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»Tötet die schwarzen Bastarde«

In den schwarzen Elendsvierteln englischer Großstädte jagen weiße Schlägertrupps farbige Opfer. Die faschistische »National Front« predigt Rassenhaß, Parlamentarier verlangen die Rückführung der zwei Millionen farbigen Briten in ihre Ursprungsländer: Rassismus im ehemals toleranten England, gefährliches Erbe des Empire.
aus DER SPIEGEL 31/1978

Sonntag, 25. Juni 1978, 2.40 Uhr morgens, im Ost-Londoner Stadtteil Spitalfields: Der Schneider Ah Ishaque, 45, und sein Neffe Faruk ed-Din kommen von der Spätschicht und wollen nach Hause. Die Straßen sind leer, die beiden Bengalen haben nur noch 400 Meter zu ihrem Haus zurückzulegen, als ihnen von drei weißen Jugendlichen der Weg verstellt wird.

Erst fragen die drei nur nach der Uhrzeit, dann verlangen sie Geld, schließlich kommen sie zur Sache: Unvermittelt schlagen sie auf die beiden Farbigen ein, bis Ah bewußtlos zusammenbricht. Wenige Stunden später stirbt er im Krankenhaus an seinen Verletzungen.

Der Mord in der Urswick Road ist kein Einzelfall. In Spitalfields wurde der Bengale Altab Ah, 25, von weißen Rowdys erstochen, wenig später ein zehn Jahres altes Mädchen, ebenfalls Inderin von Geburt, aus einem vorbeifahrenden Auto beschossen. Niemand kümmerte sich zunächst um das blutend auf der Straße liegende Kind.

Am Wochenende vor dem Überfall auf Ah Ishaque liefen 200 »Skinheads«, weiße Rocker mit kahlgeschorenem Kopf und in Ledermontur, in der benachbarten Brick Lane Amok. Am hellichten Tage warfen sie Steine und Milchflaschen in die Schaufenster indischer Geschäfte. Während sie durch die kleine Straße tobten, skandierten sie ihr Glaubensbekenntnis »Tötet die schwarzen Bastarde« und »Schwarze raus«.

In vielen schwarzen Ballungsgebieten der Industriestädte Großbritanniens, in den dunklen Straßen der Elendsviertel von London, Birmingham und Leicester, lauern nachts weiße Schlägertrupps auf farbige Opfer. Farbige Frauen fürchten sich selbst bei Tage, Einkäufe zu machen, Kinder dürfen nicht mehr alleine zur Schule gehen, Halbwüchsige wagen sich nachts nicht einmal mehr in Gruppen auf die Straße oder in die U-Bahn.

Aber nicht nur die Farbigen, auch die Weißen haben Angst. Die britische Oppositionsführerin Margaret Thatcher sprach in einem Fernseh-lnterview über die farbigen Einwanderer aus Englands untergegangenem Kolonialreich nur aus, was die Mehrheit ihrer Landsleute seit langem denkt: »Das Volk befürchtet, daß dieses Land von Menschen mit einer fremden Kultur überschwemmt wird ... Wenn der britische Charakter, der so viel für die Demokratie und das Recht in der ganzen Welt getan hat, verfälscht wird, dann werden die Menschen sich wehren.«

Wie sehr sich die britischen Menschen (weiß) bereits wehren, ist an Meinungsumfragen abzulesen: Nur 2 Tage vor der Thatcher-Rede hatte die Labour Party in der Gunst der Wähler vier Prozentpunkte vor den Konservativen gelegen. Nun katapultierten sich die Konservativen auf 18 Prozent Vorsprung vor Labour. Margaret Thatchers Ruf nach einem »klaren Ende der farbigen Einwanderung« machte die Beziehungen zwischen Schwarz und Weiß jählings zum beherrschenden Thema der britischen Innenpolitik -- aber nicht nur das.

