Totenkult am Feuerberg
Es stand ihm ein Fußmarsch von weltgeschichtlicher Bedeutung bevor, als Hernando Cortez im Herbst 1519 das Hochland von Mexiko betrat.
Von der Golfküste kommend, vorbei an Dschungelbäumen, in denen bunte Aras kreischten, war der Spanier auf Trampelpfaden zum Vulkan Popocatepetl emporgestiegen. Wasserfälle, riesige Kakteen und Zypressen passierten seine 500 Soldaten - im Schlepp hatten sie 14 Geschütze.
Schließlich stand der Konquistador auf einer Ebene, 2240 Meter über dem Meeresspiegel. Schwer rasselte sein Atem. Ein See mit einer Insel lag vor ihm, auf der sich eine gewaltige Tempelstadt erhob, hingestreckt, als wär''s Atlantis. Menschen mit Nasenpflöcken wohnten darin, gewandet
in Kaktusfasern und Baumwolle. Sie aßen Tortillas und schmauchten Tabakpfeifen.
Was für ein Treffen! 9000 Kilometer von der Heimat entfernt war der goldgierige Europäer in eine Welt eingedrungen, die weder Töpferscheibe noch Eisen kannte, das Rad nicht nutzte und deren Einwohner auf einer Stufenpyramide zum Klang von Muscheltrompeten Menschenblut vergossen: das Reich der Azteken.
»Wir marschierten wie im Traum durch diese Herrlichkeit«, schrieb der Soldat Bernal Díaz del Castillo. Kurz danach hätte er fast selbst auf einem Altar geendet.
Doch die Spanier hatten Schießpulver und zügelten mit Blei den Unmut von König Montezuma. Sein grüner Federschmuck wurde zerrissen. Perlen, »groß wie Mandeln«, sowie »88 000 Castellanos in Goldbarren« (ein Chronist) schifften sie nach Europa. Vom Azteken-Chef blieb nur der Name für eine Darmverstimmung.
Fast 500 Jahre nach ihrem Untergang präsentiert nun Berlin das prachtvolle Erbe der unheimlichen Indios. Seit vorletztem Samstag zeigt der Gropiusbau eine Ausstellung über das größte Reich Mittelamerikas - ein »mächtiges Imperium« , wie es im Ausstellungskatalog heißt. Die Versicherungssumme der Exponate liegt bei 500 Millionen Euro.
Leihgaben aus sechs mexikanischen Museen, dazu weitere aus Paris, Chicago und dem Vatikan bietet Kurator Gereon Sievernich auf. Beleuchtet von 40 Lux, liegen Kodizes aus Rindenpapier in den Vitrinen, daneben Jademasken und ein goldener Affe. 2,2 Tonnen ist der Schlangenkopf im Lichthof schwer. Eine Statue zeigt eine gebärende Frau. Die Figur wurde von aztekischen Räubern dem Volk der ver-
feindeten Huaxteken an der Golfküste gestohlen.
Zur Eröffnungsgala waren 1500 Ehrengäste geladen. Unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Johannes Rau und Mexikos Präsident Vicente Fox fanden sich die Delegationen ein, darunter auch Viola König, Direktorin des Ethnologischen Museums Berlin.
»Wunderbar« nennt Sievernich die rund 450 Exponate. In sechs weißen, vollklimatisierten Lkw sind die Schätze aus London an die Spree verbracht worden. Nahe Piccadilly Circus war die Schau zuvor zu sehen - und lockte 465 000 Besucher an.
Das erstaunt nicht. Der ferne Staat, der mit Kakaobohnen zahlte, gilt als Inbegriff von Schrecken, Schmerz und Gier. Geschätzte 5000 Tonnen Gold stahl die spanische Krone den Indianern und finanzierte damit ihre Erbfolgekriege. »Wie Affen griffen sie nach dem Gold und befingerten es«, notierte der Franziskaner-Pater Bernardino de Sahagún (1499 bis 1590), »sie wühlten wie hungrige Schweine nach Gold.«
Avocados, Chili und die »Tomatl« haben wir den Azteken zu verdanken. »Kakao« und die süße »chocolatl« sind Wörter ihrer Sprache - und ebenso der Name des Aas fressenden »coyotl«, was schon besser passt.
Denn das Volk vom anderen Ufer des Atlantiks hat auch unappetitliche Seiten. Ein schlimmer Fatalismus umwölkte die Bewohner vom Fuß des Popocatepetl. Auf der Religion der Azteken laste ein »dunkler blutiger Ernst«, meinte Kardinal Joseph Höffner. Wie kein anderes Volk war es in brutale Kulte verstrickt, berauscht von der Magie des Aderlasses.
