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»Todeswolken über Europa«

Mit einem neuen Typ chemischer Kampfstoffe wollen die Amerikaner ihre Nervengift-Lager auffüllen - »Nachrüstung« gegen sowjetische Überlegenheit. Reagans C-Waffen-Entscheidung birgt politischen Zündstoff für die Bundesrepublik: Hier sollen die Kampfstoffe gelagert und, im Falle eines Gaskrieges, eingesetzt werden.
aus DER SPIEGEL 8/1982

Relativ harmlos«, sagen die Giftgas-Experten, seien die beiden Ausgangsprodukte des chemischen Kampfstoffes »VX«, solange sie noch getrennt voneinander in zwei Kammern der Bombe lagern. Erst wenn »Bigeye«, so der Kodename der Bombe, abgeworfen wird, stellt sich die tödliche Mischung her.

Ein Gasgenerator im Innern der Bombe erzeugt Druck, bis die dünnen Metallmembranen platzen, die den Schwefelkern von der ihn umgebenden Flüssigkeit trennen. Gleichzeitig bewegt ein Elektromotor ein Rührwerk, das nach Art eines Küchen-Handmixers die Teufelsmischung durchwalkt. Schließlich öffnen sich, noch während des Fluges, mittels winziger Sprengladungen kleine Riesel-Löcher zu allen Seiten der Bombe. Von vorne her eindringende Luft drückt die VX-Mischung hinaus - der Kampfstoff regnet zu Boden.

Wo er ankommt, bringt er millionenfachen Tod. Nervengase wie VX töten jedes Lebewesen, das ein zentrales Nervensystem besitzt und nicht durch Gasmaske und Spezialkleidung geschützt ist: Männer, Frauen und Kinder, Hunde und Katzen, Kaninchen im Felde und Vögel auf den Bäumen.

Wer auch nur einen Nebeltropfen des geruchlosen Nervengiftes VX auf die Haut bekommt, hat nicht mehr lange zu leben: Atemnot, Schweißausbrüche, Erbrechen und Erblindung sind die ersten Symptome. Der Körper kann Kot und Urin nicht mehr halten. Schließlich tritt Atemlähmung ein. Für manchen dauert die Qual nur Minuten, für andere Stunden. Tödliche VX-Dosis für einen Menschen: 0,4 Milligramm.

Die trickreiche Anordnung, den tödlichen Kampfstoff erst zusammenzufügen, wenn die Granate oder Bombe auf dem Weg zum Gegner ist, stellt eine waffentechnische Neuerung dar.

Vorletzte Woche entschied US-Präsident Ronald Reagan, daß nunmehr mit der Massenfertigung der neuartigen Kampfstoff-Munition begonnen werden solle.

Per Federstrich eskalierte der amerikanische Präsident damit das Wettrüsten zwischen Ost und West auf einem weiteren Feld. Die Herstellung neuer chemischer Kampfstoffe sei »im nationalen Interesse geboten«, teilte Reagan in einem Kurzbrief dem Sprecher des US-Kongresses mit. Diese Formalie war nötig, um die zwölfjährige, selbstauferlegte Produktionspause für chemische Waffen in den USA zu beenden.

Rund sechs Milliarden Dollar, so die Planung der Reagan-Administration, S.33 wollen die USA in den kommenden fünf Jahren für Aufrüstung zur chemischen Kriegführung ausgeben. Schon im Herbst letzten Jahres wurde in Pine Bluff (US-Staat Arkansas) der Grundstein gelegt für eine Fabrik, in der die aus zwei Komponenten aufgebauten ("binären") C-Kampfstoffe und die dazugehörige Trägermunition gefertigt werden sollen - zunächst Granaten vom Kaliber 155 und 203 Millimeter sowie die 500 Pfund schweren »Bigeye«-Bomben.

Rund drei Millionen Bomben, Minen und Granaten, gefüllt mit fertig gemixten Nervengasen aus der Produktion früherer Jahre, liegen ohnehin schon in amerikanischen Arsenalen. Insgesamt sind es 150 000 Tonnen, 4000 Tonnen davon auf dem Gebiet der Bundesrepu blik - »diese Menge allein würde ausreichen, um für ein bis zwei Wochen in Mitteleuropa chemischen Krieg zu führen« (so der britische Friedensforscher Julian Perry-Robinson).

Die gesamte Lagermenge von 150 000 Tonnen C-Waffen wäre ausreichend, »50 Divisionen 100 Tage lang chemischen Krieg führen zu lassen«, wie der US-Kongreßabgeordnete Clement Zablocki formulierte - »wobei es wohl nach dieser Zeit in Europa kaum noch lebende Wesen gäbe, um die man kämpfen könnte«.

Schon jetzt also verfügt das westliche Verteidigungsbündnis auch auf dem Gebiet der chemischen Waffen über eine Kill- und Overkill-Kapazität - ebenso wie das östliche. Doch allein damit, den etwa durch Rost und Überalterung auftretenden Schwund ihrer C-Waffen-Bestände wieder aufzufüllen, mögen sich die Amerikaner nicht zufriedengeben. Ihr Hauptargument: Die C-Waffen-Arsenale des Warschauer Paktes seien er heblich größer.

Moskau verfüge »über 700 000 Tonnen an chemischer Munition und damit über eine acht- bis 16fache Überlegenheit gegenüber der Nato«, erklärte CSU-Wehrexperte Graf Huyn im Mai letzten Jahres vor dem Bundestag.

»Besser als jede andere Militärmacht der Welt«, befand auch der amerikanische Verteidigungsminister Caspar Weinberger, seien die Sowjet-Union und der Warschauer Pakt »für eine offensive und defensive chemische Kriegführung ausgerüstet, strukturiert und ausgebildet«.

Ein weiteres Mal - wie schon bei der Bomberlücke in den fünfziger, dem angeblichen S.34 Rückstand an Interkontinentalraketen in den sechziger Jahren und wie hernach bei Panzern und Mittelstreckenraketen - konstatieren die US-Militärs eine Unterlegenheit und dementsprechend einen dringenden Nachholbedarf des Westens: Nach der Entwicklung und Produktion der Neutronenwaffen, nach der Nachrüstung bei nuklearen Mittelstreckenraketen setzt nun mit dem Produktionsbeginn für binäre Nervenkampfstoffe »eine dritte Phase der Modernisierung westlicher Massenvernichtungswaffen ein«, so formulierte es Hans Günter Brauch, Mitglied der Abrüstungskommission des SPD-Vorstands.

