INDUSTRIE / BENZINPREISE Tiger im Tanker
Durch Einschreiben erfuhr der Vorstand der Hamburger Esso AG, er habe sich am Mittwoch, dem 18. Oktober, pünktlich um zehn Uhr morgens beim Bundeskartellamt in Berlin, Sitzungssaal 1025, einzufinden. Erstmals mußte das Management der größten ausländischen Mineralölgesellschaft auf deutschem Boden der Kartellbehörde öffentlich Rede und Antwort stehen.
Zur festgesetzten Stunde nahm das Esso-Vorstandsmitglied Wolfgang Oehme, 44, nebst Anwalt Hans-Christoph Leo und zwei Spezialisten im Sitzungszimmer Platz. Oehme, im Esso-Konzern für Versorgung und Transport zuständig, sollte sich zu einem Phänomen äußern, das die Wettbewerbshüter mit Argwohn erfüllt: dem Umstand, daß alle großen westdeutschen Mineralölgesellschaften ihre Preise während der jüngsten Nahost-Krise viermal erhöhten, nach dem Ende des Schießkrieges aber nicht daran dächten, ihre Preise wieder zu senken.
Schon vor mehr als einem Jahr waren die Branchenriesen Esso, BP Benzin und Petroleum AG, Deutsche Shell AG und Deutsche Erdöl-AG* in die Scheinwerfer des Kartellamts geraten. Damals hatten sie ihre Benzinpreise bis auf 48,5 Pfennig je Liter gesenkt. Damit wollten sie den freien Tankstellen, die sich mit ihrem billigen Benzin einen Marktanteil von 20 Prozent erobert hatten, die Luft abdrücken.
Die Kartellwächter verdächtigten daraufhin die großen Gesellschaften. sie hätten ihre marktbeherrschende Position zu einem »Verdrängungswettbewerb« gegen die freien Tankstellen
*Die Dea wurde 1966 von der Texaco, dem drittgrößten amerikanischen Mineralölkonzern, aufgekauft.
mißbraucht. Aber noch bevor die Ermittlungen abgeschlossen waren, leiteten die Berliner Beamten ein neues Verfahren ein, diesmal wegen Preiserhöhungen.
Sie mutmaßen, die ausländischen Konzerne hätten ihren 60-Prozent-Anteil am westdeutschen Treibstoffmarkt zum Schaden der Verbraucher ausgenutzt. Die Tatsache, daß die Gesellschaften ihre Benzinpreise seit Beginn des Suez-Konflikts bis auf 68 Pfennig je Liter hochtrieben, läßt nach Ansicht der Wettbewerbsbeamten die Vermutung zu, daß die Trusts aus der Nahost-Krise Riesengewinne schöpften.
Als ersten Verdächtigen lud das Kartellamt die Esso zum öffentlichen »Hearing« vor. Zwei Tage später war die BP vorgeladen; am vergangenen Mittwoch mußte sich eine Shell-Delegation, am Freitag ein Dea-Team nach Berlin bemühen.
Esso-Anwalt Hans-Christoph Leo wies die Feststellung, sein Konzern (Marktanteil 20 Prozent, 6000 Tankstellen) sei marktbeherrschend im Sinne des Gesetzes, das heißt »keinem wesentlichen Wettbewerb ausgesetzt«, beredt zurück. Leo bezeichnete die Esso vielmehr als Opfer: »Nicht wir beherrschen den Markt, der Markt beherrscht uns.«
Aber Direktor Dr. Heinz Ewald, Leiter der »Beschlußabteilung Marktbeherrschung« beim Bundeskartellamt, gab Leos Antrag, das Verfahren einzustellen, nicht statt. Ewald betonte vielmehr, seit Beginn des Israel-Krieges habe sich der »Verdacht der mißbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung« durch die Konzerne verstärkt.
Am 6. Juni, einem Tag nach Beginn des Schießkrieges in Nahost, sperrte Ägypten den Suezkanal, die Schlagader des Öltransports. Einen Tag später verhängten Saudi-Arabien, Algerien, Kuwait, Libyen und der Irak den totalen Ölboykott gegen die USA,
* Am Tisch links Vertreter des Kartellamts, rechts Vertreter der ESSO AG.
England und Westdeutschland. Die Bundesrepublik, die jährlich etwa 70 Millionen Tonnen Erdöl importiert, saß auf dem trocknen.
Von den Häfen im Persischen Golf waren vor Beginn des Israel-Krieges 40 Prozent der deutschen Ölbezüge durch den Suezkanal zu den Nordseehäfen und zu den Pipeline-Kopfstationen bei Genua und Marseille geschwommen. Weitere 40 Prozent der Einfuhr stammten aus libyschen Quellen, der Rest aus Nigeria, der Sowjet-Union, Venezuela und den USA.
