DIOXIN Tote Zone
Jürgen Rochlitz, 51, Abgeordneter der Grünen im Stuttgarter Landtag, ist schockiert: »Einfach Wahnsinn, was den Menschen in Maulach und auch in Rastatt zugemutet wurde.«
Maulach, ein Ortsteil der nordwürttembergischen Kreisstadt Crailsheim, steht gemeinsam mit dem nordbadischen Rastatt für die bisher bundesweit höchste Dioxin-Belastung des Bodens und der Luft. Parallelen zur Giftkatastrophe von Seveso seien, sagt Rochlitz, »nicht Panikmache, sondern plausibel«.
Der Volksvertreter aus Mannheim weiß, wovon er redet: Rochlitz ist Chemieprofessor, war in Forschung und Management von Chemieunternehmen tätig und lehrt an der Mannheimer Fachhochschule, die auf Biotechnologie und Chemische Technik spezialisiert ist.
In der norditalienischen Gemeinde Seveso war am 10. Juli 1976 aus einem Kessel des Chemiewerks Icmesa, einer Tochterfirma des schweizerischen Konzerns Hoffmann-La Roche, eine Wolke des Giftgases 2,3,7,8-Tetrachlordibenzoparadioxin (TCDD) entwichen, eine der giftigsten synthetisch herstellbaren Substanzen überhaupt.
Bei Tierversuchen wirkt bereits ein millionstel Gramm TCDD tödlich, die lebensbedrohende Dosis beim Menschen wird auf ein tausendstel Gramm je Kilo Körpergewicht geschätzt. Dioxin kann das Immunsystem schädigen und Hautkrankheiten verursachen, Mißbildungen bei Neugeborenen bewirken und zur Auslösung von Krebs beitragen.
Fast ein Dutzend Gemeinden in der Nähe von Mailand wurden vor 13 Jahren mit dem Seveso-Dioxin berieselt, 193 Menschen von Chlorakne befallen, 77 000 Stück Vieh mußten notgeschlachtet, 1800 Hektar Gelände um die Fabrik entseucht werden.
Aus einer in Italien so genannten Zone A wurden 736 Menschen evakuiert, weil der Boden mit mindestens 375 Nanogramm (milliardstel Gramm) des Supergifts durchsetzt war. Die durchschnittliche Belastung lag dort bei 1000 ng/kg (Nanogramm je Kilo Erdreich), also, weiß Rochlitz, »weit unter den Werten von Maulach und Rastatt«.
In Maulach waren letzten Monat Bodenproben entnommen und von dem Tübinger Professor ("Dioxin-Papst") Hanspaul Hagenmaier analysiert worden. Die Proben weisen als Spitzenergebnisse 996, 1326, 3250 und 29 039 ng/kg Gifte der Dioxin-Gruppe auf.
In Rastatt wiederum wurden mehrfach Dioxin-Werte von mehr als 1000 ng/kg gemessen, die Höchstmengen reichten bis zu 7926 ng/kg. In mindestens zehn Prozent der badischen Bodenproben wie auch bei Messungen in Maulach fand sich das spezielle Seveso-TCDD in einer Konzentration von 19 bis immerhin 465 ng/kg, also mehr als seinerzeit in der »toten Zone« in Oberitalien.
Die unglaubliche Umweltvergiftung war von den Behörden jahrelang ignoriert worden, obwohl die Verursacher bekannt waren: in Maulach die Kabelverschwelungsanlage Hölzl, ein 1985 geschlossener Recyclingbetrieb, in Rastatt die 1986 stillgelegte Metallhütte Fahlbusch, eine Tochterfirma der Norddeutschen Affinerie AG in Hamburg.
Die jüngsten Untersuchungsergebnisse haben zwar »Sofortprogramme« und »Sofortmaßnahmen« des Stuttgarter Regierungspräsidiums und des badenwürttembergischen Umweltministeriums ausgelöst. Aber die Konsequenzen kommen viel zu spät.