Von einer »gigantischen Hochrüstung der Sowjet-Union im Bereich chemischer Waffen« und einer westlichen Unterlegenheit im Verhältnis eins zu zehn sprach im Januar dieses Jahres der CDU-Wehrexperte Jürgen Todenhöfer.

Der östlichen C-Waffen-Überlegenheit werde alsbald »ein ähnlicher Nachrüstungsbeschluß der Nato wie bei den atomaren Mittelstreckenraketen« folgen, so hatte schon im Sommer 1980 der abrüstungspolitische Sprecher der CDU/ CSU-Fraktion Alois Mertes prophezeit.

Auch auf dem Gebiet chemischer Kampfstoffe wollen die Amerikaner ihrer neuen Generallinie folgen, wie sie Nato-Oberbefehlshaber Bernard Rogers am vorletzten Wochenende auf einer wehrpolitischen Tagung in München erneut formulierte: »Jetzt aufrüsten, um später abrüsten zu können.«

Ähnlich begründete US-Präsident Reagan seine Produktions-Order. Chemische Nachrüstung sei nicht nur nötig, um »den potentiellen Gegner von einem chemischen Krieg abzuschrecken«, sondern sie schaffe zugleich erst den »Anreiz für ein wirksames Abkommen zum Verbot chemischer Waffen«.

Mit »Verständnis« (Regierungssprecher Kurt Becker) reagierte die Bundesregierung auf die amerikanischen Pläne zur C-Waffen-Nachrüstung. Es handele sich um eine »souveräne Entscheidung« der US-Regierung, und gewiß seien die neuen C-Waffen ausschließlich zur Abschreckung gedacht.

Die Entscheidung, ob und wann die neuen Giftgasbomben und -granaten auf westdeutschem Boden stationiert werden, bleibt einstweilen aufgeschoben. Es liege »im Interesse der Bundesrepublik«, sich dem amerikanischen »Drängen« nach erweitertem C-Waffen-Einsatz in Europa »zu widersetzen«, erklärte letzten Monat SPD-Verteidigungsexperte Karsten Voigt.

Sicher ist, daß auf dem bevorstehenden Bundesparteitag der SPD in München nicht nur der Streit um den Nato-Doppelbeschluß wieder aufflammen wird, sondern noch eine zweite Nachrüstungsdebatte: Spätestens 1984, wenn die ersten Güterzüge mit binären C-Waffen durch die Werktore von Pine Bluff rollen, wird Bonn entscheiden müssen, ob es der Lagerung neuer chemischer Waffen auf westdeutschem Boden zustimmen soll oder nicht.

In geheimen Planungs-Papieren des Pentagon sind die bundesdeutschen Standorte für Binärwaffen schon längst festgelegt: Fünf C-Waffen-Depots sind vorgesehen, davon je eines im Allgäu und im Schwarzwald.

Das ist auch, nach der Ratio von Militärs, das einzig Sinnvolle: C-Waffen, so heißt es in einem Dokument der U. S. Army mit dem Titel »Lagerung in Friedenszeiten außerhalb der USA«, seien naturgemäß »nur in Reichweite des potentiellen Schlachtfeldes« von Nutzen. Zweifel sind da nicht möglich: Wenn es jemals zwischen den Supermächten zu einem chemischen Krieg kommen sollte - Mitteleuropa wäre das Schlachtfeld.

In Ft. McClellan, dem Giftgas-Trainingszentrum der U. S. Army, wo jährlich 4000 Offiziere und Mannschaften für den C-Waffen-Einsatz gedrillt werden, bemüht man sich, so der Chef des S.36 Camps, Brigadegeneral Gerald Watson, »um möglichst viel Realismus": Die Übenden, unter Gasmasken und schwerer Schutzkleidung schwitzend, stapfen »über Terrain, das dem in Zentraleuropa gleicht«.

In den Strategiedebatten der siebziger Jahre, so zitierte die »New York Times« einen Pentagon-Planer, sei es noch vorrangig um die Frage gegangen, ob ein begrenzter Krieg zwischen den Supermächten möglich sei. Nun aber sei die Frage nur noch, »wie« ein solcher begrenzter Krieg - wenn er denn ausbräche - »zu führen sei« und »in welcher Umgebung«. Eine der Möglichkeiten: »In den Tannenwäldern Westdeutschlands.«

Das »Field Manual FM-3«, ein Übungshandbuch der US-Armee für den »Einsatz chemischer Munition gegen feindliche Angriffsverbände, Aufmarschgebiete und Auffangstellungen«, präzisiert in einem Planspiel die Örtlichkeiten: In Bayern - »Bezugsgrundlage: Karte Deutschland 1:100 000, Würzburg« - fällt der 21. US-Infanteriedivision (übungshalber) die Aufgabe zu, »den Feind 48 Stunden lang in seinen Stellungen hinzuhalten«. Der Feind wird mit 14 000 Schuß Nervengas-Munition belegt.

»Todeswolken über Europa«, schrieb der englische »Guardian«, gehörten unweigerlich zu einem Kriegsbild, wie es der amerikanische Generalstab für den Fall eines C-Waffen-Kriegs durchge spielt habe: Beide Seiten setzen Giftgas ein, bis zu 2000 Tonnen pro Tag. Millionen Tote wären die Folge, da das verschossene Nervengas vom Wind in dichtbesiedelte Gebiete verschleppt würde. Auf jedes Giftgasopfer unter den Kämpfenden kämen 20 Tote in der Zivilbevölkerung. »Diese Rate«, so das Szenario, »ist noch höher als bei taktischen Atomwaffen.«

Die Wirkungen eines hypothetischen Gasangriffs auf Norddeutschland berechneten der amerikanische Biochemiker Matthew S. Meselson und sein Ko-Autor Julian Perry-Robinson in einer Studie samt graphischer Darstellung, welche im April 1980 in der US-Zeitschrift »Scientific American« erschien (siehe Graphik).

