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Tiefflieger: »Beinahe wie im Krieg«

Fluglärm belästigt bis zur Schmerzgrenze Kinder, die entsetzt zu ihren Müttern flüchten; Hausfrauen, die vor Schreck den Kochtopf fallen lassen; Kranke, deren Herzschlag außer Takt gerät - der Lärm der Tiefflieger ist in der Bundesrepublik zu einer Landplage geworden. Das Getöse stammt von Militärmaschinen, die im »Rasierflug« über das flache Land dahinfegen. *
aus DER SPIEGEL 34/1984

Die bayrische Landespolizei ermittelte »erhebliche Schäden« im Raum südwestlich von Ansbach in Mittelfranken: abgedeckte Dächer, geborstene Fenster, zersplittertes Glas.

Doch kein Orkan war über das Land gefegt, keine Bombe hochgegangen. Alltägliches war geschehen. Ein Jagdbomber der Luftstreitkräfte hatte die Gegend überquert, im Tiefflug.

Sie fallen über der Bundesrepublik aus allen Wolken, Alpha Jets und Starfighter, Tornado und »Phantom« - und manchmal auch herunter, wie Ende Mai bei Linz. Eine einstrahlige F-16, »Fighting Falcon«, stürzte auf den Ort am Rhein, der Pilot und eine Einwohnerin kamen ums Leben.

Mitte Juli raste ein deutscher Starfighter bei Stade an der Unterelbe in ein Wohnhaus, zwei Bewohner starben. Drei Tage später kollidierte, nur ein paar Kilometer weiter, bei Rotenburg an der Wümme ein britischer Überschalljäger vom Typ »Lightning« mit einem 35 Meter hohen Strommast, auch der Schleudersitz konnte den Piloten nicht mehr retten.

So tief fliegen sie mitunter, daß die Piloten von »Rasierflug« reden. Von den Großstädten abgesehen, die sie aussparen müssen, ist kein Landstrich vor ihrem Heulen, Kreischen, Brüllen sicher - »hochfrequente, unangenehme Töne«, wie das Bonner Verteidigungsministerium zugibt.

Kündigt sich das Getöse aus der Ferne an, läßt das Kind Anne, 2, in Hasbergen bei Osnabrück die Bauklötze fallen, kriecht unter den Tisch und legt, Schutz suchend, die Arme über den Kopf.

Renate Kelb, nördlich davon in Quakenbrück zu Hause, hat »eine große Rasenfläche für die Kinder zum Spielen. Aber wenn die Flugzeuge darüberrasen, läuft mein Jüngster schreiend zu mir, und es fliegen sagenhaft viele hier rüber«.

In Aslage, dieselbe Gegend, verzeichnet das Fluglärmprotokoll eines einzigen Tages »Überflüge« um 10.10, 10.12, 10.13, 10.14, 10.16, 10.20, 10.21, 10.24, 10.25, 10.26, 10.32, 10.35, 10.37, 10.40, 10.48, 10.50, 10.53, 10.54, 10.57 Uhr und so fort bis zum Abend.

»Dieser Tag«, notierte Helga Gotzen auf ihrem Gehöft im Artland bei Bersenbrück in Niedersachsen, »brachte gut zehn Stunden fast ununterbrochenen Fluglärms.« Aus ihren Aufzeichnungen: »Tiefstflieger, daß man sogar drinnen im Haus alles fallen läßt« - »Durch tieffliegende Maschinen gegen 23 Uhr aus dem Schlaf gejagt« - »Im Garten schnell die Handschaufel und die dicken Bohnen weggeworfen, um mir die Ohren zuzuhalten.«

Das tun die Leute landauf, landab. Würde ein Computer auf eine Deutschlandkarte zeichnen, wo überall die Militärmaschinen an nur einem einzigen Tag fliegen, dann wäre, hat ein Luftwaffenpilot gesagt, »die Karte schwarz«.