Margaret Thatcher, behauptete das Magazin »Crisis«, habe den »Rassenhaß gesellschaftsfähig« gemacht, jedenfalls aber die latente Bereitschaft der Briten angeheizt, für ihre Gegenwartsnöte sichtbare Prügelknaben zu Orten -- »und Schwarz ist sichtbar«, schrieb der »Observer«.

Der politische Seelenzustand der Menschen, die Straßenschlachten in den Städten, die Gewalt gegen Andersartige erinnern an die düstere Zeit, bevor in Deutschland die Nazis die Macht übernahmen. Von einer solchen Gefahr kann in England gewiß keine Rede sein. Doch schon der Gedanke »Rassismus in England« scheint ungeheuerlich, ein Widerspruch in sich angesichts so anerkannter und gepriesener Briten-Werte wie Toleranz, Weltläufigkeit und Gerechtigkeitssinn. Sind diese Tugenden in England nur eine Illusion? Waren sie es womöglich gar immer?

Die Engländer selbst stellen sich diese Fragen noch nicht. Irritiert bemerkte der Schriftsteller David Edgar, dessen Bühnenstück »Destiny« den Aufstieg der nazistischen »National Front« behandelt, »eine Tendenz unserer intellektuellen Elite, an dem alten Mythos festzuhalten: »lt cannot happen here«. Wir wollen uns nicht von dem liebgewordenen Glauben trennen, daß jeglicher Rassismus einzig Merkmal dieser komischen (Kontinental-)Europäer mit ihrer hysterischen Mentalität ist«.

Doch der britische Hochmut paßt nach Auffassung Edgars nicht mehr in unsere Zeit: »In den vergangenen Jahren sind in diesem Land Dinge passiert, Straßenschlachten zwischen Faschisten und Anti-Faschisten, die hier bislang undenkbar waren.

Auch der Soziologie-Professor John Rex von der University of Warwick sieht »eine gefährliche Tendenz unserer politischen Führung, so zu tun, als gäbe es in diesem Land überhaupt keine rassistischen Vorurteile«.

Und Professor Ralf Dahrendorf, Direktor der London School of Economics, der sein Gastland in der Regel tapfer verteidigt, hat feststellen müssen, daß die Rassenfrage »eines der ganz wenigen Themen ist, über die ich hier nicht ernsthaft reden kann. Ich mache mir richtige Sorgen in diesem Zusammenhang und glaube, daß die Rassenfrage dazu führen kann, daß die friedlichste Gesellschaft Europas möglicherweise zur gewalttätigsten wird«.

Dahrendorf stellte einen »lebensgefährlichen Verniedlichungs-Prozeß« fest und glaubt, daß die »Bombe, die im Keller des britischen Bewußtseins tickt«, nur zu entschärfen sei, »wenn offen über die Gefahr geredet wird«.

Bislang keine Spur davon. Voll Bitterkeit sehen viele Briten auf die »schwarzen Bürger eines Empire, in dem die Sonne längst untergegangen ist« ("Daily Mail"). Die Briten vergessen dabei, daß die Zuwanderer kamen, als die britische Sonne noch halbwegs schien -- und daß sie fast ausnahmslos geholt wurden.

In den 50er und Anfang der 60er Jahre, als sich die Wachstumsgesellschaften Kontinental-Europas in den Mittelmeer-Ländern mit billigen Arbeitskräften versorgten, als Millionen Gastarbeiter in die Fabriken und auf die Baustellen in Frankreich, Deutschland, Holland und Belgien strömten, standen den Briten noch billigere Arbeitskräfte zur Verfügung.

In den Kolonien der Karibik sowie in den Commonwealth-Ländern des indischen Sub-Kontinents und Afrikas warben Regierung und große Unternehmen Arbeiter für jene Jobs an, in denen die Briten schon damals nicht mehr arbeiten wollten -- Müllabfuhr, Nachtschichten in der Schwerindustrie, Knochenarbeit im Transportgewerbe.

