ATOMSCHLAG Total überfordert
Um 10.15 Uhr am Vormittag explodierte über der schwäbischen Stadt Ulm ein atomares Geschoß von einer Megatonne Sprengkraft - eine jener strategischen Kernwaffen, mit denen sowjetische Raketen armiert sind.
Im Bruchteil einer Sekunde stand über Ulm ein Feuerball von einigen hundert Metern Durchmesser, im Innern Millionen, am Rand noch mehrere tausend Grad Celsius heiß. Im Umkreis von eineinhalb Kilometern verglühte alles zu formlosen Klumpen.
Die Ulmer Innenstadt war in Sekundenschnelle verschwunden, weggefräst vom Römerplatz bis zum Fußballstadion, vom Michelsberg bis zum Neu-Ulmer Bahnhof. Wo das gotische Münster stand, hatte sich ein Krater geöffnet.
Noch in vier Kilometern Entfernung rund um die Ulmer City fielen alle Gebäude wie Kartenhäuser in sich zusammen, bis zu sieben Kilometern um das Explosionszentrum, in den ländlichen Randgemeinden, wurde die Hälfte aller Häuser durch die Druckwelle zerstört.
Bilanz dieser einen Bombe: 123 000 Todesopfer, 77 000 Schwerverletzte. Mehr als 44 000 Menschen erlitten Brandverletzungen dritten Grades - mehr als dreißig Prozent der Körperoberfläche verbrannt, ein Überleben allenfalls durch Sofortbehandlung in Spezialkliniken denkbar.
Das Horror-»Szenario Ulm«, das Fiktion und Fakten bündelt, entstammt einer wissenschaftlichen Arbeit »über die Auswirkungen eines Atombombenangriffs auf unsere Stadt und die unlösbaren medizinischen Probleme«.
Verfaßt worden ist die erste Darstellung dieser Art in der Bundesrepublik von Mitgliedern einer Ulmer Ärzteinitiative, die wiederum Teil der humanitärmedizinisch argumentierenden Aktion »Internationale Ärzte zur Verhinderung eines Atomkriegs« ist, einer Organisation, die von den größten Ärztegremien der USA und Großbritanniens sowie von zahlreichen Standesvereinigungen in mehr als dreißig anderen Ländern in Ost und West unterstützt wird.
Sprecher der deutschen Sektion, zu der sich rund 5000 Ärzte in der Bundesrepublik bekennen, sind der Frankfurter Professor Ulrich Gottstein, Chefarzt am Bürgerhospital und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Angiologie (Blutgefäßkunde), sowie der Gießener Psychoanalytiker Professor Horst-Eberhard Richter, ferner zwei praktizierende Ärzte aus Hamburg und Gaggenau in Baden.
Die Ulmer Initiative, der neben mehr als dreißig Ärzten und Universitätsprofessoren sowie fünfzig Medizinstudenten auch Wissenschaftler anderer Fakultäten, ärztliche Helfer und Geistliche angehören, bildete Arbeitsgruppen, die Tatsachenmaterial zu beschaffen und aufzuarbeiten hatten - beispielsweise über die physikalischen Auswirkungen einer Atomexplosion und über die Möglichkeiten ärztlicher Versorgung.
Der Untersuchung liegt die Annahme zugrunde, daß Ulm während einer Ost-West-Krise infolge eines Fehlers im elektronischen Frühwarnsystem Ziel eines Atomschlags
wird. Die Folgen beschreibt der Szenario-Text unter anderem so: *___"Die Überlebenden können keine Hilfe erwarten. Zur ____Versorgung der über 75 000 Schwerverletzten um Ulm ____herum stehen höchstens 100 unverletzte Ärzte zur ____Verfügung.« *___"Eine wirksame medizinische Versorgung einer derart ____großen Zahl von Schwerverletzten, insbesondere mit ____Verbrennungen, würde auch in Friedenszeiten das gesamte ____Gesundheitssystem der Bundesrepublik total ____überfordern.«
Zu den Verfassern des Szenarios gehören Professor Peter Novak, Leiter der Abteilung Medizinische Soziologie an der Universität Ulm, sowie der Privatdozent Shraga Goldmann, Leiter der Abteilung Transplantationsimmunologie der württembergischen Blutspendezentrale des Deutschen Roten Kreuzes in Ulm.
