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NORDRHEIN-WESTFAHLEN Tolles Durcheinander

aus DER SPIEGEL 43/1966

In höchster Eile ließ sich Franz Meyers, Premier an Rhein und Ruhr, mit seinem neuen Justizminister Friedrich Vogel zur Kanzlei des Düsseldorfer Notars Dr. Theodor Eigel fahren. Gegen 14 Uhr nahmen beide aufatmend ein gesiegeltes Papier in Empfang: die notariell beglaubigte Erklärung des Christdemokraten Vogel, er lege sein Mandat als Bundestagsabgeordneter nieder. Eine Stunde später wurde Vogel von Landtagspräsident John van Nes Ziegler (SPD) auf sein neues Amt vereidigt.

Jurist Nes Ziegler hatte den Dr. jur. Meyers und den Landgerichtsrat außer Diensten Vogel vor einer juristischen Peinlichkeit bewahrt. Rund zwölf Wochen lang hatte Meyers nach einem Justizminister für sein im Juli etabliertes Kabinett suchen müssen: Des parteiinternen Proporzes wegen mußte er Christdemokrat, evangelisch, Westfale sein und überdies bereit, in das »schwankende Boot der Regierung Meyers« (SPD-MdL Dr. Josef Neuberger) einzusteigen.

Wie andere hatte auch Friedrich Vogel, 37, trotz eines in Aussicht stehenden Jahres-Salärs von 78 500 Mark zu nächst abgelehnt, die unsichere Kahnpartie mitzumachen. Meyers, von der eigenen Gefolgschaft mit dem Ultimatum bedrängt, er möge bis zur Landtagssitzung am 6. Oktober einen Justizminister präsentieren, warb abermals um den CDU-Jungmann, und schließlich gab Vogel nach.

Erleichtert verkündete Meyers im Landtag, er habe Vogel am Tage zuvor zum Minister ernannt - in der Hast jedoch hatten der Ministerpräsident und der neue Herr über 199 Gerichte, 22 Staatsanwaltschaften und 73 Straf- und Vollzugsanstalten den Artikel 64 der Landesverfassung übersehen, wonach ein Mitglied der Landesregierung »nicht gleichzeitig Mitglied des Bundestags« sein kann.

Vogel aber war bei seiner Ernennung noch Bundestagsabgeordneter. Erst ein Wink des sozialdemokratischen Landtagspräsidenten machte den Justizminister auf den Verfassungsverstoß aufmerksam.

Doch kaum war die christdemokratische Verwirrung bereinigt und Meyers das bis dahin von ihm mitverwaltete Justiz-Amt los, da geriet das neue Kabinettsmitglied in eine volle parlamentarische Breitseite.

Unmittelbar nach Ende der Landtagssitzung verkündeten Christ- und Freidemokraten ihren Beschluß, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der die im Kölner Gefängnis »Klingelpütz« entdeckten Regelwidrigkeiten durchleuchten soll.

Die SPD, die einen ähnlichen Antrag vorbereitete, war damit um Brustbreite geschlagen. Fraktionsjurist Dr. Josef Neuberger blieb nichts übrig, als vor rasch herbeigeholten Journalisten die gute Absicht seiner Parteifreunde zu beteuern: Die SPD werde einen parlamentarischen Ausschuß mit erweitertem Aufgabengebiet beantragen, zwecks Prüfung des gesamten Strafvollzugs und der Beschwerden aus zahlreichen Strafanstalten des Landes.

Das »tolle Durcheinander« (Neuberger) im nordrhein-westfälischen Strafvollzug, das jetzt Friedrich Vogel zu verantworten hat, war kurz zuvor abermals sichtbar geworden: Regierungsdirektor Walter Balensiefer, als »Klingelpütz«-Leiter vor Monaten suspendiert und dann zum Chef des Bielefelder Gefängnisses bestellt, war wieder seines Postens enthoben und mit einem Disziplinarverfahren überzogen worden.