»London Transport« rekrutierte Busschaffner in der Karibik, der Dachverband des Hotel- und Gaststättengewerbes warb dort Kellner an, aus Indien und Pakistan holte die britische Schwerindustrie Schichtarbeiter für die Nacht.

Kaum jemand machte sich darüber Gedanken, ob die Exoten auch wieder gehen würden, wenn man sie nicht mehr brauchte. Erleichtert meldeten die Arbeitsämter: »Farbige Arbeitnehmer entspannen den Arbeitsmarkt.«

Rechtliche Hemmnisse für die Zuwanderung gab es nicht: Theoretisch konnte jeder Bürger aller Mitgliedsländer des Commonwealth, aller Kolonien und abhängigen Gebiete ohne weitere Formalität ins Mutterland reisen -- 950 Millionen Menschen.

Als dann aber der erste Nachkriegsboom der britischen Wirtschaft verflachte, änderte sich die Stimmung. Plötzlich erkannten die Briten, daß ihr Land, in dem noch 1950 weniger als 100 000 Farbige lebten, ein Rassenproblem hatte. Denn 1962 gab es bereits 612 000 Farbige in England.

1962 auch wurde daraufhin der »Commonwealth Immigrants Act« verabschiedet. Von nun an regulierte ein Gutschein-System das Recht auf einen Arbeitsplatz in England, das zwischen ausgebildeten Berufen und Hilfskräften differenzierte -- was eigentlich gemeint war, wurde bald klar:

Nur noch qualifizierte Kräfte durften fortan nach England einreisen, von den 3976 Indern des Jahres 1966 etwa waren 1511 Ärzte, 676 Lehrer, 1391 andere Akademiker und 407 Angehöri-

* Nach einer Demonstration der rechten »National Front« geht Polizei gegen linke Gegendemonstranten vor.

ge anderer Spezialistenberufe: Ausbeutung der Ex-Kolonien, als ob sie noch Kolonien wären.

1968 beschränkte dann der zweite (und 1971 ergänzte) »Commonwealth Immigrants Act« das Recht auf freie Einreise ins Vereinigte Königreich auf solche Bürger des Commonwealth, die gleichzeitig sogenannte »patrials« sind -- britische Untertanen, deren Eltern oder mindestens ein Großeltern-Teil in England selbst geboren wurden. Wenige Farbige in Indien und Afrika können das von sich behaupten.

Niemand weiß aber genau, wieviel es sind -- und aus dieser Unsicherheit schlugen die Gegner der Einwanderungspolitik Kapital. Sie handeln mit astronomischen Zahlen, schrecken mit einer nach Millionen zählenden Einwanderermasse, die, rund um den Globus verteilt, angeblich nur darauf warte, England überschwemmen zu können.

Gibt es doch nach dem Gesetz 950 Millionen »British Subjects«, knapp ein Viertel der Erdbevölkerung, auch wenn der konservative Abgeordnete Edward Gardiner zutreffend bemerkte: »Es ist völlig klar, daß die meisten dieser 950 Millionen Menschen keine engere Beziehung zu Britannien oder zur Krone haben als der Mann im Mond.«

1969 stellte eine Untersuchung der Universität von Sussex fest, daß schon damals nur noch etwa 236 000 »patrials« darauf warteten, nach England geholt zu werden. Seither sind mindestens 200 000 von ihnen angekommen.

So dient denn die Angst vor der angeblichen Einwandererflut oft nur dazu, grundsätzliche Abneigung gegen Farbige zu kaschieren.

»Wir müssen die tiefe Erbitterung einfacher Menschen verstehen, die glaubten, in Lancashire zu leben, und eines schönen Tages in Neu-Delhi, Kalkutta oder Jamaika aufwachen«, sagte der konservative Abgeordnete Winston Churchill jr., Enkel des großen Churchill, im Unterhaus. Noch klarer äußert sich der rechtskonservative Unterhausabgeordnete Enoch Powell, der seit Jahren die Zwangs-Repatriierung der schwarzen Minderheit fordert (siehe SPIEGEL-Interview Seite 116).