Ergebnis: Bei Angriffen mit je sechs Tonnen Nervengas pro Ziel ("Prämisse: Kühles, typisch norddeutsches Wetter, dichte Bewölkung, kein Regen, leichter Südwestwind") hätten im Bereich einer inneren Zone (Ausdehnung etwa 16 Kilometer) nur junge Erwachsene in den Randgebieten eine Überlebenschance. Schwere Vergiftungen gäbe es noch bis zu 40 Kilometer vom Einsatzort entfernt. Mit Kopfschmerzen, Beeinträchtigung des Sehvermögens und Atembeschwerden sei sogar noch in 100 Kilometer Entfernung zu rechnen.

Meselson: »Bei klarem Himmel und kühler Temperatur wären die drei Areale um ein Mehrfaches größer, bei sonnigem, warmem Wetter um einiges kleiner.« In Meselsons Rechenbeispiel gab es mehr als 100 000 Tote.

Geradezu hoffnungslos wäre die Situation in den Ballungsgebieten, wie eine WHO-Studie unter dem Titel »Health Aspects of Chemical and Biological Weapons« darlegte: In einer Stadt mit einer Million Einwohner, Beispiel Köln, würden durch Einsatz von vier Tonnen VX etwa 60 000 Menschen einer tödlichen Nervengas-Konzentration ausgesetzt. 30 000 davon stürben sofort; die übrigen könnten nur durch sofortige Verabreichung von Gegenmitteln und »mit aufopfernder Pflege« gerettet werden.

»Der Einsatz von Giftgas schreckt die Menschen«, erläuterte ein Pentagon-Beamter die Reagan-Entscheidung, aber C-Waffen seien nun einmal »erheblich billiger als Atomsprengköpfe«, überdies richteten sie »weit weniger Schaden außerhalb des eigentlichen Schlachtfeldes an«.

Diese Behauptung wurde bereits im März 1968 widerlegt, als bei einem Freilandversuch S.38 mit dem Nervenkampfstoff VX im Mormonen-Staat Utah das Gift weitab vom Zielpunkt niederging. 6400 Schafe gingen unter Krämpfen zugrunde.

14 Monate lang bestritt damals die US-Armee, die in der Nähe ihr Testgelände »Dugway Proving Ground« unterhält, mit dem Tod der Tiere etwas zu tun zu haben.

Dann aber fand ein Untersuchungsausschuß des Kongresses: Weil der Sprühtank eines Flugzeuges fehlerhaft war, wurden 80 Liter C-Kampfstoff in etwas zu großer Höhe abgesprüht. Ausschußbericht: »Der Wind trieb das Nervengas viele Meilen weit. Menschen wurden nur deshalb nicht dem Gift ausgesetzt, weil der Wind umgeschlagen war.« Die Schafe hatten auf einem Areal von 500 Quadratkilometern gegrast - »ein Gebiet«, wie die US-Zeitschrift »Harper''s Magazine« sarkastisch anfügte, »in welchem in Westdeutschland nach dem statistischen Durchschnitt 128 394 Menschen wohnen«. »Harper''s": »Kein Wunder, daß auch sonst in der Nato niemand etwas mit dem Nervengas zu tun haben will.«

Der Nato-Partner Bundesrepublik hat seinen Teil längst empfangen. Alle Geheimhaltung der amerikanischen Militärs und alle Geheimnistuerei westdeutscher Behörden und Politiker haben nicht verborgen halten können, wo auf westdeutschem Boden amerikanische Gas-Granaten, -Minen und -Bomben schon seit den sechziger Jahren lagern: bei Hanau, Mannheim, Pirmasens und nahe dem pfälzischen Maßweiler (siehe Graphik Seite 40).

Die Bundesrepublik - die 1954 ausdrücklich auf Herstellung, Besitz und Anwendung chemischer Waffen verzichtet hat - mußte dazu ihre Zustimmung nicht geben. Gedeckt vom alliierten Truppenstatut, können die Amerikaner auch ohne Bonner Einverständnis lagern, was und soviel sie wollen.

Mitte der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre wurden die chemischen Kampfstoffe in den USA produziert, die gegenwärtig in den vier süddeutschen Army-Depots gestapelt sind.

Verglichen mit Feuer und Sprengstoff seien es »die humansten aller denkbaren Waffen«, befand Brigadegeneral J. H. Rothschild 1964 als Chef des amerikanischen Chemical Corps: keine Verstümmelungen, keine klaffenden Wunden, keine blutüberströmten Leichen.

Das Kampfgas Sarin (Militärkürzel: GB) beispielsweise, einer der in der Bundesrepublik gegenwärtig gelagerten Kampfstoffe, ist schon in 200fach geringerer Dosis tödlich als das seit dem Ersten Weltkrieg bekannte Atemgift Gelbkreuz. Bei dem Sprühnebel VX, dem anderen gebräuchlichen US-Kampfstoff, reichen schon zwei Tausendstel der Gelbkreuz-Dosis für den Tod.

Beide Substanzen, GB wie VX, wirken - wie ihre nahen Verwandten in der Schädlingsbekämpfung, etwa das E 605 - als Nervengifte. Sie blockieren ein für die Übermittlung von Nervenimpulsen lebenswichtiges Enzym ("Cholinesterase"), so kommt es zu einer Verkrampfung der gesamten Muskulatur. Die Vergifteten ringen und schnappen nach Luft - der Kampf endet mit Atemstillstand, das Opfer erstickt.

Als »besonders heimtückisch« bezeichnete das US-Fachblatt »Chemical Week« das Nervengas GB: »Man kann es nicht sehen, nicht fühlen, nicht schmecken.« Der flüchtige Kampfstoff wird über die Lunge aufgenommen.

»Bernsteinfarben, so ähnlich wie Motoröl« ("Chemical Week") erscheint dagegen der flüssige Kampfstoff VX, der im Einsatz zu einem Nebel zerstäubt wird. VX, das als Kontaktgift vor allem über die Haut wirkt, ist nicht nur der gefährlichste, sondern auch der beständigste aller C-Kampfstoffe.