Den Ulmer Medizinern ist vor allem an »rückhaltloser Aufklärung« der ärztlichen Kollegen und der Öffentlichkeit über die medizinischen, gesundheitlichen, psychischen und ökologischen Auswirkungen des Einsatzes von Atomwaffen gelegen. Die Initiative-Mitglieder wehren sich zudem gegen eine »als Katastrophenmedizin getarnte Zwangsfortbildung für den Atomkriegsfall«. Denn in Baden-Württemberg und in anderen Bundesländern ist geplant, die Ärzte unter Androhung von Bußgeld und Approbationsentzug zur Teilnahme an Weiterbildungslehrgängen in »Katastrophenmedizin« heranzuziehen.
Das »Szenario Ulm« soll die Sinnlosigkeit ärztlicher Hilfe nach einem Atomschlag deutlich machen. Den Angriff auf Hiroschima im Jahre 1945 überlebten nur 40 Ärzte - bei 75 000 Toten und 100 000 Schwerverletzten.
Diese Relation würde sich heute noch verschlechtern, und das erste Planspiel eines Atomangriffs, bei dem, 1962, die Stadt Boston an der Ostküste der USA als Zielort angenommen wurde, drängte amerikanischen Ärzten eine Schlußfolgerung auf, die nun auch von der Ulmer Initiative präsentiert wird: Die wenigen vielleicht überlebenden Ärzte und Gesundheitseinrichtungen seien »außerstande, auch nur die elementarsten Wundversorgungen auszuführen«.
Ein internationales Expertenteam, das im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation »die Gefahr eines thermonuklearen Krieges und die möglichen Folgen für Leben und Gesundheit der Weltbevölkerung« untersuchte, kam in seinem vorige Woche veröffentlichten Bericht ebenfalls zu dem Schluß, daß die Möglichkeit, Opfer eines Atomangriffs medizinisch zu versorgen, »praktisch gleich Null« sei.
»Menschen, deren Haut in Fetzen vom Körper hängt, irren umher und suchen nach Flüssigkeit, um ihren Durst zu stillen«, heißt es nun im Ulmer Papier, »doch die Wasserleitungen geben
kein Wasser, und die Oberflächengewässer sind radioaktiv verstrahlt.«
Am »Tage nach der Katastrophe« treiben in der Donau »Tausende von Leichen": »Sie wurden entweder durch die Druckwelle hineingeblasen, oder sie brachen bei der Suche nach Wasser am Ufer zusammen. Menschen, die ihre Augen nicht schützen konnten, wurden blind.«
Die deutschen Ärzte weisen für den Fall Ulm schlüssig nach, daß »schwer Brandverletzte keine Überlebenschance« hätten, weil die erforderliche hochspezialisierte medizinische Versorgung - mit Infusions- und Transplantationstherapie - nicht zur Verfügung stehe: In Baden-Württemberg sind nur 26 Betten für Verbrennungsopfer vorgesehen.
Und auch minder schwer Verletzte hätten, so die Ulmer Szenario-Autoren, überwiegend keine Überlebenschance, vor allem aufgrund einer Kombination von äußeren Verletzungen und Auswirkungen der Strahlenkrankheit.
Der Fall-out, so ermittelten die Ulmer Ärzte anhand meteorologischer Untersuchungen, würde die 400 000 Bewohner einer zigarrenförmigen, etwa 140 Kilometer langen Zone erfassen, in der die Radioaktivität zwischen 2000 und 4000 rem betrage. Szenario-Text: »Im Innern dieser Zone würden alle Einwohner sterben«, in Nürnberg und Fürth, am Rande der angenommenen Zone, »ein Großteil« der Bevölkerung.
Bei Strahlenerkrankungen liegen die Behandlungsmöglichkeiten nahe Null. Notwendig wäre die Transplantation von blutbildendem Knochenmark, der Patient darf nicht älter als vierzig Jahre sein, als Spender kommen nur Geschwister in Frage. In der Bundesrepublik gibt es nur fünf Zentren für derartige Operationen: in Ulm, Tübingen, München, Essen und Kiel. Ulm wäre, im Ernstfall, ohnehin entfallen.
Die Ärzteinitiative bringt die medizinischen Chancen bei einem Fall Ulm, wo auch immer, auf eine kurze Formel: »Sterbehilfe ist die einzige realistische Maßnahme, die in einer solchen Situation möglich ist.«