Was Churchill und Powell meinen, wird jedem klar, der durch die Ost-Londoner Stadtteile Hackney und Lewisham fährt oder den Nord-Londoner Stadtteil Brent besucht, wo beinahe jeder zweite Einwohner dunkelhäutig ist, wer den westindischen Karneval im West-Londoner Notting Hill beobachtet oder im Süd-Londoner Clapham in die U-Bahn steigt: Nur noch. wenig erinnert in der Tat daran, daß dies England ist.

In diesen farbigen Ballungsgebieten ebenso wie in den Farbigen-Gettos von Birmingham, Manchester, Leicester oder Bradford ist das soziale Elend mit Händen greifbar, terrorisieren Banden schwarzer Jugendlicher »weiße Eindringlinge«, macht andererseits die Polizei nicht viel Federlesens: Wer schwarz ist und nach Einbruch der Dunkelheit an einer Ecke steht, muß damit rechnen, festgenommen zu werden -- oft unter so fadenscheinigen Begründungen wie dem »Verdacht des Herumlungerns mit dem Ziel, eine strafbare Handlung begehen zu wollen«.

Der Sozialwissenschaftler George Brown vom Crawley Institute of Technology stellte am Beispiel der kleinen Industriestadt Hansworth bei Birmingham (50 000 Einwohner, davon 13 000 Farbige) fest, daß das Verhalten zwischen Polizei und Farbigen mittlerweile »einem Kriegszustand ähnelt«.

Dabei verwechseln weiße Briten Ursache und Wirkung, wenn sie die Verelendung schwarzer Viertel beklagen. Der Stadtteil Lewisham in Südost-London ist ein gutes Beispiel dafür, wie und warum eine Gegend »schwarz wird": 1931 lebten in Lewisham 327 000 Menschen, 1973 waren es nur noch 259 000. Der triste Zustand der zunehmend verfallenden sozial finanzierten Altbauten hatte die Weißen weggetrieben, kinderreiche Familien junger Farbiger drängten in die veralteten Wohnungen nach. Während die Gesamtbevölkerung abnahm, stieg der Anteil der Farbigen auf 15 Prozent.

Einsparungen im Sozial-Etat von Regierung und Stadt hatten zur Folge, daß die Budgets der Gesundheits- und Schulbehörde gekürzt, Buslinien stillgelegt wurden -- in einem Stadtteil, von dem aus zwei Drittel der Bevölkerung wegen Arbeitsplatz-Mangel in andere Stadtteile fahren müssen. Folge: Von 1974 bis 1975 stieg die Arbeitslosigkeit in Lewisham um 85 Prozent, die der Schwarzen aber gar um 157 Prozent.

Im Laufe der Jahre verdrängten die zurückgebliebenen Weißen die Ursachen für die Verelendung ihrer Stadt, greifbar und sichtbar blieb nur die Zunahme des schwarzen Bevölkerungsteils. Mit fast zwingender Logik wurde ihm die Schuld für den Niedergang von Lewisham zugeschoben.

Dabei werden Zuwanderer aus dem untergegangenen Empire auf nahezu allen Lebensgebieten benachteiligt, obschon sie dem Buchstaben nach gleichberechtigte Bürger im einstigen Kolonial-Mutterland sind und nach dem Gesetz über die Beziehungen zwischen den Rassen von 1976 kein Brite wegen seiner Rassenzugehörigkeit benachteiligt werden darf. Einfallsreich sorgen viele weiße Unternehmer dafür, daß sich in ihren Betrieben niemand einschleicht mit »einem verdammten Sonnenbrand« -- so der Titel eines Berichtes des »Council for Community Relations« von Wandsworth, in dem die Angestellte einer großen privaten Arbeitsvermittlungs-Agentur beschreibt, wie ihre Kunden über Schlüsselworte. etwa »kein Sonnenbrand« oder »perfektes Englisch«, die Farbigen selbst von niedrigsten Beschäftigungen auszuschließen wissen.