In Schulen, die ständig überflogen werden, herrschen »unerträgliche Lernbedingungen«, so der Schulelternrat von Oestringfelde im Friesischen in einer Eingabe an das niedersächsische Kultusministerium. In Nortrup bei Quakenbrück mußte eine Weihnachtsfeier für Kinder abgebrochen werden, »da der anhaltende Fluglärm alles übertönte«.

Bei Herzkranken beobachten Krankenhausärzte »salvenartige ventrikuläre Extrasystolen«, psychiatrische Patienten werden, wie die Clemens-August-Klinik in Neuenkirchen bei Oldenburg mitteilte, _(Im Vordergrund: TV-Kamera-Team. )

»auf unerträgliche Weise durch den Fluglärm gequält und in ihrer Genesung behindert«.

»Beinahe wie im Krieg«, kommt es dem Landrat des Odenwaldkreises vor, wenn die Maschinen anfliegen. In Reken, westlich von Münster, versah ein Ehepaar eine Geburtsanzeige mit dem Hinweis »an alle Flieger« auf die Mittagsruhe des Kindes. In Montabaur zwischen Koblenz und Limburg suchte jemand durch Inserat »funktionsbereite 8,8-cm-Flak«, um der »Lärmbelästigung im Luftraum begegnen« zu können.

In fünf südhessischen Gemeinden wurden Ballons hundert Meter hoch in die Luft gelassen, in der Pfalz ließ man Drachen steigen, um gegen die Tortur zu demonstrieren. Das Heilbad Wörishofen protestierte in Bonn, man sei nicht länger bereit, das Getöse »tatenlos und demütig« hinzunehmen.

Anfang August beschwerte sich sogar der Leiter der bayrischen Staatskanzlei, Edmund Stoiber (CSU), beim Bonner Verteidigungsminister Manfred Wörner (CDU): Er forderte für die Kurorte des Freistaates einen »punktuellen Schutz vor dem militärischen Tieffluglärm«, weil sonst »Rückwirkungen auf den Fremdenverkehr« zu befürchten seien.

Alles vergebens. Die »Bundesvereinigung gegen Fluglärm e. V.« in Mörfelden bei Frankfurt nebst zahlreichen »Notgemeinschaften«, die sich von Nord bis Süd gebildet haben, kommt gegen den Fluglärm nicht an. Bad Wörishofen bekam Bescheid, ein Überflugverbot sei »nicht darstellbar«.

Denn »für die häufig behauptete gesundheitsgefährdende Auswirkung von Spitzenpegeln beim militärischen Tiefflug« gibt es im Bundesverteidigungsministerium »keinen wissenschaftlich erhärteten Anhalt«. Fluglärm-Messungen der Universität Kaiserslautern, die an der Bergstraße vorgenommen wurden, galten dem Ministerium »nicht als verbindlich«.

Verbindlich ist nur dies: Der Verteidigungsauftrag muß erfüllt werden. »Präsente und ständig einsatzbereite Luftstreitkräfte leisten«, so das Verteidigungsministerium, »einen wesentlichen Beitrag für eine glaubwürdige Abschreckung. Die Einsatzfähigkeit der Luftstreitkräfte ist von einem hohen Ausbildungs- und Leistungsstand der fliegenden Besatzungen abhängig. Dieser Leistungsstand kann nur durch eine ausreichende Anzahl von Übungsflügen pro Jahr und Besatzung erreicht werden.«

Da ist, in immer neuen Informationspapieren, die Rede von der »gewaltigen quantitativen Übermacht an Streitkräften des Ostblocks«, die »durch hohe Qualität der eigenen Streitkräfte« ausgeglichen werden müsse. Da heißt es, daß »der potentielle Gegner ... zu einem Überraschungsangriff befähigt« sei und »für erste Abwehrmaßnahmen« vor allem »reaktionsschnelle Luftstreitkräfte« erforderlich seien.

Mal erscheint in den Bonner Erläuterungen die Bundesrepublik als »mögliches Operationsgebiet während einer militärischen Auseinandersetzung in Europa«, dann wieder geht es darum, daß »die feindliche Radarüberwachung unterflogen werden kann«, und dazu sei eben »ständiges Üben in niedrigsten Höhen« vonnöten, »ideal wären 30 Meter«.