Während eine nach dem Auftreffen der Granate entstehende GB-Gaswolke (bei 15 Grad Celsius und leichter Brise) schon nach 15 Minuten bis vier Stunden wieder verflogen ist, bleibt das über einem Ziel versprühte VX (unter gleichen Wetterbedingungen) für mindestens drei, maximal 21 Tage wirksam.

Ein Liter des Kampfstoffes VX reicht theoretisch aus, eine Million Menschen zu töten und eine weitere Million lebensgefährlich zu vergiften.

Vier Millionen Liter der Kampfstoffe GB und VX aber, entsprechend etwa dem Inhalt von 130 Tanklastwagen, lagern gegenwärtig in den US-Depots in Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg.

»Bei einem Unfall in einem dieser Depots«, fürchtet Petra Kelly, Bundesvorsitzende der Grünen, »gäbe es eine ungeheure Katastrophe, ein Super-Seveso.« Ganze 700 Gramm Dioxin-Chlorgas hatten 1976 in dem italienischen Chemiewerk ausgereicht, eine ganze Region zu verseuchen. Erst im letzten Jahr haben S.41 Grüne und Umweltschützer die amerikanischen Kampfstoff-Depots als Thema entdeckt.

In Pirmasens gab es im Herbst die erste vom Deutschen Gewerkschaftsbund angeregte Demonstration: 1500 Bürger protestierten gegen die Lagerung von Giftgas in der Pfalz.

Daß von den C-Waffen der Amerikaner auch in Friedenszeiten eine Gefährdung für die Zivilbevölkerung ausgehen kann, ist kaum zu bestreiten. »Annähernd 4000 Lecks pro Jahr, giftige Lecks« seien ihm von den Lagerbeständen chemischer Kampfstoffe gemeldet worden, erklärte US-Senator Henry Jackson vor dem amerikanischen Kongreß.

Dabei ist die amerikanische Bevölkerung informiert darüber, wo Giftgase in den USA produziert oder gelagert werden. Auch entsprechende Katastrophenpläne wurden von den Behörden bekanntgemacht.

In der Bundesrepublik hingegen, so beklagte sich der rheinland-pfälzische DGB-Vorsitzende Julius Lehlbach Ende letzten Jahres in einem Brief an das Bundeskanzleramt, würden »Nervengase transportiert und gelagert, ohne daß der Bevölkerung Katastrophenpläne oder Warnungen für den Fall eines Transportunfalls oder einer Katastrophe im Depot« bekannt seien. Lehlbach: »So kann man mit Ratten, Mäusen und Kaninchen umgehen oder mit Schädlingen, die vergast werden können, nicht aber mit den Bürgern der Bundesrepublik.«

Die Gefahr von Leckagen, im Lager wie beim Transport, ist eines der Hauptargumente, mit denen die Chemie-Fans im Pentagon nunmehr die Reagan-Order begründen und die neuen Kampfstoffe S.43 den westdeutschen Bündnispartnern schmackhaft machen wollen.

Sicherer zu handhaben, mit geringerem Risiko zu lagern und zu transportieren sind die neuartigen binären Kampfstoffe in der Tat. Solange die jeweils zwei Komponenten der Giftmixturen voneinander getrennt bleiben, sind sie nicht gerade reines Brunnenwasser, aber auch nicht besonders gefährlich.

Beim Kampfstoff GB ist eine der beiden Granatenkammern mit dem Wirkstoff Methylphosphonyldifluorid gefüllt, die andere mit gewöhnlichem Isopropylalkohol, wie er als desinfizierender Zusatz in zahlreichen Einreibemitteln und Kosmetika enthalten ist.

Anders als bei dem Flüssigkampfstoff VX (bei dem sich ein Schwefelkern mit einer Substanz namens Ethyldiisopropylaminoethylmethylphosphonit mischt) bedarf es für die tödliche Kombination beim GB keines aufwendigen Rührwerks. Allein durch den Beschleunigungsdruck beim Abschuß der Granate platzt die trennende Membran. Der Granatendrall (etwa 15 000 Umdrehungen pro Minute) bewirkt den erwünschten Multimix-Effekt (siehe Graphik).

Bis unmittelbar vor dem Einsatz können, beim binären GB wie beim VX, die einzelnen Bestandteile getrennt voneinander aufbewahrt werden. Bei GB-Munition beispielsweise lassen sich die beiden Komponenten in Gestalt von handlichen Kanistern in die Granatenbüchse schieben.

Der technische Aufwand in den GB-Granaten und erst recht in den VX-Bomben mit ihrem elektrisch betriebenen Giftmischer ist zweifellos höher als bei herkömmlicher Kampfstoffmunition. Doch der Sechs-Milliarden-Dollar-Einsatz für die Binär-Aufrüstung werde sich, so argumentieren Amerikas Gas-Krieger, »bezahlt machen«, durch zusätzliche Sicherheit und am Ende auch geringere Herstellungs- und Wartungskosten als bei herkömmlichen C-Waffen.

In der Wirkung sind die neuen Binär-Kampfstoffe gleichartig mit denen, die gegenwärtig bei den Amerikanern wie bei den Sowjets in den Depots lagern. Sie alle gehören zu einer tödlichen Wirkstoffgruppe, die einst in den Labors deutscher Chemiewerke entdeckt wurde: In den Forschungsstätten der I.G. Farben wurde 1936 das erste der modernen Nervengifte synthetisiert.

Wenn Pentagon-Strategen nun den chemischen Krieg in ihren Planspielen auf europäischen Schauplätzen ansiedeln, kehrt diese besonders schreckensvolle und exotische Variante der Massentötung wieder dahin zurück, wo sie ihren Anfang nahm: 1,3 Millionen Soldaten im Ersten Weltkrieg erlitten Gasvergiftungen, 91 000 starben am Gift.

Schon zu Beginn des Ersten Weltkriegs waren in Europas Armeen Gerüchte über eine furchteinflößende deutsche »Geheimwaffe« umgelaufen. Die Ahnungen bestätigten sich bald.

Kaum hatte sich die Frankreich-Offensive der Deutschen an der Marne festgefahren, wurde an der Front das Schießpulver knapp. Nach der britischen Seeblockade mangelte es an Kautschuk, Öl und Benzin. In dieser kritischen Lage kamen Pläne auf, das schwankende Kriegsglück durch den Einsatz von Giftgas zu wenden.