Selbst nachgewiesene Verstöße gegen das Gesetz von 1976 können nur mit Geldstrafen geahndet werden -- und dieses Risiko decken viele Arbeitgeber bei Versicherungsanstalten ab, wie der »Daily Telegraph« meldete.

Genaue Zahlen über Diskriminierung am Arbeitsplatz gibt es nicht, Fälle gibt es genug. In vielen Stadtteilen sind 60 Prozent und mehr der schwarzen Jugend arbeitslos. Und wenn die Londoner Flughafenbehörde von 584 Lehrstellen nur 12 mit Farbigen besetzte, so sicher auch deshalb, weil den Bewerbungsschreiben eine Photographie des Applikanten beiliegen mußte.

Oft freilich wird deutlich, was gemeint ist: Ein Pakistaner nahm, nachdem er 15 Jahre in den »Copper Works« der »Yorkshire Imperial Metals« gearbeitet hatte, seinen ersten Urlaub. Als er sich wieder zur Arbeit meldete, mußte er sich einem Sprach- und Intelligenztest unterziehen. Die Geschäftsführung behauptete später, daß er ihn nicht bestanden habe -- der Mann erhielt seine alte Stelle nicht zurück.

Die Verkehrsbetriebe der mittelenglischen Industriestadt Leeds entwickelten ein geniales Verfahren, indische Bewerberinnen als Busschaffnerinnen auszuschließen: Sie führten ein Mindestgewicht ein. Da Inderinnen in der Regel leichter sind als die stämmige mittelenglische Standardfrau, hat Leeds nur weiße Busschaffnerinnen. Für Maurice Ludmer, den Präsidenten des Gewerkschaftsbundes von Birmingham und Herausgeber der Monatszeitschrift »Searchlight«, gibt es nur eine Erklärung für die Art der Ablehnung, mit der viele Briten ihren schwarzen Landsleuten begegnen: »350 Jahre Kolonialgeschichte haben als natürliche Folge im britischen Volk tiefsitzenden Rassismus hinterlassen.«

Dieser latente Rassismus wird von einer offen faschistischen politischen Partei genutzt, der »National Front« (NF). Elf Jahre nach Gründung gedeiht das Bündnis der Rassenkämpfer, die ein »Britannien der Briten« wollen, von Wahl zu Wahl besser. Bei mehreren Nachwahlen zum Unterhaus überflügelten die Rechten die Liberale Partei, bei Kommunalwahlen in London im vergangenen Jahr gelang ihnen das schon in 34 von 94 Wahlkreisen.

Mindestens 318 Direktkandidaten will die »Front« bei den nächsten Parlamentswahlen aufstellen, die vermutlich im Oktober stattfinden werden, und sich dadurch Sendezeit auf den britischen Fernseh-Kanälen sichern.

Die Parteizeitung der National Front, »Spearhead« (Speerspitze), veröffentlicht nach Nazi-Vorbild pseudowissenschaftliche Beweise für den angeblich minderen Wert der Schwarzen, etwa Schädelzeichnungen, wonach die fliehende Stirn eines Negers geringere Gehirnmasse belegen soll.

Immer häufiger muß ein Massenaufgebot von Polizei provokative Veranstaltungen der NF in Stadtgebieten mit hohem Farbigen-Anteil schützen, sei es, als die »Front« zum Klang von Trommeln durch Manchester marschierte, oder sei es im Londoner Stadtteil Lewisham, wo 4000 Bobbies, ein Viertel der gesamten Londoner Polizeimacht, NF-ler und antifaschistische Gegendemonstranten trennen mußte: Bei dieser »Schlacht von Lewisham« wurden 110 Menschen verletzt, 214 verhaftet und, zum ersten Mal bei einer politischen Veranstaltung in England, wurde Ammoniak-Gas eingesetzt -- von trotzkistischen Demonstranten.

