PRIESTER Totale Tröstung
Erst wollte sich der Geistliche, so hatte er der jungen Dame beteuert, nur einmal aussprechen. Bald darauf glaubte er, »ein einziger Kuß ihrerseits« könne ihn »von allen Schwierigkeiten mit einem Schlage befreien«. Dem Lippen-Bekenntnis folgten weitere »Teiltröstungen«, schließlich die »Totaltröstung«.
Das Verhältnis währte zehn Jahre lang, dann wechselte der Priester die Freundin -- kein seltenes Vorkommnis offenbar unter den 24 000 katholischen Priestern in der Bundesrepublik, wiewohl das kirchliche Zölibatsgesetz zu einem »ehelosen« und »keuschen« Leben verpflichtet.
Was stets Gegenstand plumper Witze war -- es ist so: Insgeheim tröstet sich mancher katholische Geistliche mit seiner Haushälterin, Pfarrsekretärin oder Mädchenjugendführerin, mit einer Nonne oder einer Studentin der Theologie. Schätzungsweise »mehr als ein Drittel« der Zölibatäre bricht den Zölibat mit Frauen, ein weiteres Drittel liebt homophil oder homosexuell -- der »Zölibat, eine institutionalisierte Unwahrheit«, »das Resultat systematischer sexueller Unterdrückung«.
So urteilt einer, der selber fast 20 Jahre lang katholischer Priester gewesen ist und nun aus Erfahrung schreibt: Hubertus Mynarek 48, Theologieprofessor ohne Lehrstuhl, Ex-Dekan der Wiener katholisch-theologischen Fakultät, Ex-Priester und Ex-Katholik seit 1972, seither »glücklich verheiratet«, zwei Kinder.
Was der Religionswissenschaftler in seinem jüngsten, Ende nächster Woche erscheinenden Buch mit dem Titel »Eros und Klerus« zum einschlägigen Thema an »authentischen Berichten« gesammelt und gedeutet hat, gleicht
* Hubertius Mynarek: »Eros und Klerus. Vom Elend des Zölibats« Econ Verlag, Düsseldorf. Wien: 304 Seiten; 25 Mark.
einer neuen Variation zu einem bekannten Thema*. Bislang war es nicht üblich, daß Priester oder Ex-Priester detailliert über das Ausmaß von Zölibatsbrüchen berichteten.
Mynarek dokumentiert, daß sich seit der Einführung des Zölibats vom vierten Jahrhundert an in puncto Priester-Sex kaum etwas geändert hat. Aktuell wie eh scheint die Feststellung des Zisterzienser-Mönchs Caesarius von Heisterbach, der um das Jahr 1220 schrieb:
Kein weibliches Wesen ist vor der Geilheit der Kleriker sicher ... Jeder Ort und jede Zeit ist zur Unzucht recht ... Wer sich mit e i n e r Konkubine begnügt, erscheint beinah als ehrbar.
Was Pater Caesarius im Mittelalter brandmarkte, war auch 1845 noch aktuell, als der Revolutionär und Schriftsteller Coryin-Wiersbitzki seinen »Pfaffenspiegel« veröffentlichte; den »Pfaffenspiegel« diskreditiert die Kirche bis heute als »unkritisches, historisch wertloses Plagiat aus kirchenfeindlichen Hetzschriften« (so das katholische »Lexikon für Theologie und Kirche").
Kein Argument, keine Fakten -- Amtsniederlegungen von Priestern, Priestermangel, Priester-Plädoyers für die Abschaffung des Zölibats -- vermochten das Sinnen der kirchlichen Hierarchen zu wenden. Im Gegenteil, als der Ex-Benediktiner und Ex-Priester Edmund Steffensky 1969 in einem Interview behauptete, viele katholische Priester seien »mit tausend Dingen verheiratet, angefangen vom guten Essen und Trinken bis hin zur Selbstbefriedigung, zur Freundin und zur Homosexualität« » reagierte der Kölner Erzbischof und Kardinal Joseph Höffner, heute auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, mit einer Strafanzeige. Zum Prozeß kam es nicht, Höffner lenkte vorzeitig ein.