Zwar hatte das Deutsche Reich die Haager Konvention unterzeichnet, die den Kriegseinsatz von tödlichen Giftstoffen ächtete. Doch die bedrängten Patrioten in den Führungspositionen unterdrückten ihre Skrupel, als ihnen Carl Duisberg, Chef des Firmenverbundes I.G. Farben, den Vorschlag machte, die brachliegende Chemie-Industrie für die Kampfgas-Produktion anzukurbeln.

Das erste Kriegsgas, ein Chlorkohlenoxid ("T-Mischung"), kam aus den Labors der Farbenfabriken Bayer, Leverkusen; es wurde, im Januar 1915, an der Ostfront erprobt - erfolglos: In der eisigen russischen Winterluft sanken die stinkenden Schwaden, zu Kristallen gefroren, rasch in den Schnee. Die nächste, S.45 diesmal katastrophale Attacke startete der I.G. Farben-Chemiker Fritz Haber im Westen. Am 22. April 1915, zwei Stunden vor Sonnenuntergang, ließ er nahe Langemarck bei Ypern 5000 Metallzylinder in Stellung bringen, die insgesamt 168 Tonnen Chlorgas enthielten.

Als sich das grüngelbe Gewölk verzogen hatte, lagen mehr als 15 000 französische Soldaten mit verätzten Bronchien und Lungen auf dem Schlachtfeld; von den Gasopfern starben 5000 innerhalb der nächsten Stunden. Damit war der Giftkrieg an allen Fronten eröffnet. Bereits einige Wochen später gehörten Gasmasken zur militärischen Standardausrüstung. Ein chemisches Wettrüsten begann.

Im Dezember 1915 unternahmen die Deutschen ihre ersten Angriffe mit Phosgen, einem Erstickungsgift, das zehnmal stärker wirkt als Chlorgas. Rund 80 Prozent der Gas-Toten im Ersten Weltkrieg starben an Phosgen-Vergiftungen.

Mitte 1917 erreichte der Giftkrieg mit dem Einsatz von Senfgas, auch Lost oder Gelbkreuz genannt, die nächste Eskalationsstufe. Der farb- und geruchlose Kampfstoff verursacht monatelang anhaltende Qualen, unter anderem Dauer-Erbrechen, Schwindel, Fieber und vor allem Augenentzündungen, die zum Erblinden führen können. Rund 125 000 Tonnen Giftstoffe wurden zwischen 1915 und 1918 auf den europäischen Schlachtfeldern eingesetzt, in den letzten Kriegsjahren überwiegend Senfgas.

Die Schrecken des Gaskriegs wirkten nach. Den Deutschen, die von allen am Krieg Beteiligten die meisten Gasgranaten abgefeuert hatten, wurde im Vertrag von Versailles die Produktion von chemischen Kampfstoffen verboten.

1925 trat ein internationales Abkommen in Kraft, das die Anwendung chemischer und biologischer Waffen ächtet: die »Genfer Protokolle«, von 42 Nationen unterzeichnet. Die Amerikaner ratifizierten den Vertrag als letzte: erst 1975, nach dem Absprühen von 40 000 Tonnen Herbiziden in Vietnam.

Das chemische Wettrüsten war ohnehin längst wieder in Gang gekommen. Viele der Unterzeichnerländer legten sich Gas-Depots zu. Zwei von ihnen setzten die chemischen Waffen auch ein - Japan im Krieg gegen China und Italien während des Abessinien-Feldzugs: In der Schlacht von Mikale, im Januar 1936, siegten Mussolinis Truppen nach einer Senfgas-Kanonade, die für die barfuß kämpfenden Äthiopier verheerende Folgen hatte.

Im gleichen Jahr, 1936, hatte die Entwicklung der Kriegsgifte den entscheidenden qualitativen Sprung gemacht - wiederum in Deutschland. Dort hatte der I.G. Farben-Chemiker Gerhard Schrader, auf der Suche nach neuen Insektenvertilgungsmitteln, mit Tabun das erste Nervengas entdeckt. Zwei weitere, noch giftigere Nervengase, Sarin und Soman, folgten 1938 und 1943.

Schraders Entdeckung wurde fast bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sorgfältig geheimgehalten. Warum Hitlers Heerführer, sonst nicht gerade zimperlich, auch gegen Kriegsende von den C-Waffen keinen Gebrauch machten, ist bis heute nicht ganz geklärt.

In der ersten, noch erfolgreichen Kriegsphase, vermuten Militärhistoriker, habe Hitler - als Gefreiter einst selber bei einem Gasangriff verwundet - das Risiko eines Giftkrieges vermeiden wollen. Später dagegen, als das Reich den US-Bombern nahezu wehrlos ausgeliefert war, fürchteten die Naziführer offenbar alliierte Vergeltungsschläge. Die rüsselförmige deutsche »Volksgasmaske«, in vielen Millionen Exemplaren verteilt, hätte in der Tat gegen Nervengase nichts vermocht.

Einen Vorschlag von Goebbels, das Nervengas einzusetzen, so berichtet der einstige NS-Rüstungsminister Albert Speer, habe Hitler im Herbst 1944 mit dem Hinweis auf die angelsächsische Luftüberlegenheit verworfen: »Wenn die mit Giftgas aus der Luft kommen, sind wir hilflos.«

In Wahrheit verfügten die Alliierten damals über enorme Phosgen- und Senfgasvorräte, aber - entgegen deutschen Mutmäßungen - noch nicht über Nervengase. Andererseits waren die Deutschen beim Versuch, die Giftstoffe in industriellem Maßstab zu produzieren, auf erhebliche Schwierigkeiten gestoßen.

Nahe Breslau, in Dyhernfurth an der polnischen Grenze, hatte die I.G. Farben eine Produktionsstätte errichtet, die Mitte 1942 in Betrieb gegangen war und insgesamt 12 000 Tonnen Tabun herstellte. Das Gas war allerdings militärisch kaum brauchbar; es zersetzte sich in den Bombenbehältern und verdampfte bei niedrigen Temperaturen nicht.