Dem Ideal sind freilich Luft-Grenzen gesetzt, und auch Militärmaschinen können, im Frieden, nicht fliegen, wo sie wollen.

Oberhalb der sogenannten Flugfläche 100 (10 000 Fuß gleich 3000 Meter) sind grundsätzlich nur Flüge nach Instrumentenflugregeln zugelassen, die von der Flugsicherung kontrolliert und geführt werden. Für Luftkampfübungen der Streitkräfte und Testflüge der Industrie, die nicht nach Instrumentenflugregeln stattfinden, gibt es in diesen Höhen »zeitweilig reservierte Lufträume«.

Unterhalb der Flugfläche 100 ist im kontrollierten Luftraum gemischter Verkehr nach Instrumenten- und Sichtflugregeln zugelassen. Die Mindestflughöhen sind unterschiedlich. Abgesehen vom Luftraum über Flughäfen, wo besondere Regelungen gelten, und über den wichtigsten Großstädten, wo 600 Meter als Untergrenze gelten, darf über Siedlungen nicht tiefer als 300 Meter, über unbebautem Gebiet nicht tiefer als 150 Meter geflogen werden.

Das gilt auch für Maschinen der deutschen Luftwaffe sowie der Nato-Verbündeten, denen laut Nato-Truppenstatut die Pflicht obliegt, »das Recht des Aufnahmestaates zu achten«. Für die Militärs ist das Recht allerdings erweitert _(Von einem abstürzenden »F-16«-Düsenjäger ) _(gestreiftes Wohnhaus in Linz am Rhein. )

worden. Nach dem Zusatzabkommen des Nato-Truppenstatuts sind mit den Luftstreitkräften der Nato-Verbündeten sieben Gebiete vereinbart worden, »die in geringerer als der sonst zulässigen Höhe überflogen werden dürfen«.

Sozusagen normale Tiefflüge im sogenannten Tiefflugband zwischen 450 Meter und 150 Meter Höhe sind den militärischen Strahlflugzeugen demnach über dem ganzen Bundesgebiet erlaubt, außer in Gefahrengebieten und Gebieten mit genereller Flugbeschränkung sowie in einer »Flugüberwachungszone« parallel zur Ostgrenze und jenseits einer »Grenzabstandslinie« zu Österreich und der Schweiz. Auch bleiben 69 Städte von Tieffliegern verschont.

Tiefflug noch unterhalb des Tiefflugbandes bis hinunter auf 75 Meter ist dagegen lediglich »in einigen Gebieten« zugelassen, wie ein Faltblatt des Verteidigungsministeriums formuliert. Tatsächlich handelt es sich um sieben Gebiete, »Areas« genannt, die große Teile der Republik umfassen (siehe Karte).

Eigentlich reicht aber auch das den Piloten noch nicht. Die würden, so zitiert sie Oberstleutnant Peter Fürst, Referent für Flugbetrieb im Bundesverteidigungsministerium, am liebsten »in Baumwipfelhöhe mit Überschall bei jedem Wetter« Abschreckung üben.

Das können sie hierzulande nicht machen. Überschallflüge sind nur oberhalb 11 000 Meter über Land zugelassen und über See unterhalb 6000 Meter nur dann, wenn der Abstand zur Küste mindestens 18 Kilometer (Kurs seewärts) oder sogar 65 Kilometer (Parallel-Kurs) beträgt. Ansonsten dürfen, so die Vorschrift, Geschwindigkeiten von 450 Knoten, gleich 835 Stundenkilometer, »nur in Ausnahmefällen kurzzeitig überschritten werden«.

Auch Wetter und Uhrzeit sind nicht beliebig. Das Tiefflugband steht nur montags bis freitags von sieben bis 17 Uhr zur Verfügung, die Mindestflugsicht ist auf fünf Kilometer festgesetzt. Für Tiefflüge bei Nacht, die bis 24 Uhr gestattet sind, gibt es ein spezielles System von Flugstrecken mit festen Flughöhen, das »dichtbesiedelte und verkehrsintensive Räume soweit wie möglich ausspart«.

