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TOTENGLÖCKNER AUGSTEIN

aus DER SPIEGEL 47/1970

»Diese Woche bin ich auf den Arsch gefallen«, scherzte Herausgeber Rudolf Augstein in der Montags-Konferenz des SPIEGEL und tat so, als tue ihm nichts weh. Um ihn herum saßen die SPIEGEL-Redakteure auf ihren eigenen Hinterteilen und taten ebenso.

Meinungsforschern vertrauend, die er besser kennt, war Rudolf Augstein noch vor der Stimmenzählung in Hessen in den Glockenturm geeilt, hatte das Seil der bekannten FDP-Sterbeglocke ergriffen. Doch -einem erfahrenen Meßdiener wäre dies nicht passiert -- das Seil riß ihn hoch, verhedderte sich mit dem schweren Säbel, den Augstein zugleich zur Verteidigung des Kanzlers gezogen hatte, und -- pardauz, da lag er unten und konnte im neuen SPIEGEL nachlesen, womit er selbst an diesem FDP-Montag alle Welt erfreute: »Das Starren auf die Landtagswahlen wird langsam komisch. Ob in Hessen noch bei 5,7 oder 4,8 Prozent, das Sterbeglöcklein der FDP bimmelt ja ganz silberig und unüberhörbar. Im Frühjahr spätestens ist Feierabend. Ein entschlossener Bundeskanzler wird die Ausfertigung des Leichenscheins nicht abwarten.«

Und dann spielte Rudi sechs Spalten lang mit einer »Zelluloid-Ente ohne Blei im Bürzel«, die er schon -- »das darf nicht wahr sein« -- auf dem Kanzlerthron sah. Ach ja, ja -- Barzel als Kanzler, das verspricht jedem SPIEGEL-Tätigen Lustgewinn« denn mit vergnüglichem Hohngesang auf eines Barzel-Kanzlers Taten läßt sich bequem auch noch das dicke -- weil anzeigenträchtigste -- Vorweihnachtsheft füllen.

Das war das SPIEGEL-Dilemma: Als »die Regierung, die wir gewollt haben« (Augstein), in Bonn ihr Amt übernahm, fiel es zunächst schwer, ihr kritisch zu begegnen. DER SPIEGEL übte sich in Hofberichterstattung, unterrichtete seine Leser wiederholt und in aller Ausführlichkeit über Freud und Leid des achtjährigen Kanzlersohns Matthias: wie er ein größeres Spielzimmer bekam, wie er, »während Papa Staatsgeschäfte besorgte«, mit Spielkameraden den Kanzlerpark inspizierte und wie »der Vater ihn daraufhin verwarnt und einen Lausebengel geheißen hat«.

Doch, gottlob, so blieb es nicht. DER SPIEGEL lernte auch die Regierung, die er gewollt hatte, zu kritisieren, und diese Regierung machte es ihm auch nicht allzu schwer. Aber aus Furcht, weiter der Hofberichterstattung geziehen zu werden, stellte DER SPIEGEL bald auch der FDP und damit der Regierungskoalition den Totenschein aus. Nur weil die drei Leute, die ohnedies nie für Brandt und Heinemann gestimmt hatten, die FDP-Fraktion verließen, sprach DER SPIEGEL von einer »zerbrechenden FDP«. Weitere »mögliche Deserteure« nannte er beim Namen und handelte sich dafür ihr und des Kanzlers Dementi ein. Genscher-Scherze wurden als »Galgenhumor« präsentiert. Einen Bericht über den Landesparteitag der schleswig-holsteinischen FDP stimmte DER SPIEGEL mit der Information ein, er habe »im populären Schmaustreff der Kieler nach Leichenbegängnissen auf dem nahe gelegenen Friedhof« stattgefunden.

SPIEGEL-Resümee: »Fast genau ein Jahr nach der Wahl Willy Brandts zum ersten sozialdemokratischen Regierungschef der Bundesrepublik droht die sozialliberale Koalition zu zerfallen ...

So wurde die FDP vom SPIEGEL mit Hingabe und Sorgfalt zur sterbenden Partei geschminkt. Die Initiative indes, die die FDP in Hessen und damit die Bundesregierung rettete, war dem SPIEGEL vor der Wahl nur zwei spöttische Sätze auf Seite 86 wert über »bisherige SPD-Wähler, die nun zum Votum für die sieche FDP animiert werden sollten.«

Nekrophille oder SPIEGEL-Gläubigkeit -- Rudolf Augstein läutete die Totenglocke für eine FDP« die mit einem 10-Prozent-Erfolg sichtlich auf lebte. Augsteins Rezept für Brandt: Er solle auf Neuwahlen zugehen und dabei ruhig das konstruktive Mißtrauensvotum riskieren.

Doch dies ist kein Risiko, sondern tödliche Gewißheit: Eine FDP, die sich vom SPIEGEL einreden läßt, daß sie im Sterben liegt, dürfte sich nie auf Neuwahlen einlassen. Sie müßte für einen Kanzler Barzel stimmen, um noch drei Jahre am Leben zu bleiben. Barzel als Kanzler? Das kann man wollen, und es wäre gewiß gut für dieses Blatt -- so wie sich einige SDS-Leute den Faschismus herbeiwünschen, damit sich das kapitalistische System hinreißender entlarven läßt.

Doch Totenglöckner Augstein sieht auch eine bessere Lösung: »Kanzler«, duzt er, »Rüste dich fürs Duell, übe täglich im Garten das Schießen mit Pistolen. Laß den Degen rosten, rede von Fairneß, aber präparier dich auf schwere Säbel. Das Duell kommt. An Sekundanten und Leuten, welche parieren helfen, soll es dir nicht fehlen.«

Dem Kanzler sekundieren -- schön, Herausgeber, sehr schööön! Doch dem Kanzler ist wenig gedient mit Helfern, die über den Säbel stolpern und sich mit der Pistole in den eigenen Hintern schießen.

Otto Köhler
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