Mindestens 13 Gottheiten der Azteken, so der neueste Kenntnisstand, dürsteten nach Menschenfleisch. Verbrannt, enthauptet, von Pfeilen durchlöchert starben die »Auserwählten«. Dem Regengott geweihte Kinder stachen die Azteken-Priester Dornen in die Fingerkuppen.
»Bong! Bong! Bong!« gingen die mit Jaguarfellen bespannten Trommeln der Schamanen. Adlerfedern steckten in ihren Haaren, auch die von Kolibris und Papageien.
Ein Abglanz dieses Dämoniums ist nun - als Ethno-Kunst - in die Berliner Vitrinen gesperrt. So genannte Adlerschalen (für frisch herausgerissene Herzen) dürfen die Besucher anschauen. Sie sehen verzierte Opfermesser mit Steinklingen und Statuen vom Frühlingsgott Xipe Totec. Diesem Götzen zu Ehren wurden Menschen aufgeschlitzt und gehäutet - als wären sie platzende Saatkörner.
Solch drastische Details waren bislang nur aus den Kodizes bekannt. Als die Spanier 1521 das Reich der Mexica, wie sich das Volk selbst nannte, mit Feuer und Schwert zerschlug, brachten die Missionare ungeheure Kunde mit. Von Folterungen war die Rede, von Kannibalismus und Ballspielen, bei denen der Verlierer sein Leben verlor. Der Frankfurter Kupferstecher Theodor de Bry (1528 bis 1598) setzte einige der Berichte in seinem opulenten Werk »America« in Szene.
Aber stimmte das überhaupt? Auch Hannibal wurde bezichtigt, er habe Menschenfleisch an seine Soldaten verteilt. Bereits im 16. Jahrhundert meldete sich der Geistliche Bartolomé de Las Casas kritisch zu Wort. Die Sache mit dem Kannibalismus sei eine Verleumdung, meinte er, um die Indianer besser ausplündern zu können.
Moderne Kulturschaffende fanden Gefallen an solchen Gedanken. Auch der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger (der Las Casas ins Deutsche übertrug) deutete die Azteken, frei nach Rousseau, zu guten Wilden um, die in paradiesischer Höhenluft Schmuselieder angestimmt und allerhöchstens Kaninchen gegrillt hätten.
Die exakte Wissenschaft zog nach. In den neunziger Jahren meldeten sich einige »quellenkritische« Ethnologen zu Wort. Angeführt vom Zürcher Peter Hassler, bezichtigten sie die Missionare und aztekischen Adligen (die nach der Eroberung schnell lateinische Buchstaben lernten) der Lüge. Mit Flintsteinen könne man menschliche Herzen gar nicht aus der Brust schneiden.
Die politisch korrekte Debatte ist mittlerweile verstummt. Es liegen neue Funde vor, die die Azteken eindeutig belasten. »Die Leugnung von Menschenopfern mit der Tendenz einer indianischen Apologetik geht an der historischen Realität weit vorbei«, erklärt der Bonner Altamerikanist Hanns Prem.
Vor allem in Mexico City werden derzeit aufregende Entdeckungen gemacht. Im Rahmen eines groß angelegten »archäologischen Stadtprogramms« sind über 30 Forscher damit beschäftigt, den heiligen Tempelbezirk der Azteken freizuschaufeln (siehe Grafik Seite 174). Er liegt direkt unter der Hauptstadt, zwischen dem Präsidentenpalast und der Kathedrale von Mexiko.
Aus alten Texten ist der Ritualplatz gut bekannt. Dem Missionar Sahagún zufolge standen dort 78 Gebäude: Kapellen, zwei Ballspielplätze, eine Priesterschule sowie ein Raubtierhaus. In der Mitte prangte ein Holzgerüst ("tzompantli"), auf das die Priester die Köpfe von Gefangenen spießten.
Überragt wurde das 500 Meter lange Feld durch eine gestufte Pyramide aus vulkanischem Gestein, die 45 Meter in den Himmel ragte. Auf ihrer Spitze standen zwei Schreine. Der eine war dem Kriegsgott Huitzilopochtli gewidmet. Im anderen stand die Statue vom Regengott Tlaloc.
Diese Plattform gilt als Schauplatz allen Schreckens. Mit Dolchen aus Obsidian schnitten die Priester dort Opfern den Pumpmuskel aus der Brust und verspeisten ihn.
