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PANZERKETTEN Tödliches Polster

aus DER SPIEGEL 6/1965

Nebenkläger Helmut Spitzbarth, 53, sprang auf: »Der Tod meiner Tochter hat mich vier Jahre gequält, und das ist Schuld der schleswig-holsteinischen Justiz.« Es war am Dienstag letzter Woche im holzgetäfelten Saal des erweiterten Schöffengerichts in Itzehoe: Spitzbarth unterbrach den der fahrlässigen Tötung angeklagten Bundeswehrmajor Wolfgang Boehnke, 40, bei der Aussage.

Spitzbarths Tochter Heike, 13, war am 9. Juni 1960 auf dem Weg zur Schule bei Jevenstedt von einem hochgeschleuderten Panzerkettenpolster erschlagen worden. Das drei Kilo schwere Hartgummi-Polster flog von einem Fla-Panzer M 42 ab, der in Kolonne von Rendsburg nach Lüneburg unterwegs war. Die Einheit wurde von Boehnke kommandiert, doch die Staatsanwaltschaft zögerte lange, Anklage wegen fahrlässiger Tötung zu erheben.

Mehr als drei Jahre dauerte es, bis es zur ersten Verhandlung vor dem Rendsburger Schöffengericht kam. Dann wurde Boehnke, am 3. Dezember 1963, wegen erwiesener Unschuld freigesprochen.

Das Oberlandesgericht Schleswig verwies den Fall jedoch zur erneuten Verhandlung an das erweiterte Schöffengericht Itzehoe. Die Revisionsinstanz traf zwei Feststellungen, die bis dahin nicht in den Akten zu lesen waren:

- »Verantwortlich für das rechtswidrige Fahren dieser Panzer auf öffentlicher Straße ist zunächst der Kommandeur, Oberstleutnant Haberlandt.«

- »Verantwortlich ist ferner das Kölner Truppenamt der Bundeswehr, Referent Oberstleutnant Scharrer.«

Spitzbarths Anwalt Heinz Treichel griff die Schleswiger OLG-Thesen letzte Woche im Itzehoer Gerichtssaal auf: »Wir sind der Auffassung, wir müssen einen weiter gehenden Kreis zur Verantwortung ziehen.«

Tatsächlich stand mittlerweile fest, daß ein großer Personenkreis über die Mängel an der Kettenpolsterung informiert war. Allein die 21 Panzer aus Boehnkes Kolonne verloren auf dem Marsch von Rendsburg nach Lüneburg mehr als 90 Polster, die von einem Raum-Kommando in Säcke eingesammelt wurden.

Der vom Oberlandesgericht in den Kreis der Mitverantwortlichen gerückte Kurt Haberlandt - inzwischen pensioniert - erschien als Zeuge und erinnerte sich, die Kettenpolster seien »schon immer von den Panzern gefallen. Sie waren aber keine Gefahr«. Daher ließ Haberlandt Boehnkes Panzer-Kolonne nach dem Unfall weitermarschieren.

Auch der Angeklagte Boehnke bekundete, er habe nicht gewußt, daß die Polster durch die Luft fliegen konnten. »Wenn ich geahnt hätte, da ist was faul, hätte ich die Übung nie angetreten.« Der Bundeswehrmajor erklärte den Polster-Abfall mit »Materialpfuscherei der Hersteller und fehlerhaften Wartungsanweisungen«.

Die Kettenpolster stammten aus den Backhaus-Werken in Remscheid, die zu Franz-Josef Straußens Zeiten vom Verteidigungsministerium bevorzugt mit Rüstungsaufträgen bedacht wurden. Der Oberregierungsrat a.D. Rau, ehemaliger Referent in der Abteilung Technik des Verteidigungsministeriums, begründete schon in der ersten Instanz als Zeuge diese Praxis so: »Es lag eine bestimmte Weisung in unserem Hause vor.«

Für die Backhaus-Werke war zeitweilig der Rüstungslobbyist Dr. Aloys Brandenstein tätig, der als »Onkel Aloys« mit der Familie der Strauß -Gattin Marianne, geborene Zwicknagl, harmonierte (SPIEGEL 39/1962).