Nervengaslager samt den zugehörigen Produktionsanlagen fielen Anfang 1945 unversehrt den Alliierten in die Hände (siehe Seite 40). Russische Techniker demontierten die Tabun-Fabrik in Dyhernfurth und schafften sie in die Sowjet-Union. Von nun an waren es sowjetische, britische, französische und amerikanische Chemiker, die weitermachten, S.47 wo die deutschen Forscher aufgehört hatten.

Ergebnisse legten sie ein paar Jahre später vor, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges - die sogenannten V-Kampfstoffe (VE, VX), noch weitaus giftiger als die Vorläufer Tabun und Sarin. Außerdem entwickelten sie ein ganzes Pandämonium von neuen Reiz- und Kampfstoffen sowie BZ, ein Psychogift, das ähnlich wie LSD Halluzinationen und Orientierungsstörungen auslöst.

Damit hatte sich die Chemie-Kriegführung zu einem Spezialgebiet entwickelt, das allerdings selbst in Militärkreisen noch als ziemlich anrüchig galt. In den fünfziger Jahren unternahm das (im Ersten Weltkrieg gegründete) Chemical Corps der U.S. Army beträchtliche Propaganda-Anstrengungen, um den schlechten Ruf der C-Waffen aufzubessern: Es startete die »Operation Blue Skies«, eine PR-Aktion, die das Ziel hatte, den modernen Giftkrieg als eine eher menschenfreundliche Veranstaltung darzustellen.

Hingewiesen wurde dabei vor allem auf jene Kampfstoffe, die nicht tödlich wirken, sondern nur kampfunfähig machen. Auch rechneten Experten vor, daß im Ersten Weltkrieg durch die insgesamt neun Millionen Senfgasgranaten weniger Soldaten gestorben waren, als bei einer gleich großen Anzahl Sprengstoffgranaten umgekommen wären.

Die Kampagne des Chemical Corps hing eng zusammen mit dem Wunsch der Kennedy-Regierung, die Kampfkraft der USA künftig nicht mehr überwiegend auf die atomaren Waffensysteme zu stützen. In den frühen sechziger Jahren wurde das US-Budget für chemische und biologische Waffen ständig erhöht.

Vietnam wurde dann zu einer Art Testgebiet, auf dem das Chemical Corps sein mittlerweile weiter gewachsenes Chemikalien-Angebot erproben konnte. Gift-Spezialisten der U.S. Army pumpten intensiv wirkendes Reizgas in die Tunnelsysteme der Vietkong, ließen Reisfelder mit Pflanzenvernichtungsmitteln besprühen und Zehntausende Hektar Wald chemisch entlauben.

Der Giftkrieg in Vietnam bewirkte zweierlei: Einerseits sank die Hemmschwelle, die bis dahin weltweit den Einsatz chemischer Kampfmittel eingeschränkt hatte. Inzwischen gehören zum Teil gefährlich wirkende Reizgas-Varianten schon zur Standardausrüstung der Polizei. Und immer wieder wurde, zumindest gerüchteweise, auch über kriegsmäßigen Einsatz von C-Waffen berichtet - etwa während des Bürgerkrieges im Jemen 1967 oder beim Einmarsch vietnamesischer Truppen in Kambodscha.

Andererseits aber wuchs, etwa seit 1970, der öffentliche Widerwille gegen den Gift-Einsatz - nicht zuletzt, seit bekannt wurde, daß viele der zuvor für harmlos erklärten Chemikalien schlimme Spätfolgen auslösen können. So erkrankten zahlreiche Vietnam-Veteranen, die jahrelang das Entlaubungsmittel Dioxin ("Agent Orange") in die Flugzeugtanks gefüllt hatten, an Krebs.

Der toxische Schock nach dem Vietnam-Debakel führte zu dem Erlaß Richard Nixons am 19. August 1969, die Produktion chemischer Massenvernichtungswaffen in den USA einzustellen.

Die Popularität chemischer Kampfstoffe bei den US-Strategen sank auf den Nullpunkt. Um erneut an Boden zu gewinnen, griff das Chemical Corps schließlich die - theoretisch schon Jahre zuvor geborene - Idee der binären Kampfstoffe auf. Am 9. Februar 1975 berichtete die »Washington Post« erstmals von Plänen der amerikanischen Marine und Luftwaffe, eine Binärbombe mit Nervengas einzuführen.

Die alljährlich erneut einsetzenden publizistischen Versuche, ein solches Programm in Gang zu setzen, scheiterten jedoch zunächst am Widerstand des US-Kongresses. Im Haushaltsjahr 1975 wurde eine 5,8-Millionen-Dollar-Anforderung für den Bau der C-Waffen-Fabrik in Pine Bluff abgelehnt, desgleichen 1976. Noch 1978 strich US-Präsident Gerald Ford eine entsprechende Anforderung in Höhe von 13,2 Millionen Dollar aus dem Etat-Entwurf des Pentagon.

Erst unter dem Eindruck der vietnamesischen Intervention in Kambodscha und der sowjetischen in Afghanistan - wo die Angreifer nach Berichten von Einheimischen und der CIA chemische Kampfstoffe eingesetzt haben - entschloß sich die Regierung Carter, zumindest die Option für die Wiederaufnahme der C-Waffen-Produktion zu eröffnen. 3,5 Millionen Dollar für den Baubeginn der Kampfstoffabrik Pine Bluff wurden bewilligt.

Ungeklärt ist immer noch die Frage, ob die Sowjets in den steinigen Schluchten Afghanistans tatsächlich Nervengas verschossen haben - die Moskau-treue Regierung in Kabul lehnte es ebenso wie die in Hanoi ab, einer Uno-Kommission Untersuchungen zu gestatten.

Bei einer Anhörung vor einem Kongreßunterausschuß im Februar 1980 fragte der republikanische Abgeordnete Robert J. Lagomarsino zwei hochrangige Geheimdienstbeamte, Edward M. Collin und Bruce C. Clarke: »Verfügen wir hinsichtlich des Gebrauchs von chemischen Waffen in Afghanistan über irgendwelche Informationen, die mehr als Gerüchte sind?«

Collin: »Es gibt keine Bestätigung dafür.«

Lagomarsino: »Weil in der Presse eine Reihe derartiger Gerüchte zu lesen sind, wird allgemein angenommen, daß die S.49 Russen dort chemische Waffen benutzen.«

Clarke: »Ich kann nichts Falsches daran sehen, wenn man solche Gerüchte im Umlauf hält.«

Auch die Kritiker des wiederauflebenden amerikanischen C-Waffen-Programms können allerdings nicht bestreiten, daß die Sowjet-Union für den chemischen Krieg jederzeit gerüstet blieb.

