ENGLAND / STUDENTEN Tote Ente
Flammen schlugen aus der grünen Kuppel des Londoner Kriegsmuseums und erhellten die Stadtteile südlich der Themse.
Zwei Brandbomben waren explodiert im Historienbau, in dem Hitlers Testament und die deutsche Kapitulationsurkunde aufbewahrt werden. Feinde Englands hatten die Bomben gezündet, doch nicht die vom Kontinent, sondern Guerillas von der Insel.
Die Täter seien Aktivisten der irischen Rebellenarmee -- vermutete anfangs Londons Kriminalpolizei. Jetzt fürchten die meisten Engländer, militante Studentengruppen hätten den Brand gelegt, um die Herbstsaison der europäischen Studentenrevolte zu eröffnen.
Tatsächlich hatte Scotland Yard nach einer Razzia Anfang Oktober Flugblätter beschlagnahmt, in denen »hochbewegliche Brandstifter-Trupps« aufgefordert werden, den Briten einzuheizen und Gebäude im Londoner Westend zu besetzen. Eine Bauanleitung für Molotow-Cocktails fügten die Drucker bei.
Nach einem anderen Flugblatt wollten militante Briten In Stationen der Untergrundbahn, wie den zentralen Piccadilly Circus und Trafalgar Square -- nach Tschechen-Vorbild -- die Richtungstafeln auswechseln, um den Underground-Verkehr lahmzulegen.
Als Stunde X der Brandstifter und U-Bahn-Umbauer gilt der 27. Oktober 1968.
Am Sonntag will der englische Studentenführer aus Pakistan, Tariq Ali, die größte Nachkriegsdemonstration im britischen Inselreich veranstalten. Mehr als 100 000 Demonstranten sollen vom Ufer der Themse durch die City zum Hyde Park ziehen und gegen den Vietnam-Krieg protestieren.
»Wir werden keine Atmosphäre der Gewalt schaffen«, versprach Tariq Ali. Sein »Vietnam Solidarity Committee« (VSC) will für je zehn Demonstranten einen Ordner stellen. Londons Bobbies sollten am besten nicht in Erscheinung treten.
»Unverschämt«, nannte die Labourfreundliche »Sun« den Ah-Appell. »Die Organisatoren des Marsches werden die Lage nicht in ihrer Gewalt behalten, wenn Radikale auftauchen, die zu Aufruhr entschlossen sind.«
Zu Aufruhr entschlossen ist die VSC-Konkurrenzorganisation »British Vietnam Solidarity Front« des Inders Abhimanyv Manchanda. Während All nur an der australischen Hochkommission vorbeimarschieren wollte, um dort ein Protestschreiben zu überreichen, zieht es den Inder in die »Todesfalle für Kämpfer« (Ali), zum Grosvenor Square vor der US-Botschaft.
Der Botschaftsplatz war bereits im März Kampfarena für Studenten und Polizei. Von allen Seiten eingekreist, fühlten sich die Demonstranten provoziert und wollten sich mit Stöcken und Regenschirmen befreien. Berittene Bobbies und Fußpolizisten schlugen auf sie ein.
Nur wenn die Polizei sie provoziert -- so rechnen die Führer der Radikalen -, können Englands Studenten in revolutionären Schwung kommen, der in Großbritannien »geringer ist als in anderen entwickelten kapitalistischen Ländern« (Ali).
Grund: Der Kontakt zwischen Professoren und Studenten ist in England besser als in Kontinental-Europa. Britische Jungakademiker beziehen gutdotierte Stipendien und sind jung, wenn sie ihre Diplome erhalten -- 75 Prozent sind nicht älter als 22 Jahre. »Das englische System«. bekannte Alan Evans, Vizepräsident des »National Union of Students« (NUS), »ist das beste Europas.«
Mit Ausnahme des westdeutschen Bundeslandes Hessen hat kein europäischer Staat seinen Studenten so viele Freiheiten zugestanden wie England.
Im vergangenen Juni -- nach der Pariser Revolte -- verlangte Studentenführer Alan Evans die Demokratisierung der etwa 500 Colleges. Danach sollten Studenten in allen akademischen Ausschüssen vertreten sein und über alle Disziplinaifragen mitentscheiden. Die meisten Rektoren gaben sofort nach. Anfang dieses Monats einigten sich NUS-Vertreter und Rektoren: Ein »Konkordat« räumt den Studenten großzügige Freiheiten ein.
Dennoch wollen Englands Studenten demonstrieren. Nicht Universitätsprobleme, sondern die konservative Politik der großen Parteien treibt sie auf die Straße. »Ideologisch sind wir wenig interessiert«, gestand NUS-Vize Evans, »unsere Politiker sind nur Karrieremacher. Auch mit Labour-Wilson wollen wir nichts zu tun haben.«
Die Studenten der Eliteschule »London School of Economics« besetzten die Lehranstalt, weil sie ihren Rektor verdächtigten, er habe sich für die rhodesische Rassenpolitik eingesetzt.
Nach dem Dutschke-Attentat in Berlin zogen britische Studenten durch die Straßen, um sich mit den deutschen Kommilitonen solidarisch zu zeigen. »Wir brauchen eine Apo«, gestand Berufsrevolutionär All, »die Labour Party ist eine tote Ente.«
Englands Studenten protestierten auch weiterhin nur wegen Vietnam, Rhodesien und Biafra. Und immer wieder temperierte die britische Zurückhaltung Revolution und Repression.
Demonstranten, wegen ihrer Prügeleien am Grosvenor Square vor Gericht gestellt, kamen mit Geldstrafen davon. Britische Richter vermieden so die von radikalen Studenten erhofften Provokationen.
Das will der Ultra Abhimanyv Manchanda ändern. Für den 27. Oktober gab er die Parole aus: »Auf die US-Botschaft, das Lager der Angreifer!«
Da schon die französischen Mai-Demonstrationen von westdeutschen SDS-Aktivisten ideologisch vorbereitet wurden, ließ Englands Innenminister James Callaghan die Namen aller gerichtsnotorischen Protestler Europas auf eine schwarze Liste setzen und sie -- mit detaillierten Angaben über Haarfarbe und Haarlänge -an die Einwanderungsbeamten verteilen. Kein Verdächtiger darf bis zum 27. Oktober das Land betreten.
Auch Londons Polizei nahm die Studenten-Herausforderung an. Sie strich ihren Beamten für das kommende Wochenende den Urlaub und wird mit 6000 Bobbies US-Botschaft und Grosvenor Square zernieren.