VERBRECHEN Totaler Krieg
Sie kamen mit Freddie Lakers »Skytrain« und den Jumbos der Air Florida, angelockt von sonnensicheren Stränden und vom warmen Atlantik: 350 000 Briten, doppelt soviel wie 1979 und fast sechsmal mehr als bundesdeutsche Touristen, landeten im vergangenen Jahr auf Miamis International Airport.
Die letzten Tausendschaften von der britischen Insel aber kletterten mit gemischten Gefühlen aus den Flugzeugen. »Floridas Urlauberparadies«, so hatte das Londoner Massenblatt »Daily Express« gewarnt, »ist die Mordhauptstadt der Welt geworden.«
Nahezu ein Vierteljahrhundert hatte es gedauert, daß im Landkreis Dade County, zu dem die Touristenburgen Miami und Miami Beach zählen, die Mordrate um 90 Prozent anstieg. Als die Polizei im Dade County am Jahresende den Mordfall 580 registrierte, war die Quote abermals um 90 Prozent gestiegen -- aber in nur zwei Jahren.
In Los Angeles beispielsweise, wo »Kriege zwischen Jugendbanden und bizarre Massentötungen« (so der »Miami Herald") dazu beigetragen hatten, die Mordrate innerhalb von zehn Jahren etwa zu verdoppeln, wurden 1980 -- bezogen auf 100 000 Einwohner -weniger als halb so viele (30) Menschen umgebracht wie in Miami (68,7). Auch die texanische Boomtown Houston (30 pro 100 000) oder das rassengespannte Atlanta (45,2) in Georgia reichen an Miami nicht heran.
Und schon gar nicht die Acht-Millionen-Metropole New York: Mit einer Mordrate von 19,8 pro 100 000 rangiert New York in der jüngsten FBI-Statistik nur an dreizehnter Stelle unter den US-Großstädten.
Hilf- und fassungslos stehen Miamis Behörden vor der Mordwelle im Süden Floridas. »Nachts tobt in unseren Straßen der totale Krieg«, klagte etwa Alex Daoud, Polizeichef von Miami Beach. Sein Kollege Andrew Sundberg von der Mordkommission in Miami gesteht: »Ich geh' nur noch von Tatort zu Tatort.« Den Luxus, »über die Motive der Täter in Ruhe nachzusinnen«, könne er sich »schon lange nicht mehr leisten«.
Wohl haben die Verantwortlichen erkannt, daß die Rekordziffern allmählich den Ruf des Winterrefugiums an der Küste untergraben und die Einnahmen der Touristenindustrie (Umsatz 1979: 16 Milliarden Dollar) zu schmälern drohen. Bislang jedoch fehlen einleuchtende Erklärungen für das rapide Anwachsen der Gewaltverbrechen und damit mögliche Ansatzpunkte, den Trend aufzuhalten.
Gewiß, außerhalb der Prachthotels lebt eine großenteils arme Bevölkerung: Nahezu jede fünfte Familie im Dade County hat ein Jahreseinkommen von nicht mehr als 7500 Dollar. Und auch die Rassenmischung scheint gefährlich: 45 Prozent Weiße, 38 Prozent mittel- und südamerikanischer Herkunft und 17 Prozent Schwarze.
Offenbar haben diese Umstände eine Mentalität begünstigt, in der »der Akt des Tötens allgemein akzeptiert wird«, glaubt der Lügendetektor-Experte Warren Holmes, so akzeptiert, »als gehe es um einen Fünf- oder Zehn-Cent-Diebstahl«.
Gleichzeitig sehe sich die Polizei außerstande, so Holmes, glaubhaft aufzuzeigen, daß »Verbrechen sich nicht auszahlen«. Für den Täter sei »der Erfolg sofort sichtbar«, der Zeitpunkt seiner Bestrafung hingegen liege, »wenn es überhaupt dazu kommt, in ferner Zukunft«. Einhellige Meinung der Gesetzeshüter im Dade County: Noch ist der Höhepunkt der Mordwelle nicht erreicht.
Nutznießer der polizeilichen Ohnmacht und der Furcht der Floridianer vor Mord und anderen Gewaltverbrechen sind die reichgefüllten Waffengeschäfte. Sie bieten häufig nicht nur Revolver und Gewehre, sondern auch Unterrichtung im Umgang mit den Tötungsgeräten. Schießlehrer Steve Tomlin, 30, etwa berechnet für einen Drei-Stunden-Kurs 25 Dollar und macht gleich zu Beginn das Ziel seiner Lehrtätigkeit klar: »Ich bin hier, um Ihnen das Töten beizubringen.«
Nicht wenige Polizisten begrüßen solche Vorboten der Selbstjustiz. »In einer Situation um Leben und Tod hat jeder das Recht, alles zu unternehmen, sein eigenes Leben zu schützen«, meint beispielsweise Captain Marshall Frank. Doch andere fürchten, daß im Familien- und Bekanntenkreis leichte Händel, die früher mit Worten und Fäusten ausgetragen wurden, nun eher mit Kugelwechsel enden.
Sergeant Mike Gonzalez von der Mordkommission Miami wünscht sich, daß die Betroffenen bereitwilliger helfen, Verbrechen aufzuklären. Doch dagegen steht, so die Erfahrung von Gonzalez, »eine durchgängige Apathie«. Niemand wolle hineingezogen werden. Statt freimütig auszusagen, nähmen sich Zeugen wie Opfer sofort Rechtsanwälte, für Gonzalez ein untrügliches Zeichen einer »Gesellschaft, die jede Verantwortung scheut«.
Typisch für derartiges Verhalten war unlängst ein Mord in einer Bar von Miami. Vor dem Untersuchungsrichter bekundeten alle 30 Gäste später unter Eid, nichts gesehen zu haben, weil sie zum Mordzeitpunkt auf der -- einsitzigen -- Toilette gewesen seien.