Die Angaben über die Größe der sowjetischen C-Waffen-Arsenale schwanken: Die Sowjet-Union verfüge »über ein Potential von 200 000 Tonnen bis 700 000 Tonnen an feldverwendungsfähiger (chemischer) Munition«, konstatierte der Leiter der Forschungsabteilung der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans Rühle.

Die amerikanischen Systemanalytiker Amoretta Hoeber und Joseph D. Douglass, Berater der Republikanischen Partei, gaben an, »daß die Sowjets über 70 000 bis 100 000 Offiziere und Mannschaften verfügen, die ausschließlich für chemische Kriegführung zuständig« seien. Nach jüngsten Schätzungen der U.S. Defense Intelligence Agency (DIA) sind es nur 50 000 Mann, und zwar »chemische Verteidigungstruppen« - chemische Offensiv-Truppen muß es ohnehin nicht geben, da die Munition aus normalen Haubitzen und Flugzeugen verschossen und abgeworfen wird.

»Alle exakten Kräftevergleiche, wie sie die Befürworter einer chemischen Nachrüstung aufstellen«, meint SPD-Abrüstungsexperte Brauch, seien »propagandistisches Spielmaterial, das wissenschaftlich weder belegt noch widerlegt werden kann«.

Auch Vertreter der US-Geheimdienste äußerten sich vor Kongreßausschüssen meist vorsichtig, wie zum Beispiel G. Henderson von der DIA: »Wir können (das sowjetische C-Waffen-Potential) aus der Sicht der Geheimdienste nicht quantitativ bestimmen ... Wir können nicht durch das Dach eines Gebäudes sehen, deshalb können wir nichts Zuverlässiges feststellen.«

In aller Öffentlichkeit hingegen spielen die beiden Supermächte die Verteidigung im Falle eines Giftkrieges durch. »Zu Tode erschrocken«, berichtete ein Reporter aus Oberhessen, habe »ein altes Mütterchen« auf die vermummte, grotesk maskierte Gestalt eines GI''s reagiert - das war beim Nato-Manöver »Certain Encounter« 1981, als amerikanische Panzertruppen unter simulierten Giftkriegsbedingungen operieren mußten.

Soldaten des Warschauer Paktes agieren genauso - etwa beim Manöver »Druschba 82« in Nordböhmen, wo ein fiktiver Gegner »mit chemischen Waffen« angriff und die Ostblocktruppen einer »erheblichen Belastung« aussetzte.

Die Russen tragen schwer an ihrer Schutzbekleidung gegen C-Kampfstoffe. Ihre Ausrüstung ist sperrig, die Gummianzüge lassen keine Luft durch und können (bei einer Außentemperatur von 21 Grad Celsius) höchstens 45 Minuten lang getragen werden. Gewöhnliche Soldaten haben keine Sprecheinrichtung in den Gasmasken, nur die Offiziere können sich verständlich machen.

Die Nato-Schutzanzüge dagegen sind leichter und »eleganter« ("Harper''s Magazine"). Doch auch sie hemmen jede Bewegung, erschweren die Verständigung, machen Nahrungsaufnahme und Ausscheidungen unmöglich. Spätestens nach sechs Stunden müssen sich Nato-Soldaten in eine giftfreie Zone zurückziehen und sich neu einkleiden: Die Nato hat Wegwerf-Anzüge.

Eine umständliche Prozedur der Entseuchung und Reinigung von vergifteter Ausrüstung lernen Offiziere und Mannschaften in speziellen Lehrgängen. 14 einzelne Schritte verlangt das Dekontaminations-Programm, wie es im amerikanischen Ft. McClellan geübt wird. »Selbst für Hilfeleistende, die Schutzkleidung tragen«, heißt es in einem wehrmedizinischen Handbuch der Bundeswehr, »stellt die Kontamination der Bekleidung der Vergifteten ... noch eine beträchtliche Gefährdung dar.«

Auch Fahrzeuge und Waffen müssen, wenn sie verseucht sind, einer sorgfältigen Reinigung unterzogen werden. Die Sowjets haben dafür eigene Waschstraßen mit Hochdrucksprühdüsen entwickelt, umgebaut aus alten Düsentriebwerken der sowjetischen Luftwaffe.

Sind Gummikleidung und Gasmasken festgezurrt, Spezialhandschuhe und Übergaloschen vorschriftsmäßig angelegt, können Soldaten auf beiden Seiten der Front, zumindest eine Zeitlang, einem chemischen Angriff durchaus standhalten. So ergibt sich ein im Zeitalter der Massenvernichtungswaffen grotesk anmutendes Fazit: daß die chemischen Kampfstoffe nicht so sehr die feindlichen S.52 Truppen vernichten, sondern am Ende wohl überwiegend die ungeschützte Zivilbevölkerung auslöschen werden.

Daß der Einsatz von Nervengiften den Gegner »zum Anlegen von Schutzausrüstung zwingt und damit die Einsatzbereitschaft und Kampfkraft der Truppen herabsetzt« ("Österreichische Militär-Zeitschrift"), gilt den Strategen denn auch schon als taktischer Erfolg, der die Anwendung von C-Waffen rechtfertige.

Auch daß der Gegner mit Dekontaminations- und Ausweich-Manövern so viel zu schaffen hat, gilt als Vorteil auf dem chemischen Kriegsschauplatz. Gerühmt werden ferner, so in der »Österreichischen Militär-Zeitschrift« vom April letzten Jahres, das »breite Einsatzspektrum (der chemischen Waffen) von schädigend bis letal«, die »flächendeckende Wirkung zur Bekämpfung von Zielen, die nicht präzise geortet werden können«, und schließlich der niederschmetternde »Einfluß auf die Kampfmoral«.