Ihren Lagerbestand, der für rund 49 Tage ausgereicht hätte, durften die Mineralölgesellschaften auf Geheiß der Bundesregierung nicht angreifen: Dieser Vorrat soll für Notstandszeiten reserviert bleiben. So sahen die Manager nur zwei Möglichkeiten, das Versorgungsproblem zu lösen: entweder Öl und Benzin zu rationieren oder, ohne Rücksicht auf die Kosten, Treibstoff aus anderen Teilen der Welt heranzufahren.
Die Entscheidung fiel Mitte Juni, als das Bundeswirtschaftsministerium die Firmen bat, die Lage »mit marktwirtschaftlichen Mitteln« zu meistern.
Die Esso AG drehte daraufhin ihre Hähne im neutralen Persien auf und charterte zusätzliche Supertanker für den Transport um das Kap der Guten Hoffnung. Der Umweg ist freilich nicht billig. Für eine Reise von Persien durch den Suez-Kanal nach Hamburg benötigt ein Öltanker 38 Tage, die Umleitung um Afrika dauert 60 Tage. Die Fracht auf einem 50 000-Tonnen-Tanker kostet auf der Kanal-Route zwölf Mark je Tonne, um das Kap jedoch 77 Mark.
Zudem mobilisierten die Firmen Ölquellen in den USA und Venezuela, die bislang nur einen Bruchteil des Bedarfs gedeckt hatten. Nunmehr füllten die USA und Venezuela 46 Prozent der westdeutschen Einfuhrläger. Freilich sind diese Übersee-Importe noch erheblich teurer als arabisches Öl. So verlangen die Amerikaner für eine Tonne Rohöl frei Schiff 92 Mark -- 38 Mark mehr als die Perser.
Mitte Juni, neun Tage nach Ausbruch des Nahost-Konflikts, als die Waffen längst wieder schwiegen, erhöhten die Konzerne erstmals ihre Preise, drei weitere Preiserhöhungen folgten. Insgesamt wurde Benzin um fünf Pfennig je Liter und Heizöl um zehn Mark je Tonne teurer.
Die Preise blieben hoch, obwohl die Araber am 29. August ihren Ölboykott wieder aufhoben. Dies, so verkündeten die Ölfirmen, sei darauf zurückzuführen, daß der Suez-Kanal bis heute noch mit Schiffswracks versperrt und deshalb unpassierbar sei.
Seit dem 6. Juli traktierte das Berliner Amt die Firmen mit detaillierten Fragen über Kosten und Gewinne. Als die Fragebogen immer länger wurden, schlugen die Öl-Kaufleute vor, die Beamten sollten direkt in den Konzernzentralen ermitteln.
So hatten die Gesellschaften in den letzten Wochen jeweils einige Tage Besuch aus Berlin. Spähtrupps von drei bis vier Beamten prüften Bücher, Preise und Geschäftsbriefe. Das Ergebnis bestärkte Kartellamts-Direktor Dr. Ewald in seinem Verdacht: Die Konzerne hätten dank ihrer weltweiten Verbindungen durchaus die Möglichkeit, trotz des Nahost-Konflikts ihr Rohöl zu niedrigeren Preisen nach Deutschland zu liefern. Die Verrechnungspreise, die amerikanische und englische Muttergesellschaften ihren deutschen Tochterfirmen anlasteten, erschienen Ewald als zu hoch. Er glaubt, Esso habe den Tiger nicht mehr im Tank, sondern im Tanker.
Da aber Ewald seinen Verdacht mangels Kenntnis der Geschäftsunterlagen bei den überseeischen Muttergesellschaften kaum erhärten kann, verlegte er sich aufs Bitten. Der Kartellamts-Direktor fragte Esso-Oehme, ob sein Konzern nicht die Preise senken wolle. Oehme sibyllinisch: »Zur richtigen Zeit werden wir die richtige Preispolitik treiben.«
Der Manager verbat sich den Verdacht, ein »Kriegsgewinnler« zu sein und versicherte: »Wir verdienen an der Nahost-Krise keinen Pfennig.« Die kriegsbedingten Mehrkosten seiner Gesellschaft beziffert Oehme mit »täglich etwa einer Million«. Die Teuerung sei »der unvermeidliche Preis dafür, daß der deutsche Verbraucher auch während der Krise seinen Bedarf ungehindert decken konnte«. Die BP erklärte, die mittlerweile vorgenommenen Preiserhöhungen kompensierten noch nicht einmal die Krisenkosten. Auch Shell und Dea klagten.
Nach sechs Stunden Verhör schmollte Esso-Manager Oehme: »Wir werden es uns gründlich überlegen, ob wir in einer neuen Krise noch einmal die Versorgung aufrechterhalten und dann später diffamierende Vorwürfe hören müssen.
Noch nach dem Suez-Abenteuer 1956 hatte Bonn Deutschlands Ölbosse mit hohen Orden dekoriert, weil sie trotz der Kanal-Sperre die Ölversorgung sichergestellt hatten. Damals erhöhten sie die Benzinpreise um drei Pfennig.