Mit seiner Hilfe wurden die Backhaus-Werke 1959 von dem bayrischen Industriellen Carl Diehl übernommen und in Diehl KG umbenannt. Die Produktionsmethoden änderten sich nicht. Es wurde so salopp gearbeitet, daß sogar die werkseigenen Prüfer rebellierten.

Wie es um die amtlichen Prüfer bestellt war, enthüllte 1963 der »Stern«. Das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (BWB) habe seit Jahren in Remscheid zur Abnahme der Ketten »eine bemerkenswerte Mannschaft« stationiert: »einen Dreher, einen Autoschlosser und einen Gendarmen, der ... nicht einmal das einfachste Meßinstrument, eine 'Schublehre', bedienen konnte. Keiner der drei verfügte über die mindesten metallurgischen Kenntnisse.«

Gleichwohl lobte der Regierungsdirektor Schnell vom Verteidigungsministerium im selben Jahr die Remscheider Fabrikate: »Bei Diehl-Ketten gibt es keine Reklamationen.«

Dabei mußte das Verteidigungsministerium seit dem Sommer 1958 wissen, wie sich Remscheider Ketten bei der Truppe bewährten. Die Panzerjägerschule Munster (Lager) hatte bereits am 8. August 1958 (AZ.: 32-01-18 Tgb.-Nr. 8751/58) das Ergebnis eines 250-Kilometer-Tests mitgeteilt: Von jeweils 100 geprüften Hartgummipolstern - in Stahlschalen gebettet - wurden 35 Polster zu 40 bis 60 Prozent und 50 Polster zu 20 bis 40 Prozent beschädigt, 15 Stück flogen jeweils von den Panzers ketten ab.

Die Schule in Munster bemängelte ferner:

- Die Qualität des Hartgummis der Backhaus-Polster hielt einem Vergleich mit denen aus amerikanischer Fertigung nicht stand.

- Die Befestigung der Polster mit Stahlschalen ließ sehr zu wünschen übrig; sie begannen nach 100 Kilometer Fahrstrecke zu wackeln.

- Das technisch einwandfreie Nachziehen der Befestigungsmuttern war nicht möglich, »weil die Bundeswehr nicht über zeitgemäße elektrische Schlagschrauber verfügt«.

Dennoch verstrichen fast 18 Monate, ehe das Verteidigungsministerium reagierte. Der vom Schleswiger Oberlandesgericht ebenfalls als mitverantwortlich für das Polster-Unglück erachtete Referent des Kölner Truppenamts, Oberstleutnant Scharrer, ließ erst am 21. Januar 1960 per Fernschreiben die weitere Montage der Kettenpolster verbieten. Bei der Truppe aber wurde der Befehl so verstanden, daß bereits montierte Polster noch benutzt werden durften.

Ein »gewisses Mitverschulden des Oberstleutnants Haberlandt und höherer Stellen imVerteidigungsministerium, die die Panzer weiter fahren ließen«, wollte auch der Staatsanwalt letzte Woche dem Angeklagten Boehnke strafmildernd angerechnet wissen. Sein Antrag: zwei Monate Gefängnis mit Bewährung.

Das Schöffengericht sprach Boehnke am letzten Freitag frei. Zwar liege - so hieß es in der Urteilsbegründung - zweifellos eine fahrlässige Tötung vor, zurückzuführen auf eine Übertretung der Straßenverkehrsordnung. Doch der Angeklagte habe auf Befehl gehandelt; er hätte diesen Befehl verweigern müssen, sobald er erkannte, daß er damit gegen das Strafgesetz verstieß. Das Gericht aber könne Boehnkes Aussage, er habe die Übertretung nicht erkannt, nicht widerlegen.

Nebenkläger Spitzbarth (l.), Angeklagter Boehnke (r.)*: Onkel Aloys und die Ketten

* Vor dem Gericht in Itzehoe.

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