»In Maulach wie in Seveso wurde der Skandal zunächst vertuscht«, schrieb die sonst eher regierungsfreundliche Tageszeitung »Heilbronner Stimme«. Behörden, Experten und Politiker im Lande des christdemokratischen Lothar Späth hätten »ungeheuer viel Vertrauenskapital unnötig verspielt«.
Die 150 Maulacher wußten seit Jahrzehnten, daß in ihrer Mitte eine »Dreckschleuder ohnegleichen« ("Stuttgarter Zeitung") angesiedelt war. Seit Anfang der fünfziger Jahre löste Hölzl mittels starker Hitze die Kunststoff-Ummantelung von Kabelmetall, das dann wiederverwendet werden konnte.
Ständiger Qualm und Gestank bewirkten zwar laute Proteste, auch von Nachbargemeinden im Windeinfluß des Recyclingbetriebs. Aber erst 1985, als erstmals Dioxin im Filterstaub nachgewiesen wurde, machte der Betrieb dicht. Die toxischen Hinterlassenschaften sind nun großräumig verstreut: Die Giftasche der Firma Hölzl wurde jahrelang auf Deponien verbracht und als Düngemittel an private Interessenten abgegeben.
Die nachhaltige Giftwirkung der Dioxine vor allem im Boden, wie sie seit der Seveso-Katastrophe weltweit belegt und erforscht ist, bestätigte sich auch in Maulach. Bereits 1986 und 1987 waren in Bodenproben 20 bis 1252 ng/kg gemessen worden, ohne daß jedoch das sonst - etwa bei der Warnung vor angeblich gesundheitsgefährdenden Teigwaren - schnell aktive Stuttgarter Regierungspräsidium eingriff.
Die Bevölkerung wurde auch nicht informiert, als im Februar dieses Jahres abermals Bodenproben in der Umgebung der ehemaligen Hölzl-Anlage entnommen wurden. Dabei war bekannt, daß jahrelang auch direkt auf dem Boden des Firmenanwesens alte Kabelbäume verbrannt worden waren.
Auf einer Karte der Karlsruher Landesanstalt für Umweltschutz (LfU) ist dennoch der unmittelbare Fabrikbereich nicht als Belastungszone ausgewiesen. 1986 hatte nämlich die LfU - reichlich naiv - angenommen, daß alle Abgase über den Werkskamin ins Freie gelangt und daher in nächster Umgebung keine Dioxin-Spuren zu finden seien. Aber gerade hier, so zeigte sich nun, waren die Konzentrationen am höchsten, unmittelbar an der Werksmauer und auf einem Spielplatz auf der anderen Seite des Firmengeländes.
In einer Februar-Krisensitzung im Stuttgarter Umweltministerium wurden die schlimmen Befunde erörtert, Konsequenzen aber abgelehnt. Würden die einschlägigen Empfehlungen des Berliner Bundesgesundheitsamts befolgt, heißt es im vertraulichen Protokoll, »dann hätte das drastische Auswirkungen für die Bevölkerung in Maulach": Einstellung des Gemüseanbaus, Aufgabe von acht landwirtschaftlichen Betrieben, Einschränkung des Aufenthalts von Kindern im Gefahrenbereich.
Rund 50 Asylbewerber, untergebracht im ehemaligen Hölzl-Wohngebäude, wurden erst letzten Monat vorübergehend verlegt. Der Maulacher CDU-Ortsvorsteher Horst Müller tadelte öffentlich die Beamten der Stadtverwaltung: »Wenn sie ehrlich wären, dann müßten sich alle vor Scham verkriechen.«
Auch in Rastatt wurde die Bevölkerung nicht informiert, obwohl Dioxin-Werte von mehr als 1000 Nanogramm bereits 1985 bekannt waren. An Unkenntnis kann es nicht gelegen haben: Bis 1987 war der CDU-Landtagsabgeordnete des Wahlkreises Rastatt, Roland Gerstner, 58, zugleich Stuttgarter Umwelt-Staatssekretär.