In einer anderen Hinsicht halten die Chemo-Strategen ihre Giftgasschwaden für sogar noch der Neutronenwaffe überlegen: »Ihr Einsatz kann zu bedeutenden persönlichen Ausfällen führen, ohne Rüstung und militärische sowie zivile Infrastruktur zu vernichten.«

Auf solche strategischen Vorzüge wollten beide Supermächte noch verzichten, als Leonid Breschnew und Richard M. Nixon 1974 vereinbarten, auf bilateraler Basis Verhandlungen über einen C-Waffen-Verzicht zu führen.

Insgesamt zwölfmal trafen sich Delegationen aus Ost und West zwischen 1976 und 1980 in Genf. Die letzte Runde, im Juli 1980, endete mit »nur bescheidenem Fortschritt, große Hindernisse blieben zu überwinden«, so das amerikanische Verteidigungsministerium. Vor allem die Fragen der Überwachung und Kontrolle von Abrüstungsmaßnahmen waren ungelöst. Ronald Reagan, der neue Mann im Weißen Haus, zeigte freilich kein Interesse mehr an einer Fortführung der C-Waffen-Verhandlungen mit den Sowjets; ein neuer Termin in Genf wurde nicht anberaumt.

Erst jetzt, nach der Entscheidung für die Produktion binärer C-Kampfstoffe, hat die Reagan-Administration in Aussicht gestellt, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Doch Reagan-Kritiker und Gegner des C-Waffen-Projekts im amerikanischen Senat bezeichneten dieses Angebot sogleich als »Zuckerguß«, mit dem die Reagan-Regierung vergebens eine »schlecht schmeckende, ungenießbare Speise« zu versüßen trachte.

Mit einer »sorgsam vorbereiteten Kampagne« (SPD-Abrüstungsexperte Brauch) hatten die C-Waffen-Befürworter der Reagan-Administration die Öffentlichkeit auf die Giftsuppe vorbereitet, die nun in Pine Bluff bereitet wird.

Verteidigungsminister Weinberger und Außenminister Alexander Haig ließen keine Gelegenheit aus, die Kampfstoff-Überlegenheit der Sowjet-Union und »die skrupellose Anwendung« von chemischen Waffen durch die Sowjets und ihre Hilfsvölker zu brandmarken.

»Neue dramatische Beweise« für den angeblich todbringenden Einsatz bestimmter Toxine ("gelber Regen") in Laos und Kambodscha präsentierte das amerikanische Außenministerium im Herbst letzten Jahres - in Gestalt eines verdorrten Blattes. Haig brachte die Nachricht, bei seinem Deutschlandbesuch im September, nach Bonn.

»Lückenhaft, rätselvoll und oft suspekt, was die Herkunft anlangt«, nannte das industrienahe amerikanische Fachblatt »Chemical & Engineering News« die vorgelegten Mykotoxin-Beweise. Vor dem US-Kongreß wurde auch Haig-Assistent Richard Burt vorsichtiger: »Für eine Anklageerhebung« reiche das Material vielleicht gerade aus, für eine Verurteilung »wohl kaum«.

Fünf Fabriken, in denen chemische oder biologische Kampfstoffe produziert würden, wollen amerikanische Geheimdienst-Experten auf Satelliten-Photos von der Sowjet-Union geortet haben, eine davon in Swerdlowsk.

Begierig hatten CIA und US-Außenministerium aus einer obskuren russischen Emigrantenzeitung die Meldung aufgegriffen, eine im April 1979 in der Millionenstadt am Ural ausgebrochene Milzbrand-Epidemie gehe auf einen Unfall in einer Bio-Waffen-Fabrik zurück.

Das Gerücht vom Unfall - angeblich waren dabei »zwischen 20 und 1000« Menschen umgekommen - gilt inzwischen als entkräftet, nicht zuletzt durch einen Bericht des amerikanischen Biochemie-Professors Donald E. Ellis, der sich zu jener Zeit in Swerdlowsk aufgehalten hatte.

Das konnte Dienstag letzter Woche den amerikanischen Delegationsleiter beim Madrider KSZE-Folgetreffen, Max Kampelman, nicht hindern, dieselben Anschuldigungen abermals vorzubringen: In Swerdlowsk habe es einen Unfall mit 1000 Toten gegeben, Moskau habe chemische Waffen in Laos, Kambodscha und Afghanistan eingesetzt und seine Armee »bis hinunter zur Kompanie-Ebene« auf chemische Kriegführung eingestellt. Der Leiter der sowjetischen Delegation, Vizeaußenminister Leonid Iljitschow, wies die Vorwürfe zurück: »Pharisäerhafte Fälschung und Lüge.«

Kampelman hatte das Wortgefecht eröffnet: Die Sowjet-Union habe sich der »vorsätzlichen Verletzungen der Vereinbarung über die Nicht-Anwendung chemischer Waffen« schuldig gemacht. Dies sei der Grund für die amerikanische Entscheidung, wieder C-Kampfstoffe zu produzieren.

Allein im kommenden Haushaltsjahr wollen die Amerikaner mehr als eine Milliarde Dollar für die Herstellung von binären Giftgas-Granaten aufwenden. Und der Erfindergeist amerikanischer Waffen-Techniker ruht nicht.

Gegenwärtig prüfen Experten der U.S. Army die technischen Möglichkeiten, binäre Giftgas-Ladungen mit Marschflugkörpern ("Cruise Missiles") zu transportieren, wie sie von 1984 an in Westeuropa stationiert werden sollen.

»Es wäre das umstrittenste aller denkbaren Systeme für chemische Waffen«, schrieb die »Washington Post«. Zum erstenmal wäre es möglich, von westlichen Startplätzen aus ferngelenkte Giftgas-Angriffe auf Moskau zu starten.

S.32Nato-Übung 1980, nach der Landung auf dem Bundeswehr-FliegerhorstWunstorf bei Hannover.*S.33Ein Kaninchen dient als lebender Detektor für eventuellausströmendes Giftgas.*S.49Oben: Mit Detektor-Ausrüstung zur Bestimmung von Art undKonzentration des Kampfstoffes.*Unten: Entseuchung von Ausrüstungsgegenständen.*

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