zur Nationalen Rettung der Nation« schaffen; auch ehemalige Mitglieder der »Solidarität« wurden aufgefordert, ihm beizutreten. Doch bisher haben sich Gewerkschafter in größerer Zahl nicht bekehren lassen.

Bei seinen Bemühungen, mit dem noch immer in der Nähe von Warschau unter Hausarrest gestellten Arbeiterführer Walesa zu Verhandlungen zu kommen, hat Vizepremier Rakowski auch mit den Warschauer Rechtsanwälten Sila-Nowicki und Jan Olszewski Gespräche geführt.

Beide Juristen hatten nach den Arbeiteraufständen in Radom streikende Arbeiter vor Gericht verteidigt und gehörten zum Beraterstab der »Solidarität«. Doch Walesa machte immer noch zur Bedingung, daß die gesamte inhaftierte Führung der »Solidarität« freigelassen und das polnische Episkopat an den Gesprächen beteiligt werde.

Aber auch die polnische Kirche, vor allem ihr Primas, Erzbischof Glemp, schien nicht mehr, wie noch vor dem 13. Dezember, bereit, den Dialog mit Jaruzelski wiederaufzunehmen. Die Kirche verlangte, daß zuvor das Kriegsrecht falle und wollte sich vorerst auf die Rolle des Vermittlers zwischen den Militärs und der »Solidarität« beschränken.

Der Primas hat nach einem Besuch bei Internierten in einem Warschauer Frauengefängnis in seiner Predigt am Dreikönigstag erneut das Kriegsrecht verurteilt: »Wir möchten nicht gerne eine Gesellschaft sehen, die geteilt ist in die Führung, die befiehlt und zwingt, und die Untergebenen, die im Haß schweigen müssen.«

Mit wem aus der Gewerkschaft also die Militärjunta angeblich in der vorigen Woche Gespräche geführt hat - wie vom Militärsprecher Hauptmann Gornicki bei einem Besuch in Kopenhagen verkündet - ist unbekannt; Gornicki wollte Namen nicht nennen.

Bekannt ist, daß bei Verhandlungen mit der Junta über Wirtschaftsfragen mindestens dreimal der Gewerkschafter Stanislaw Rusinek dabei war, Mitglied des Präsidiums der »Solidarität« in der Warschauer Region. Als Kollaborateur trat im polnischen Rundfunk »Solidaritäts«-Funktionär Marek Burski aus Lodz auf, der sich als ehemaliger Streikkommissar vorstellte und die Arbeiter zur Zusammenarbeit mit dem Militär aufrief.

Prominenter ist die Liste der »Solidaritätsführer«, die sich aus dem Untergrund meldeten und in Flugblättern Mitte voriger Woche zur Vorbereitung eines Generalstreiks aufriefen.

Zu den Untergetauchten gehören der »Solidaritäts«-Chef der Warschauer Region, Zbigniew Bujak, der Gewerkschaftsführer der »Ursus«-Werke, Zbigniew Janas, und der Streikführer auf der Danziger Leninwerft und engster Walesa-Mitarbeiter Bogdan Lis.

Daß der Kampf der »Solidarität« nach Meinung vieler Polen noch nicht zu Ende ist, ließ in einem Kommentar sogar »Radio Polonia« über die Auswirkung des Kriegsrechts durchblicken: »Das mußte tiefe Narben in der menschlichen Psyche hinterlassen, die sich nicht wie Schweißperlen abwischen lassen. Haben wir es mit einer heilbaren Krankheit zu tun - oder nicht?«

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