Die Toten seien mit »Chilmole«, einer Pfeffersoße, gewürzt worden, heißt es in der Chronik von Bernal Díaz: »Leib und Eingeweide warfen sie den Jaguaren und Panthern und den großen und kleinen Schlangen, die sie im Raubtier-Hause hielten, zum Fraß vor.«
Als die Spanier 1521 die Azteken-Hauptstadt Tenochtitlan überrannten, ließen sie ihrem Abscheu (der sich gut mit ihrer Raublust vertrug) freien Lauf. Mit 500 Fässern Schießpulver wurden die oberen Etagen des Templo Mayor weggesprengt und die Kultur vom andern Ende der Welt ausgelöscht.
Exakt an dieser Stelle buddeln jetzt die Archäologen. Die Grundmauern der Pyramide liegen schon länger frei. Derzeit wird an der Nordseite des Präsidentenpalastes gegraben. Überall sind Planquadrate abgesteckt. Über den frischen Gruben hängen Schutzplanen.
Die Arbeiten im Stadtzentrum gestalten sich allerdings schwierig. Überall stören Häuser. »Die Mexikaner lassen ganze Straßenfluchten verfallen, um an die darunterliegenden Ruinen zu gelangen«, erzählt Ethnologin König, »das Land entdeckt sein vorkolumbisches Erbe.«
Kleiderfetzen aus bunter Baumwolle kamen zum Vorschein, Reste von Papier, Silbermasken sowie kleine bemalte Gefäße für Duftharze. Und immer wieder Tempelreste. »Wir haben insgesamt 43 Fundamente geortet«, erklärt der Gesamtkoordinator des Projekts, Alvaro Barrera. Doch die Erde birgt auch reichlich Gruseliges:
* Im Norden stießen die Forscher auf einen Schrein, an dem 240 Totenköpfe aus Stuck prangen.
* In der Hauptpyramide fanden sie 60 menschliche Schädel. Sie wurden mit Beilen aus Vulkanglas abgehackt.
* In der Kapelle von Regengott Tlaloc lagen 42 Kinderskelette. In der Nähe kamen verkohlte Knochen zu Tage - wahrscheinlich Gebeine von Hohen Priestern.
Die Anthropologin Ximena Chávez Balderas versucht derzeit, das Knochenpuzzle zu ordnen. Im Juni will sie mit der Analyse beginnen und gezielt nach Hieb- und Bruchspuren suchen. »Wir haben auch zertrümmerte Frauenleichen entdeckt«, berichtet sie.
Der ansehnlichere Teil dieser (laut König) »sensationellen« Funde ist nun im Gropiusbau zu sehen. Acht Fachleute vom Museo del Templo Mayor begleiteten die Schätze nach Berlin. Sachte hoben sie einen Opferaltar ("techcatl« ) aus der Transportkiste und - besonders vorsichtig - auch jene 1,76 Meter große Tonfigur, die beim Bau eines U-Bahn-Stollens zu Tage kam.
Es ist ein Abbild von Mictlantecuhtli, dem Herrn der Unterwelt. Finger wie Krallen hat der Gruselgott, Löcher klaffen in seinem Kopf. Die Brust ist geöffnet, die Leber hängt heraus.
Waren die Azteken Unholde? Eine schlimme Unerlöstheit lastete auf diesem Volk. Bereits die Kinder lauschten, bevor sie in ihren Strohbetten einschliefen, Geschichten von Fledermaus-Dämonen. In einer der Berliner Vitrinen liegt ein Spiegel, wohl das Arbeitsgerät eines Wahrsagers. Die Reflexionsfläche aus Obsidian ist pechschwarz.
Die neuen Funde, vor allem aber die vielen Skelette, stellen die Forscher vor eine große Herausforderung. Einerseits betrieben die Azteken Astronomie und Mathematik. Alle Kinder waren schulpflichtig. »Selbst Augenoperationen führten sie durch«, erklärt der Göttinger Ethnologe Gordon Whittaker.
Doch mit denselben Steinklingen, die scharf wie Rasiermesser waren, schnitten sie andererseits auch Kinderhälse durch. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?
Besonders merkwürdig wirken die Sonderlinge, wenn man sie mit anderen Kulturen vergleicht. Zwar mussten auch den Pharaonen und den Königen von Sumer anfangs Untertanen in den Tod folgen. Chinas Kaiser nahmen ihren Hofstaat mit ins Grab. Später aber stiegen sie auf magischen Ersatz um: Doppelgänger aus Ton.
Jahrtausende hat es gedauert, bis der Mensch das alte Tauschgeschäft mit den Mächten des Himmels überwand. Statt die zürnenden Naturgewalten mit Blut zu besänftigen, verschüttete er am Ende nur noch Messwein.
Einen großen Schritt in dieses Reich der Ethik machte Abraham. Laut Bibel war der Erzvater zwar bereit, den eigenen Sohn auf einem Berg zu opfern. Doch Gott zeigte sich gnädig und begnügte sich mit dem Widder als Ersatz.
