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NORDIRLAND Tor zur Freiheit

Massenausbruch aus dem Maze-Gefängnis, Schauplatz des Hungerstreiks von 1981: Die Untergrundarmee IRA landete ihren bisher größten Coup. *
aus DER SPIEGEL 40/1983

Es war der größte Aufmarsch, den Britannien seit der Falkland-Schlacht im letzten Jahr in Gang setzte: diesmal gegen den traditionellen Erzfeind in Nordirland, die »Irisch-Republikanische Armee« (IRA).

27 000 Schwerbewaffnete, unter ihnen 9500 britische Soldaten, die Reservetruppe Ulster Defence Regiment und die Nordirland-Polizei, fahndeten in der Provinz Ulster nach Resten jener IRA-Einheit, von der tags zuvor gleich 38 Mann aus dem Maze-Gefängnis in der Grafschaft Antrim ausgebrochen waren.

Tollkühnes Entrinnen aus der Haft, besungen mit Belfaster Kampfesliedern, galt zwar immer schon als Spezialität des auch in der Haft straff organisierten IRA-Untergrunds:

33 IRA-Mitglieder düpierten im November 1974 die Londoner Regierung, als sie einen Tunnel aus dem Internierungslager von Long Kesh vortrieben, dem Vorläufer des Maze-Gefängnisses. Und legendär ist auch die Flucht des IRA-Stabschefs Seamus Twomey, der 1973 mit einem Helikopter aus dem Hof des spitzgiebeligen Mountjoy-Gefängnisses in Dublin geholt wurde.

Das Maze-Gefängnis aber galt als ausbruchsichere Festung, von der aus Tunnelbau nur mit Preßlufthämmern oder Sprengstoff möglich wäre: Unter den Gebäuden liegt noch die Betonpiste eines früheren Royal-Air-Force-Flugplatzes.

Die Teilnehmer am bisher größten Massenausbruch auf der grünen Insel verließen es eher auf konventionelle Art. Sie überwältigten die beiden diensttuenden Wärter, warteten die Ankunft eines Transporters um 16 Uhr ab, der Getränke für die Teestunde bringt, und enterten die Ladefläche des Vehikels.

Ein Häftling versteckte sich auf dem Boden des Führerhauses und zwang den Fahrer mit vorgehaltener Pistole, bis zum dreifach gesicherten Haupttor an der Halftown Road, der Maze-Verbindung nach Belfast, zu fahren.

Auch hier schien alles wie nach Plan zu klappen. Die erste Sicherheitsdrahttür wurde von einem ahnungslosen Wärter aufgestoßen, die zweite war schon sperrangelweit geöffnet.

Doch ausgerechnet hier, inmitten der im Maze-Slang »Luftschleuse« genannten Dreier-Tür, geschah ein Malheur. Ein Gefängnisbeamter, der einen der Häftlinge im Fahrzeug erkannt hatte, bugsierte reaktionsschnell seinen Wagen zwischen Fluchtfahrzeug und letztes Maschentor. Ein Rammversuch der Ausbrecher endete in einem Knäuel Autoblech.

Die Flüchtenden, die sofort abgesessen waren, erstachen einen der Torwächter, verletzten einen anderen durch Kopfschuß schwer und schlugen einem dritten das rechte Auge aus.

»Es war wahnwitzig, ein Tollhaus«, erzählte ein Maze-Beamter später, »die Männer auf der Straße schnappten sich alles, was auf Rädern stand.« In ein Auto zwängten sich zehn Männer.

Den Fahndern gelang es hinterher, die durch die IRA erlittene Schmach etwas zu tilgen. Noch in der Nacht zum Montag

wurden am Ufer eines Flusses vier der Entsprungenen entdeckt, die sich unter Wasser versteckt hielten und durch Schilfrohre geatmet hatten. Bis vorigen Freitag gingen 19 Ausbrecher ins Netz.

Doch auch diese Bilanz konnte dem Londoner Nordirland-Minister James Prior nicht helfen: Durch den Ausbruch zur Teestunde gelang es der IRA, ihre bisher schwerste Krise gerade noch rechtzeitig abzufangen: Gerade hatten Überläufer ("Supergrasses") reihenweise vor der Polizei ausgepackt und allein in diesem Jahr mehr als 300 IRA-Kollegen denunziert (SPIEGEL 39/1983). Nun aber stieg die Moral wieder.

In den katholischen Wohngettos von Belfast herrsche wieder Jubel, verkündete ein Sprecher von Sinn Fein, der politischen Organisation der IRA, bei den Ausbrechern handle es sich um Helden, jenen britischen Soldaten gleichrangig, denen im Zweiten Weltkrieg die Flucht aus der thüringischen Kriegsgefangenen-Burg Colditz geglückt war.

Besonders ernüchternd für den Thatcher-Statthalter Prior, der dank den Informanten schon die Wende im Kampf gegen die Untergrundarmee gekommen sah: Mehrere der Entkommenen zählen zu den Top-Leuten, vorneweg Brendan McFarlane, 31, der bei einem Bombenanschlag fünf Menschen tötete.

McFarlane wurde nach seiner Verurteilung Kommandeur der republikanischen Gefangenen im Maze-Gefängnis und trat 1981 offiziell als Sprecher jener zehn IRA-Häftlinge auf, die nacheinander in einen todbringenden Hungerstreik getreten waren, um als politische Gefangene anerkannt zu werden.

Insider in Belfast wiesen letzte Woche noch auf eine weitere Peinlichkeit für Prior hin. Stillschweigend sei der Minister im November letzten Jahres auf eine Kardinalforderung der Hungerstreikenden von 1981 eingegangen und habe die IRA-Häftlinge des Maze-Gefängnisses in einem Block konzentriert.

Den katholischen IRA-Gefangenen wurde sonntags das Tragen von Zivilkleidern gestattet, angeblich zum Besuch der Messe - ein Ansinnen, das London im Verlauf des Hungerstreiks kategorisch abgelehnt hatte, jetzt ein Plus beim Massenausbruch.

Am Mittwoch behauptete dann noch der »Daily Telegraph«, einigen der Maze-Wärter seien Wochen vor dem Flucht-Drama 10 000 Pfund geboten worden, wenn sie Pistolen und ein Gewehr in den Block der IRA einschmuggeln würden. Das wurde zwar prompt dementiert. Von »großem Frust« unter dem Wärterpersonal und einem hohen Krankenstand indessen war schon vor der Massenflucht die Rede.

Anfang September wurde hinter den Maze-Mauern wegen eines Gehaltsnachschlags gestreikt, und am Ausbruchssonntag waren weniger Wärter als jemals zuvor im Dienst: fünf Beamte im Block 7 paßten auf die 127 Insassen auf.

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