Der Münchner Religionsphilosoph Fritz Leist wurde konkreter als Steffensky. Selbst Laie, publizierte Leist im Jahre 1972 erstmals Briefe und andere Selbstzeugnisse noch lebender Priester und Priester-Frauen, die den Zölibat insgeheim ignorieren; wiederum überging die Kirche das Opus.
Mynarek ging weiter. In seinem 1973 erschienenen Buch »Herren und Knechte der Kirche« präsentierte er unter anderem einige angebliche Zölibatsbrüche deutscher und österreichischer Theologieprofessoren namentlich. Ergebnis: Die betreffenden Kirchenlehrer stritten ab, zogen vor Gericht; verglichen sich jedoch; noch heute stottert der Wiener Ex-Dekan die Gerichtskosten ab.
Der »Existenz-Schock« bewog den Religionswissenschaftler, fortan behutsamer zu Werke zu gehen. In »Eros und Klerus« schildert er nun rund 60 ihm bekannte, »typische« Fälle von Zölibatsbrüchen gleich doppelt anonym. Orts- und Personennamen nennt er, wenn überhaupt, nur mit Anfangsbuchstaben, und selbst die Anfangsbuchstaben sind noch einmal verfälscht.
Allerdings sind die »Fallstudien« laut Mynarek verifizierbar. Er publiziere in seinem Buch, schreibt er, »nur Berichte, zu deren Veröffentlichung ich persönlich von den Betreffenden bzw. Betroffenen bevollmächtigt bin«.
Die Betroffenen: laut Mynarek häufig enttäuschte Frauen, deren geistliche Partner sich gerade eine andere genommen haben, Frauen, die vom Geistlichen zur Abtreibung gedrängt wurden oder mit einem Kind sitzenblieben. Die Betreffenden: Priester, die ihre Sekretärinnen feuern, weil sie ihnen nicht zu Willen sind, die Jungen den Penis betasten, »um ihre Potenz zu prüfen«, oder sich der Ganzmassage eines I7jährigen Meßdieners unterziehen -- Geschichten, die in einer aufgeklärten, sexuell freizügigen Welt kurios wirken.
Dem kirchlichen Zwangssystem lastet es Mynarek an, daß sich »der in Priestern aufgestaute Sexualdruck« zuweilen in Vergewaltigungen entlädt. In seinem Buch erwähnt er ein halbes Dutzend solcher Fälle. Beispiele:
»Im August 1974«, notierte die Haushälterin eines Priesters, »bei mir erzwungener, rabiat-brutaler Geschlechtsverkehr (den Bluterguß in der Brust sah man im Röntgenbild noch nach sieben Wochen).«
Im Seitengang einer römischen Katakombe vergewaltigte ein Franziskanerpater eine deutsche Theologiestudentin. Als sie schreien wollte, drohte er ihr, sie in dem unterirdischen Labyrinth zurückzulassen.
Ein deutscher Kaplan entjungferte in einem Gewaltakt die noch jugendliche Gehilfin einer Pfarrhaushälterin. Er ließ von ihr erst ab, als eine »Blutspur ihn dann endlich zur Vernunft« brachte.
Ob solche Berichte allerdings dazu beitragen, die obersten Katholiken schließlich zu einer Revision des Zölibatsgesetzes zu bewegen, daran scheint nicht einmal Mynarek zu glauben. »Die Unterdrückung der Sexualität«, so eine Kern-These des Autors, »ist ein zentrales Anliegen jeder organisierten Religion«, und »erst recht der katholischen«.
Daß Mynarek dennoch gegen den Zölibat anschreibt, hält er für sinnvoll. »Das gibt«, sagt er, »vielleicht neuen Stoff für eine Revolte von unten.«