Badische Kommunal- und Landespolitiker wollten jahrelang offenbar jegliche Beunruhigung der Bevölkerung und erst recht Aktivitäten von Umweltschützern vermeiden. Denn 1986 und 1987 förderten die Landesregierung und die Stadt Rastatt die (mittlerweile vollzogene) Ansiedlung eines riesigen Pkw-Produktionsbetriebs von Daimler-Benz, der die Rheinlandschaft belastete; eine öffentliche Diskussion über giftige Industrie-Altlasten hätte das Ansiedlungsvorhaben womöglich gefährdet.
Letzten Monat, nach Bekanntwerden der Rastatter Dioxin-Verseuchung - bei 10 von 60 betroffenen Grundstücken ist die Giftkonzentration so hoch wie in der Seveso-Zone A -, sah sich das Bundesgesundheitsamt (BGA) zu einer Präzisierung seiner Dioxin-Empfehlungen herausgefordert. Auf der Basis der BGA-Stellungnahme verkündete das Regierungspräsidium für Maulach eine detaillierte »Empfehlung«.
Danach dürfen nur noch Böden mit einer Belastung von nicht mehr als fünf ng/kg Dioxin-Vergiftung »uneingeschränkt« landwirtschaftlich und gärtnerisch genutzt werden. Weiter heißt es in dem Stuttgarter Regierungspapier:
Böden mit nur 5 bis 40 ng/kg sollten nicht für Nahrungspflanzen aus dem Boden (Kartoffeln, Möhren, Rüben) oder bodennahe Gewächse (Kopfsalat, Kohl) genutzt und auch nicht beweidet werden;
Böden mit 40 bis 100 ng/kg »Dioxin-Toxizitätsäquivalenten« (TE) seien nur dann zur Futtermittelerzeugung tauglich, wenn sich in Gras und Milch »keine bedenklichen Belastungen« zeigen;
Böden mit mehr als 100 Nanogramm TE/kg sollten weder für die Gewinnung von Nahrungs- noch von Futtermitteln genutzt werden;
für Rastatt wie für Maulach empfehle sich innerhalb von Wohngebieten ein großräumiger Austausch des Bodens »oder die Abdeckung«, wenn die Dioxin-Belastung 1000 ng/kg übersteigt.
Wer das alles bezahlen soll, wer vor allem für den zeitlich noch gar nicht abschätzbaren Nutzungsausfall bei den Bauern in Rastatt und Maulach aufkommen soll - darüber streiten nun Kommunal- und Landesbehörden.
Das vom Bonner Umweltminister Klaus Töpfer (CDU) längst verheißene Umwelthaftungsrecht soll zwar noch in dieser Legislaturperiode verabschiedet werden (siehe Kasten). Das Gesetz kann dann aber nicht rückwirkend angewendet werden, also auch nicht auf die aufgelassenen Firmen Fahlbusch und Hölzl.
Deshalb muß nun wahrscheinlich der Steuerzahler für die Folgen der Verseuchung aufkommen - wie auch in vielen ähnlichen Fällen anderswo: Allein in Baden-Württemberg sind bereits von zehn weiteren Industrie-Standorten bedenkliche Dioxin-Funde gemeldet worden. Die sozialdemokratische Opposition im Landtag verlangt jetzt landesweite Bodenuntersuchungen.
Beim Stuttgarter Regierungspräsidium häufen sich bereits »Hinweise auf Kabelverschwelungsanlagen«, wie der Bürgerreferent der Behörde, Peter Arnold, berichtet: Die Maulacher Methode sei »allgemein üblich« gewesen.
Dem grünen Chemieprofessor Rochlitz schwant Schlimmes: »Es muß schnellstens geklärt werden, ob unter dem harmlosen Stichwort Recycling nicht viele Anlagen existieren, die große Mengen Dioxin freisetzen können.« #