Bosnien Tödlicher Irrtum
An diesem Tag gibt es kein Entkommen. Die Serben wissen, wie sie die letzte Verbindung der eingekesselten Stadt mit der Außenwelt kappen können. Im Morgengrauen begann ihre Artillerie zu schießen und hat bis Mittag nicht aufgehört. Das Dauerfeuer wirkt. Der Tunnel bleibt geschlossen.
An ruhigeren Tagen strömen Hunderte zu einer Garage im zerstörten Stadtteil Dobrinja. Dort beginnt der einzige Weg in die Freiheit: mit dem Einstieg in einen Erdschlauch - 1,20 Meter breit, 1,50 Meter hoch -, der an einem Bauernhof bei Hrasnica hinter dem Flughafen endet.
In dem Vorort, keine Viertelstunde entfernt vom Zentrum der bosnischen Hauptstadt, hallen die Explosionen nur noch als dumpfes Echo von den Felswänden wider. Das Donnern und Dröhnen klingt noch unheimlicher als unten in der Stadt.
Von hier führt ein rutschiger Pfad steil hinauf zum 1502 Meter hohen Berg Igman - immer im Blickfeld serbischer Scharfschützen. Wer es bis oben schafft, hat gute Chancen, die von Moslems kontrollierten Verbindungsstraßen in den Süden zu erreichen und der Umklammerung durch die Belagerer zu entkommen.
Der Nachschub durch den Tunnel hält die ausgezehrte Stadt mit Waren und Waffen notdürftig am Leben. Tagsüber quälen sich Schwarzmarkthändler und Zivilisten auf diesem Weg aus dem Ghetto, nachts werden bis zu 300 bosnische Soldaten an andere Fronten geschleust.
Sobald die unterirdische Nabelschnur unterbrochen ist, bleibt nur noch ein Ausweg: in einem Auto mit Panzerglas und einer Sondergenehmigung der Uno-Truppen Unprofor quer über das Rollfeld des Flughafens - ein 2000 Dollar teures Risiko.
»Kamikaze-Verrückte« nennt der Polizeichef von Hrasnica die Leichtfertigen, die auch den Igman mit dem Auto bewältigen wollen. Die Hoffnung, bei einer Nachtfahrt mit ausgeschalteten Scheinwerfern träfen die Serben nicht, hat sich schon oft als tödlicher Irrtum erwiesen.
Im Februar war die »Blaue Straße« über den Igman für kurze Zeit sicher. Damals zwang die Nato die Serben mit einem Ultimatum, den Belagerungsring zu lockern. Vier Wochen später schossen sie wieder ungestraft.
Der Aufstieg zu Fuß quer durchs Gelände ist mühsam, auf dem nassen Geröll gibt es kaum Halt. Sabaheta, 62, kennt die Tücken des Pfades. »Nach Einbruch der Dunkelheit schießen sie auf jeden«, sagt sie. Tagsüber ließen sie zumindest die Zivilisten in Ruhe - wenn »nicht ein Scharfschütze die Nerven verliert«.
In zerrissenen Hausschuhen, einen grauen Strickstrumpf gegen den eisigen Wind auf dem Kopf, schleppt die Moslemin das Gepäck derer, die sich einen Träger leisten können, von Hrasnica den Berg hinauf.
Ihr Nachbar Mustafa humpelt am Stock. Dennoch hat er sich einen großen Koffer auf den Rücken geschnallt. Von dem Erlös aus ihrem Sherpa-Dienst können die beiden überleben - noch. Wenn der erste Schnee fällt, ist der Aufstieg nicht mehr zu schaffen. Ihre einzige Geldquelle versiegt dann bis zum Frühjahr.
Auf halbem Weg läßt sich Sabaheta hinter das Wrack eines von der Straße gestürzten Busses fallen. »Hier sind wir vor Granatsplittern sicher.« Deutlich sind die Schüsse von den Bergen zu hören. Früher, erzählt Mustafa, hätten seine serbischen Nachbarn keine Tasse Kaffee ohne ihn getrunken. Als sein Bauernhaus ausgebombt wurde, zog der Alte mit dem zerfurchten Gesicht in eine Wohnung, aus der Serben geflohen waren.
Nach einer Stunde ist eine Lichtung im Schutz eines Felsvorsprungs zu sehen. Ein weißer Wohnwagen dient als Revier der »bosnischen Polizeiwacht«. Die vier Polizisten frieren und langweilen sich. Heute bleiben sogar die Busse aus, die die Ankommenden normalerweise zum nächsten Ort transportieren.
Inspektor Hoso erklärt sich bereit, selbst zu chauffieren. Er muß erst noch Luft in die ausgeleierten Reifen pumpen, dann steuert er über Schotterwege quer über den Igman. Immer wieder deutet der Beamte auf die nahen Hänge: »Dort, dort sitzen die Tschetniks!«
Die serbischen Killerkommandos beherrschen das Versteckspiel in den Bergen. Auf einigen Gipfeln ist die serbische Fahne zu sehen. Niemand weiß genau, wo die Schützen verborgen sind, weil sie ständig rochieren, wie Schachfiguren, die den Feind einkreisen.
Wer bis Pazaric kommt, hat das Epizentrum des Kriegsgebiets hinter sich gelassen. Ein Schlagbaum trennt die steinige Piste von der asphaltierten Bundesstraße.
Doch die Schranke bleibt geschlossen. Bosnische Beamte bestehen auf einer schriftlichen Genehmigung aus Sarajevo, die Region verlassen zu dürfen. Erst mit der kühnen Lüge, der bosnische Präsident persönlich habe die Reise empfohlen, lassen sich die Aufpasser umstimmen.
In Jablanica übernimmt Emir den Transport. Er hat im Kampf gegen die Serben einen Fuß verloren. Mit dem Stumpf drückt er aufs Gaspedal, meist zu heftig. Das Auto schleudert durch jede Kurve.
Emir darf nur bis zum bosnischen Checkpoint vor Mostar. Dann muß er umkehren. Im kroatischen Teil, in Herzeg-Bosnien, sind Moslems unerwünscht.
Wer weiter will, muß lange warten. Weder am Checkpoint der spanischen Blauhelme noch an der Station der Kroaten weiß man weiter. Um fünf Uhr nachmittags wird die Brücke zwischen dem moslemischen und dem kroatischen Teil Mostars geschlossen. Nur dort gäbe es jetzt noch die Chance weiterzureisen.
Im engen Container der kroatischen Polizei hockt ein Busfahrer; sein Arm ist bandagiert, das Gesicht blutet aus unzähligen Wunden, die die Splitter gerissen haben. Der Mann steht unter Schock. Vor noch nicht einer Stunde feuerten Serben vom Berg Velez Granaten ins Tal auf zwei Busse, die Mostar fast erreicht hatten. Zwei Passagiere starben, acht wurden schwer verletzt.
Für eine Stunde bleibt die Straße zwischen Mostar und Metkovic gesperrt. Aber nicht, weil die zerschossenen Busse zur Seite geräumt und die Verletzten versorgt werden müßten: Frische kroatische Soldaten werden mit einem Konvoi ins Kriegsgebiet transportiert.
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_148b Bosnien-Herzegowina: Fluchtweg aus Sarajevo hinaus zum Berg
Igman
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