Balensiefer und anderen »Klingelpütz«-Beamten wird der Tod der Häftlinge Anton Wasilenko und Mohammed Ali Tok angelastet (SPIEGEL 19/1966). Überdies hatten sich Häftlinge über

prügelnde Beamte und Schikanen beschwert.

Der Kölner Oberstaatsanwalt Dr. Paul Klein, der die Ermittlungen in Sachen »Klingelpütz« führt, faßte das vorläufige Ergebnis jüngst so zusammen: Es seien dort »Dinge geschehen, von denen ich nicht glaubte, daß sie in einem deutschen Gefängnis 1966 möglich sind«.

Inzwischen meldeten sich weitere »Klingelpütz«-Häftlinge: Unter dem Wachpersonal seien ehemalige SS-Männer, die inhaftierte Ex-Nazis bevorzugt behandelten. Zudem hätten Justizbeamte unter Mordverdacht stehenden SS-Männern ihre Sympathie erklärt und beteuert, es seien noch »viel zu wenig Juden umgebracht« worden und sie selber hätten bei Judenerschießungen »genauso gehandelt«.

Das Düsseldorfer Justizministerium wies die Häftlings-Beschwerden zurück. Sozialdemokrat Neuberger: »Wenn das Ministerium sagt, das stimmt nicht, dann sage ich aus Erfahrung, das bedeutet noch gar nichts.«

Neuberger will deshalb den »Klingelpütz«-Komplex so peinlich genau untersuchen lassen wie die Beschwerden aus anderen Haftanstalten:

- Die Arrestzelle des über 100 Jahre

alten Wuppertaler Gefängnisses ist mit einem Drahtkäfig ausgestattet, in den aufsässige Häftlinge eingesperrt werden. In der völlig überbelegten Anstalt herrschen Zustände, die - so der SPD-Abgeordnete Johannes Rau - »reif für Dr. Mabuses Gruselkammer« sind;

- nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus Werl berichtete ein Ex-Insasse von Prügelszenen und anderen Gefangenenmißhandlungen. Er selbst sei brutal zusammengeschlagen und besinnungslos in die Beruhigungszelle ("Blaue- Grotte") geschleppt worden. Überdies muß in Werl ein Arzt, der zugleich eine Privatpraxis betreibt, 1600 Gefangene betreuen;

- im Düsseldorfer Gefängnis mußte

ein zu 50 Prozent invalide geschriebener Häftling als Heizer fünf Monate lang 90 Stunden pro Woche Kohlen schippen;

- Pfarrer Dieter Frettlöh, Seelsorger

in der Strafanstalt Siegburg, warf kürzlich den Anstaltsleitern pauschal vor, sie herrschten wie »absolute Fürsten vergangener Jahrhunderte«; ihr Regiment sei »legal außerhalb der Legalität«.

So sah sich - kaum einen Tag in Franz Meyers schwankendem Regierungs-Boot - Nordrhein-Westfalens neuer Justizminister einem -Justizskandal konfrontiert. Gleichwohl hofft Strafvollzugskritiker Neuberger auf die freundliche Unterstützung des Friedrich Vogel: »Wenn er mitzieht, können wir das nur begrüßen.«

Die Hoffnung ist nicht unbegründet, denn der Minister hat sich schon einmal durch Unabhängigkeit ausgezeichnet: Er gehörte zu den Richtern des Schwurgerichts Münster, das die eines Gatten-Mordes angeklagte Maria Rohrbach freisprach - worauf der damalige stellvertretende Landesvorsitzende der CDU Westfalen, Theodor Blank, Vogels Aufnahme in den Landesvorstand zu hintertreiben suchte. Christdemokrat Vogel wurde trotzdem Vorstandsmitglied.

Justizminister Vogel

Mit Drahtkäfig und Blauer Grotte ...

Strafanstalt »Klingelpütz«

... reif für Mabuses Gruselkammer

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