»Wir wissen«, sagt man im Bonner Verteidigungsministerium, »daß das Fliegen in den unteren Etagen des Tiefflugbandes unserer Bevölkerung nicht zugemutet werden kann.« Deshalb wird »die 100-Fuß-Fliegerei«, so Oberstleutnant Fürst, von der kanadischen Luftbasis Goose Bay aus im nahezu menschenleeren Labrador betrieben, und »das Fehlen an Schießeinsätzen«, heißt es in einem Luftwaffenpapier, »decken wir in Sardinien und Portugal«.

Obwohl auf diese Weise nach amtlicher Lesart »dreißig Prozent des Flugstundenaufkommens der Luftwaffe ins Ausland verlagert« sind, läßt es sich, trotz aller Beschränkungen im heimischen

Luftraum, »leider nicht vermeiden«, daß immer wieder bewohnte Gebiete der Bundesrepublik überflogen werden, wie die Luftwaffe einräumt.

Das liegt nicht allein an Besiedlungsdichte und Luftraumsektor, sondern auch an den immer noch sehr hohen Geschwindigkeiten und großen Kurvenradien der Maschinen, die bei einem einzigen Tiefflugeinsatz bis zu tausend Kilometer zurücklegen.

»Der Pilot«, erläutert Fürst auf der Hardthöhe, »soll alle Städte meiden, ein Muß aber kann man nicht machen.« Als Erläuterung dient die Besatzung eines Jagdbombers, der vom Fliegerhorst Nörvenich bei Düren einen Tiefflug Richtung Eifel absolviert, um dort, simuliert, eine Flugabwehr-Raketenstellung anzugreifen - der Zielanflug über eine Strecke von 23 Kilometern dauert nur eine Minute und 47 Sekunden.

Was sich in dieser knappen Zeit alles zuträgt, läßt sich mit Simulatoren nicht nachahmen: »Die auf die Besatzungen wirkende komplexe Umwelt ist nicht abbildbar.«

So bleibt es denn bei den Tiefflügen kreuz und quer, die für die Bundeswehr »schon an der Grenze dessen liegen, daß man fragen muß: Sind wir wirklich topfit«, wie der Oberstleutnant Fürst findet. Und es bleibt dabei, daß der Lärm der Tiefflieger als »ein Preis unserer Freiheit« zu gelten hat, wie ein Brigadegeneral der Bundeswehr meinte - »sound of freedom«, sagen Amerikaner dazu.

Die Frage ist, ob der Preis nicht zu hoch ist. Dabei steht, was man auf der Hardthöhe nicht wahrhaben will und was Verteidigungsminister Wörner offenbar nicht weiß, schon in den »Erläuterungen zum Gesetz zum Schutz gegen Fluglärm«, das es seit 1971 gibt: »Neuere Untersuchungen lassen es wahrscheinlich erscheinen, daß Fluglärm Gesundheitsstörungen verursachen kann.«

Deshalb ist »zum Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren, erheblichen Nachteilen und erheblichen Belästigungen« in der Umgebung von Verkehrsflughäfen und Militär-Flugplätzen mit Düsenmaschinen ein Lärmschutzbereich eingerichtet, in dem Krankenhäuser, Altenheime, Erholungsheime und Schulen gar nicht erst gebaut werden dürfen - für Tieffluggebiete, wo es teilweise noch lauter zugeht, gilt das nicht.

In einer »Schutzzone 1« mit stärkster Lärmbelastung, wo »der äquivalente Dauerschallpegel 75 dB (A) übersteigt«, ist sogar jeglicher Wohnungsbau untersagt. Als das Jagdbomber-Geschwader 35 auf »Phantom« umgerüstet wurde, mußten die Hunsrück-Gemeinden Pferdsfeld und Eckweiler geräumt werden, weil sie zu nahe an der Startbahn lagen.

