NORDRHEIN-WESTFALEN Tip am Telephon
Den Tip gab ein SPD-Wähler: Nach der Wiederwahl des Dr. Franz Meyers zum Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen klingelte in der Kanzlei des Essener Anwalts Dr. Diether Posser das Telephon. Der Anrufer forderte den Juristen auf, er möge doch einmal ausrechnen, wieviel die Hälfte von 199 sei.
Sozialdemokrat Posser rechnete und sah seine Stunde gekommen. Am 1. August, während der Debatte über die Regierungserklärung, überraschte der neugewählte Landtagsabgeordnete das Parlament mit dem Ergebnis seiner Mathematikaufgabe: Die Wahl des
Christdemokraten Meyers, so dozierte der Sozius des SPD-Verfassungsexperten Dr. Dr. Gustav Heinemann, sei verfassungsrechtlich bedenklich. Denn: Meyers sei, bei einer Stimmenthaltung, im zweiten Wahlgang mit 100 gegen 99 Stimmen gekürt worden. Nach der Verfassung müsse der Regierungschef dabei mit mehr als der Hälfte der abgegebenen Stimmen gewählt werden; die Hälfte von 199 aber sei neunundneunzigeinhalb, und da es keinen halben Abgeordneten, mithin auch keine halbe Stimme gebe, müsse nach oben - auf 100 - aufgerundet werden. Mehr als die Hälfte seien demnach 101 Stimmen, und die habe Franz Meyers nicht bekommen.
Christ- und Freidemokraten spotteten hernach: »Possers Possen.« Doch die knapp unterlegene SPD-Fraktion schöpfte neue Hoffnung, Meyers per Verfassungsklage doch noch stürzen zu können. Zwar möchte Oppositionschef Heinz Kühn seinen Gegner lieber auf »politischer als auf juristischer Ebene« vom Premierssessel kippen. Doch Ende
September gab er Posser den Auftrag: »Prüf das mal!«
Dem Essener SPD-Anwalt ist derweil klar geworden, daß er »juristisches Neuland« betritt. Vergleichbare Fälle sind ihm nicht bekannt, einschlägige Urteile oder Rechtskommentare gibt es nicht. So sucht Posser vorerst in der Bundesrepublik nach renommierten Verfassungsexperten, die ihm mit Gutachten beistehen können. Wenn Expertisen vorliegen, wird der Düsseldorfer Fraktionsvorstand entscheiden, ob Feststellungsklage vor dem Verfassungsgerichtshof des Landes erhoben werden soll.
Ein Rechtsspruch steht noch in weiter Ferne. Und deshalb, so glaubt Anwalt Posser, werde er wohl nur noch theoretische Bedeutung haben: weil »Meyers bis dahin vielleicht überhaupt kein Ministerpräsident mehr ist«.
Ministerpräsident Meyers (l.)*: Was ist die Hälfte von 199?
* Bei der Vereidigung im Düsseldorfer Landtag am 25. Juli 1966 durch Landtagspräsident John van Nes Ziegler (SPD).