CHINA Tiger und Wölfe
Nach dem Gebet floß Blut: Rund 40 Frauen und Kinder hatten sich am Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan in Ayden, einem Vorort der 250 000-Einwohner-Stadt Yining, zur Koranlektüre versammelt - für Pekings Sicherheitskräfte eine gefährliche Provokation.
Polizisten umstellten das private Gebetshaus und forderten die Frauen auf, die Räume zu verlassen. »Als diese sich weigerten«, so ein Augenzeuge, »zerrten Beamte sie an den Haaren auf die Straße.« Nachbarn eilten zu Hilfe, Schüsse fielen, zwei Einheimische und ein chinesischer Polizist starben.
Der Grund: In Chinas riesiger Grenzregion Xinjiang, mehrheitlich von moslemischen Turkvölkern wie Uiguren und Kasachen bewohnt, haben die Behörden seit 1990 die Religionsausübung drastisch eingeschränkt. Partei und Militär fürchten, der fundamentalistische Widerstandsgeist könne aus den benachbarten zentralasiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion überspringen.
Die Intervention erwies sich als folgenschwerer Fehler. Binnen Stunden rotteten sich über tausend junge Leute vor der örtlichen Polizeiwache zusammen. »Laßt die politischen Gefangenen frei«, brüllten die Demonstranten. Und: »Chinesen, geht nach Hause!« Der Revierchef feuerte in die Menge, daraufhin stürmten 15 000 Uiguren los und machten Jagd auf Chinesen und Uniformierte. »Leute wurden mit Spaten erschlagen, andere starben im Steinhagel«, berichteten Ärzte aus dem »Freundschaftskrankenhaus«.
Die Aufständischen schossen auch mit Kalaschnikows - 50 Kilometer weiter westlich, an der Grenze zur Republik Kasachstan, sind solche Sturmgewehre billig zu erwerben. Die chinesischen Behörden meldeten 10 Tote und 198 Verwundete, Ortsansässige dagegen klagen: »Wir haben in den letzten Tagen mehr als 200 Landsleute zu Grabe getragen.« Interne Parteiberichte in Peking sprechen von 2000 bis 3000 zum Teil schwer Verletzten.
Elitetruppen rückten in Yining ein, nachts gilt eine Ausgangssperre. Doch am vergangenen Freitag abend war einer der größten Aufstände, der Chinas Nordwestregion Xinjiang seit 1949 erschütterte, noch immer nicht ganz niedergeschlagen. »Die Chinesen haben alle Männer weggeschleppt«, berichtete eine Anwohnerin per Telefon nach Peking.
»Die chinesische Unterdrückung hat für eine äußerst explosive Spannung in unserer Heimat gesorgt«, sagt Erkin Alptekin, ein Führer der uigurischen Exilopposition in Kasachstan. Mehr als die Hälfte der turksprachigen Jugendlichen in Xinjiang findet keine Arbeit. Die Jobs in der entlegenen Region, die von Wirtschaftsreformen weit weniger als der Rest des Landes erfaßt wurde, gehen vor allem an zugezogene Chinesen. In vielen Städten sind die Einheimischen zur Minderheit geworden.
Vorigen Mittwoch flog nahe der Oase Korla ein Parteibüro in die Luft. Erste Sprengstoffanalysen ergaben, was chinesische Sicherheitskräfte schon lange befürchten: Der Nachschub der islamischen Rebellen kommt aus Beständen afghanischer Fundamentalisten.
Pekings Führungsspitze verstärkt seit Monaten den Druck auf die unruhige Region. In dem geheimen Parteidokument Nr. 7 rief die Zentrale zum »rigorosen Kampf gegen jeglichen Separatismus und alle religiösen Umtriebe« auf. Mit denselben Parolen sucht Peking auch in Tibet und der Inneren Mongolei die Traditionen der einheimischen Minderheitenvölker auszulöschen.
»Religion muß mit dem Sozialismus übereinstimmen«, drohte Ende Januar Ablait Abdurexit, Gouverneur der Autonomen Region, »Tradition darf kein Hindernis für Entwicklung sein.«
Tagelang hatten die chinesischen Behörden den Krisenherd Xinjiang von der Außenwelt abgeschnitten. Angeblich kam es zu standrechtlichen Exekutionen - das wäre nichts Außergewöhnliches, denn China regierte den rebellischen Landstrich, kostbares Rohstoffreservoir und gefährliches Atomtestgelände, stets mit eiserner Faust.
In Xinjiang gab es von 1946 bis 1948 die Unabhängige Republik Ostturkistan. Ihre Regierung flog nach dem Sieg der Kommunisten in Peking 1949 zu Vereinigungsgesprächen mit Mao Tse-tung nach Peking; die Maschine stürzte bald nach dem Start ab.
Danach marschierten die chinesischen Kommunisten ein. In 58 größeren Aufständen zwischen 1949 und 1972 starben 360 000 Einwohner, eine halbe Million wurde in Arbeitslager gesperrt. Als die Chinesen 1962 die Sprache der einheimischen Usbeken, Kasachen und Uiguren verbieten wollten, flüchteten 50 000 Kasachen aus der Region Yining zu Pferde in die Sowjetunion.
Seither ist Chinas wilder Westen der Gulag der Volksrepublik. Hunderttausende politischer Gefangener und Krimineller mußten in Arbeitslagern Wüsten erschließen und nach Öl und Kohle suchen. In Lop Nor entstand das chinesische Atomtestzentrum, mit verheerenden Folgen für die Gesundheit der Einheimischen.
Kleine Untergrundgruppen, die sich »Tiger von Lop Nor« und - nach türkischem Vorbild - »Graue Wölfe« nennen, versorgen sich jenseits der Grenze mit Waffen. »Wenn es sein muß«, wehrt sich Emigrant Alptekin gegen den Untergang seines Volkes im Chinesen-Reich, »dann wollen viele Uiguren lieber mit Anstand sterben.«
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Kartenausriß China - autonome Region Xinjiang
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Kartenausriß China - autonome Region Xinjiang
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