Lärm, definiert als »unerwünschter Schall«, wird in Dezibel (dB) gemessen. Die dB-Skala von leise bis laut stimmt aber lediglich beim sogenannten Normalton (Frequenz: 1000 Hertz) mit der Lautstärke überein, die das menschliche Ohr jeweils empfindet. Wie Lärm auf das Ohr wirkt, berücksichtigt eine andere _(Oben: im hessischen Gernsheim; ) _(unten: in der Hunsrück-Gemeinde ) _(Pferdsfeld, nahe einem Nato-Flugplatz. )

Skala, deren Werte mit dB (A) bezeichnet werden.

Die Skala ist freilich anders als ein Thermometer oder Tachometer zu lesen, wo doppelte Werte auch doppelte Wärme oder doppelte Geschwindigkeit bedeuten: Eine Zunahme um jeweils zehn Dezibel bedeutet doppelten Lärm - hundert Dezibel sind viermal lauter als achtzig.

So werden Lautstärken von etwa 70 Dezibel (Beispiel: Küchenmaschine) nur erst als lästig empfunden, Lautstärken von rund 80 Dezibel (Beispiel: Eisenbahnzug) aber bereits als aufdringlich. Lärm über hundert Dezibel (beispielsweise: Motorrad ohne Schalldämpfer, Preßlufthammer, Düsenflugzeug beim Start) geht an die Schmerzgrenze und macht auf Dauer taub.

Der »äquivalente Dauerschallpegel«, der bei der Messung von Flugzeuglärm zugrunde gelegt wird, ist ein Durchschnittswert, der sich aus Stärke und Dauer von Lärm errechnet und daher nicht viel aussagt: Ein Superknall, der das Trommelfell zerreißt, ergibt, statistisch über den ganzen Tag verteilt, himmlische Ruhe.

Wenn, wie im Sommer 1983, an der von Tieffliegern frequentierten Bergstraße, durchschnittlich 315 »Lärmereignisse« im Monat gemessen wurden, die - wie Bürogeräusch - einen äquivalenten Dauerschallpegel von 49,8 dB (A) hervorriefen, dann führt ein solches Resultat in die Irre. Tatsächlich erreichte jedes zweite Lärmereignis über 81 dB (A), als Spitzenwert wurden 108 registriert.

Das ist denn auch präzise der schier unerträgliche Lärm, den eine »Phantom« mit vollem Schub auf menschliche Ohren in 400 Meter Entfernung überträgt, wie aus graphischen Kurven hervorgeht, die das Bundesverteidigungsministerium hat zeichnen lassen.

Das Diagramm verrät auch, was Menschen in einer »Area« aushalten müssen, die eine »Phantom« in 75 Meter Höhe und »100 Prozent military«, also volle Drehzahl ohne Nachbrenner, überfliegt: knapp 130 Dezibel. Mit einer auf 88 Prozent gebremsten Drehzahl, wie bei »normalem Tiefflug« über der Bundesrepublik üblich, kommen immer noch 113 Dezibel heraus.

Trotzdem werden die Verteidigungsbeamten in Bonn nicht müde, besorgten Bürgern zu attestieren, daß ihre »Artikulation ... aus einer ungewissen Angst heraus« erfolge, und ihnen »ohne weiteren Kommentar« vorzuhalten, daß »während des Betriebes von Personenkraftwagen« durchschnittliche Werte »von 75 bis 80 dB (A) Innengeräusch als Dauerschallpegel gemessen« worden seien, »die während der Fahrt auf die Insassen einwirken«. Der Bundesminister der Verteidigung - Fü L III 4: »Dieser Dauerbelastung sind tagtäglich allein in der Bundesrepublik Deutschland 24 Millionen Fahrzeughalter sowie mindestens ebenso viele Mitfahrer oft für Stunden ausgesetzt, ohne daß es deshalb zu nennenswerten Klagen kommt.«

Ein weiterer Kommentar ist erforderlich: Fluglärm tieffliegender Düsenbomber ist kein mittelstarkes Dauergeräusch, das etwa Autofahrer einkalkulieren, wenn sie auf Fahrt gehen, sondern ein überfallartiger Schock, der wie Blitz und Donner Fluchtinstinkte mobilisiert.

