ITALIEN / GESELLSCHAFT Tiefer Graben
Im reichsten Land am Mittelmeer herrschte Rebellion: Arbeiter streikten, Studenten demonstrierten, Bauern bauten Barrikaden.
Italien, in wenigen Jahren zum Wirtschaftsriesen Südeuropas aufgestiegen, war fast vier Wochen lang ohne Regierung. Das Miracolo Economico drohte zusammenzubrechen.
Dann konnte Christdemokrat Mariano Rumor, 53, sein neues Kabinett vorstellen: die stärkste Regierung, die es je gab -- 83 Minister und Staatssekretäre.
Die Stärke zeigte die erste Schwäche des neuen Premiers: Der langjährige Parteisekretär Rumor hatte insgesamt 13 verschiedene Interessengruppen innerhalb der Christdemokraten, Sozialisten und Republikaner zu einer regierungsfähigen Mitte-Links-Koalition zusammenbringen müssen.
»Der Augenblick ist ernst«, warnte der neue Ministerpräsident am vorletzten Montag, als er sein Kabinett im Senat präsentierte. »Komplexe und schwierige Probleme verlangen dringend nach einer Lösung.«
Noch nie waren Reformen so notwendig, noch nie war die italienische Republik in eine derartige Krise geraten. Vor vier Wochen streikten zwölf Millionen Arbeiter im ganzen Land. Vor drei Wochen lähmte ein Generalstreik die Provinz Latium und die Hauptstadt Rom. Vor zwei Wochen riefen die Gewerkschaften jeden Tag in einer anderen Provinz zum Generalstreik auf: in Kalabrien, auf Sardinien, auf Sizilien, in Apulien und in der Toskana.
Überall im Land besetzten Studenten ihre Universitäten, Schüler ihre Schulen. Zusammen mit Arbeitern demonstrierten sie für Hochschulreformen und soziale Gerechtigkeit.
»Um die Wahrheit zu sagen«, gestand Pietro Bassetti, Chef einer Textilfabrik, »das Wirtschaftswunder beruht auf dem Mißverhältnis zwischen der Produktivität und den Löhnen.«
Denn der italienische Wirtschaftsriese ist zu schnell gewachsen: In keinem Land der Welt stiegen die Goldreserven so schnell wie auf der Apenninenhalbinsel, und nur Japan hatte im vergangenen Jahr eine höhere wirtschaftliche Zuwachsrate. Doch weite Teile des Landes blieben dabei zurück.
Das Gefälle zwischen Armut und Wohlstand glich sich nicht aus -- wie etwa in der Bundesrepublik -, es wurde größer.
Zwar investierte der Staat Milliarden-Beträge in die unterentwickelten Südprovinzen des Mezzogiorno -- das Pro-Kopf-Einkommen stieg seit 1951 um 86,1 Prozent auf 2686 Mark im Jahr. Doch im hochentwickelten Norden -- allein im Dreieck Turin-Genua-Mailand ist die Hälfte der gesamten Industrieproduktion Italiens konzentriert -- wuchs das Pro-Kopf-Einkommen im selben Zeitraum um 101 Prozent auf 5050 Mark.
Ein einfacher Landarbeiter verdient nur etwa 15 Mark pro Tag. In der Landwirtschaft aber arbeiten mehr als ein Viertel aller Beschäftigten Italiens -- mehr als in jedem anderen Land der EWG. Allein im Mezzogiorno liegen 3,5 Millionen Gehöfte mit Anbauflächen von zehn Hektar und weniger. Unmut und Unruhe führten zur Massenabwanderung, vor allem in die Fabriken des Nordens.
Schatzminister Colombo: »Falls das Wachstum im Süden weiter unter dem Landesdurchschnitt bleibt, ist eine Binnenwanderung von zwei Millionen Arbeitern zu erwarten.«
Die Städte im Norden können den Zuzug der ungelernten Süditaliener (im vergangenen Jahr 300 000) nicht mehr verkraften.
Hinzu kommt, daß die Arbeitslosigkeit durch Firmen-Konzentration und Rationalisierung allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres um 12,6 Prozent stieg. 658 000 Italiener gehen heute stempeln, fast vier Millionen sind unterbeschäftigt. Bis 1980 werden insgesamt 3,5 Millionen Italiener Arbeit suchen, zwei Drittel von ihnen stammen aus dem Süden.
Um schon angekündigte Entlassungen zu verhindern, hielten Arbeiter in der Provinz Ferrara länger als drei Wochen vier Zuckerfabriken besetzt. Selbst der sonst konservative Klerus erklärte sich mit den Besatzern solidarisch: In acht Nachbarstädten läuteten stündlich die Kirchenglocken.
Auch Italiens Studenten fühlten sich vom Miracolo übergangen. In den letzten hundert Jahren verzehnfachte sich ihre Anzahl. Doch im selben Zeitraum wurden nur zwölf neue Universitäten gegründet. Die Universität von Rom, die Mussolini einst für 20 000 Studenten ausbauen ließ, erhielt seither keinen neuen Hörsaal. Heute aber drängen sich dort 70 000 Studenten.
Während des Wahlkampfes im Mai hatten die damaligen Koalitionspartner der Mitte-Links-Regierung die Arbeiter und Studenten mit Reformversprechen umworben. Doch nach den Wahlen gingen die Sozialisten in die Opposition; die christdemokratische Minderheitsregierung des Ministerpräsidenten Leone war nicht in der Lage, die Wahlversprechen einzulösen.
Wenige Tage nach dem ersten großen Streik, nach Besetzung von Schulen und Universitäten, bat er Staatspräsident Saragat um Demission. 23 Tage lang verhandelten die alten Koalitionspartner, dann brachte sie eine neue Mitte-Links-Regierung zusammen. Vordringliche Punkte des linken Koalitionsprogramms:
* Reform der Renten- und Steuergesetzgebung,
* Reform des Genossenschaftswesens und der an »zentralistischer Elephantiasis« leidenden staatlichen Verwaltung,
* Mitbestimmung für Arbeiter, Studenten und Schüler, Dezentralisierung und Demokratisierung der Ausbildungsstätten.
Denn, so erklärte Italiens neuer Regierungschef, die allgemeine Unruhe lasse einen tiefen Graben zwischen den politischen Parteien und dem Volk entstehen.
Er ist bereits da. Italiens Gewerkschaftler, durch die Erfahrungen des Sommers skeptisch geworden, kündigten neue Streiks an.