Die »Front«, gegenwärtig etwa 18 000 eingeschriebene Mitglieder stark und mit besonderer Resonanz bei der desillusionierten Arbeiterjugend, ist stramm nach Nazi-Vorbild organisiert. Ihr Führer John Tyndall läßt sich von einer »Honour Guard«, einer Art Leibstandarte, schützen.

Das Programm der »Front« ist so einfach wie einprägsam und wird von ihren Anhängern bei Umzügen skandiert: »Weiße Rasse, große Klasse«,

* Oben rechts: Eine Delegation von Asiaten aus Kenia auf dem Weg zum Sitz des Premierministers. Plakattext: »Dies ist unsere Heimat und unsere Zuflucht.«

»Schwarz und kraus, schmeißt sie raus«, »Gesinnung rot, schlagt sie tot«.

Tyndall selbst äußert sich ebenso unverblümt:« Liberalistische Propaganda versucht uns weiszumachen, daß der Haß etwas Unmoralisches sei. In Wirklichkeit ist die Fähigkeit zu hassen in jedem gesunden Mann und jeder gesunden Frau.«

Klare Worte, die von der konservativen Parteichefin Margaret Thatcher nicht mal als schlechthin negativ bewertet werden: »Einige Leute stimmen nicht mit den Zielen der NF überein, aber sie sagen, daß da wenigstens über einige Probleme gesprochen wird.«

Recht hat sie wohl, die eiserne »Maggie«. Denn nach einer Untersuchung des Archivs für Meinungsumfragen an der Universität von Essex können die Konservativen mit einer konsequent harten Rassenpolitik mindestens vier Millionen Wähler gewinnen.

Innenminister Merlyn Rees verurteilte den gefühlsbeladenen Appell Margaret Thatchers, weil sie »den Rassenhaß respektabel gemacht und die Bedrohung der öffentlichen Ordnung angeheizt« habe.

Vor allem aber außerhalb der Parteien sammelt sich der Widerstand gegen den organisierten Rassismus: Die vor einigen Monaten gegründete Anti-Nazi-Liga, die von etwa 100 Gewerkschaften und Verbänden mitgetragen wird, mobilisierte im April 80 000 Teilnehmer zu einem »Rock gegen Rassismus« im Londoner Victoria Park.

»Liga«-Trupps« deren einzige Aufgabe die Beseitigung faschistischer Parolen an Häuser- und Plakatwänden ist, fahnden nach Nazi-Spuren. Selbst in Fußballvereinen entstanden Anti-Nazi-Zellen, so bei den »Tottenham Hotspurs« die »Spurs against Nazis«.

Viele Farbige sehen im Selbstschutz ihre einzige Chance. Im Bethnal Green-Viertel von Ost-London drohten Briten indischer Herkunft damit, das Gesetz in eigene Hand zu nehmen, nachdem weiße Schlägerhorden an vier aufeinanderfolgenden Wochenenden durch ihr Stadtviertel getobt waren. Altafur Rahman, 23, Schneider aus Bangladesch: »Wenn sie das nächste Mal kommen, sind wir vorbereitet.«

Aber auch die andere Seite schreitet zur angeblich befreienden Tat: Nach einem Straßenraub-Prozeß gegen sechs Westinder im berühmten Gerichtsgebäude Old Bailey forderte Richter Gwyn Morris die weißen Bürger auf, in Stadtvierteln mit hoher Verbrechensquote Freiwilligen-Trupps zum Selbstschutz aufzustellen -- ein »Appell zur Lynchjustiz«, schauderte es den liberalen »Guardian«.

* »Wir glauben an die Gemeinschaft der Menschen ohne Klassen-, Geschlechter- und Rassenachranken.«

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