Ein Hauptmann Klaus Schnell vom Amt für Flugsicherung der Bundeswehr in der Zeitschrift »Truppenpraxis": »Fluglärm besitzt, im Vergleich zu anderen umweltschädlichen Einflüssen, aufgrund seiner unausweichlichen Aufdringlichkeit den höchsten negativen Stellenwert.«

»Wer ihn erlebt hat«, so neckisch das amtliche Fluglärm-Faltblatt, »weiß ein Lied davon zu singen.« In den Chor können vor allem Leute einstimmen, die in der Nähe eines Übungsziels der Luftwaffe wohnen oder deren Wohnung gar ein solches Übungsziel darstellt.

Zu ihnen gehört Erna Flüßmeyer, 74, die im Artland zwischen Osnabrück und Quakenbrück eine einsame Gastwirtschaft betreibt und beinahe werktäglich »den unerträglichen Fluglärm besonders in der Mittagsstunde« erlebt, wenn aus heiterem Himmel die Jagdbomber ihrem Haus entgegenstürzen: »Ich erschrecke bei jedem Überflug.«

Doch dem Anliegen, Frau Flüßmeyer aus dem »Übungszielkatalog« zu streichen, konnte der Führungsstab in Bonn nicht entsprechen. Keineswegs die Gastwirtschaft sei im Katalog aufgeführt, wurde mitgeteilt, sondern »die Aufmündung der L 75 auf die B 214 in Grönloh«, zwanzig Schritte vom Flüßmeyer-Hof entfernt.

Die Eliminierung aus dem geheimen Katalog hätte der alten Frau wohl auch nicht geholfen: Der Katalog ist »nicht bindend, nur ein Hilfsinstrument«, so Oberstleutnant Fürst auf der Hardthöhe. »Wer was wann wo fliegt«, erläutert er, »entscheidet jeder Verband für sich.« Trost: »Ein Kirchturm wird nie als Ziel genommen.«

Piloten, die ihn dennoch ins Visier nehmen und von ihrem Flugauftrag schuldhaft abweichen, laufen Gefahr, sich den Lärm künftig von unten anhören zu müssen. So wurde, teilte das Ministerium mit, ein Flugzeugführer, der »bewußt die Mindestflughöhe unterschritten« hatte, von einem Militärgericht degradiert - »es gibt auch in der deutschen Luftwaffe einige, die zu Fuß gehen müssen«, hieß es dazu.

Wo tiefgeflogen wird, sähen die Betroffenen am liebsten die ganze Luftwaffe zur Infanterie degradiert. Denn alle Proteste haben nichts ausgerichtet, selbst die jüngsten aus Stade nicht, wo es wieder mal Tote gegeben hat.

»Die aus lokaler Sicht immer wieder geforderten Überflugverbote«, so hat das Verteidigungsministerium ein für allemal klargemacht, »würden weitere gleichartige Forderungen nach sich ziehen und in der Konsequenz die Tiefflugausbildung unmöglich machen.«

Den Leidtragenden in den »Areas« und sonstwo ist das mittlerweile egal. »Es ist doch sinnlos«, sagt Helga Gotzen in Badbergen, »Area 1«, »daß die Luftwaffe eine Bevölkerung verteidigen soll, die sie zu einem großen Teil vorher körperlich und seelisch ruiniert hat.«

[Grafiktext]

LAUTES LAND 0 Kilometer 150 Kiel Itzehoe Hamburg Cloppenburg Schneverdingen Hannover Flugüber - wachungszone zur DDR Holzminden Borken Köln Tiefstflug-Zonen über der Bundesrepublik (75 bis 150 Meter) Frankfurt Nürnberg Stuttgart Nördlingen Grenzabstandslinie zu Österreich und der Schweiz München

[GrafiktextEnde]

Im Vordergrund: TV-Kamera-Team.Von einem abstürzenden »F-16«-Düsenjäger gestreiftes Wohnhaus inLinz am Rhein.Oben: im hessischen Gernsheim;unten: in der Hunsrück-Gemeinde Pferdsfeld, nahe einemNato-Flugplatz.

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