Solch eine humane Entwicklung ist bei den Azteken nicht zu finden. Für Gnade und Barmherzigkeit hatte dieses Volk wenig Sinn. Im Gegenteil: Im Verlauf seiner Geschichte weitete es seine sakralen Handlungen sogar noch aus, bis sie sich schließlich in eine weltgeschichtlich einmalige Monstrosität auswuchsen.
Alte Bücher wie der »Kodex Borbonicus« oder der »Kodex Florentinus« geben einen Einblick in das düstere Opfergeschehen des Tropenstaats. »Kein Volk der Erde«, sagt die Archäologin Yolotl González Torres, »hat in solchem Ausmaß Menschenopfer praktiziert.«
Es ist die schiere Quantität, der religiöse Blutzoll, der Rätsel aufgibt. 1487, anlässlich der Neuweihe des Templo Mayor, sollen 20 000 Gefangene gestorben sein. Eine Quelle berichtet über den rituellen Verzehr von Armen und Beinen.
Zu den bizarrsten Schaustücken in Berlin gehören zwei bemalte Tonkelche, die mit Totenköpfen verziert sind. Einst dienten sie als Trinkbecher für die Götter: Mit Blut gefüllt wurden sie den Statuen mit einem Strohhalm an den Mund gehalten.
Was also war da los im Hochland von Mexiko? Tranken die Azteken zu viel vergorenen Agavensaft, Pulque? Wurden sie vom halluzinogen wirkenden Peyote-Kaktus in moralische Verwirrung gestürzt?
Zur Überprüfung all der religiösen Taten dieser Indianer stehen leider nur wenige Fachkräfte zur Verfügung. Altamerikanistik ist ein Orchideenfach. Zudem klaffen Lücken in der Überlieferung.
»Der turbulente und gewalttätige Moment der Conquista war nicht geeignet, uns mit verlässlichem Wissen zu versorgen«, meint Prem. Fast alle aztekischen Bilderhandschriften, geschrieben auf Rindenpapier, gingen in den Wirren der Eroberung in Flammen auf. Entsprechend heikel sind die Thesen, mit denen die Fachleute das Geschehen im Land der Feuerberge zu entzaubern versuchen.
Einige machen es sich ganz leicht. Die Azteken, so behaupten sie, mordeten im Rausch. Denn in ihrer Heimat wuchs eine Superdroge: der Teonanacatl-Pilz. Er sieht aus wie ein Sombrero und wird bis zu zehn Zentimeter hoch. Verwandte der Art haben als »Magic Mushrooms« in den sechziger Jahren manchen Hippie umgehauen.
Auch der US-Ethnologe Marvin Harris glänzte mit einer verwegenen Theorie. Warum Kannibalismus?, fragte er und fand sogleich die Antwort. Es sei der »Proteinmangel« gewesen, der die Leute gezwungen habe, Homo sapiens zu braten.
Mehr Sinn macht da schon die Klimathese, die das turbulente Natur- und Wettergeschehen in Mittelamerika ins Spiel bringt. Es ist ein Gebiet mit Vulkanen und Erdbeben. Hurrikane fegen gegen die Küste. »Im Hochland entladen sich sintflutartige Regenfälle«, erklärt die Ethnologin König, »dann wieder fällt jahrelang kein Tropfen.«
Zwischen 1450 und 1454 erfasste eine Dürre das Land. Schlimme Not brach aus. Also stiegen die Zauberer hinauf zum Schrein des Regengotts, um ihm Kinder darzureichen.
Oder haben die Azteken all ihre Grausamkeit nur bei ihren Vorgängern abgeguckt? Auch andere Kulturen im alten Amerika kannten die rituelle Tötung von Menschen. In den Ruinen von Teotihuacan (erbaut ab 150 vor Christus) wurden 126 geopferte Menschen entdeckt. In Chichén Itzá schubsten die Maya-Priester 30 Männer einen höhlenartigen Schacht hinab.
Auffällig ist dabei, dass ausgerechnet im Raum Mexiko kaum größere Säugetiere leben. Die Azteken verspeisten Hunde - das war''s. Schafe, Ziegen, Stiere - all jene Tierarten, mit denen die Kulturen der Alten Welt sich dem Himmel gewogen machten, standen ihnen nicht zur Verfügung.
Doch all diese Ansätze gelten den meisten Experten nur als »Co-Faktoren« und Begleitmusik eines viel tiefer greifenden gesellschaftlichen Geschehens. Um das Herzopfer der Azteken und dessen universelle Bedeutung begreifen zu können, ist wohl mehr Scharfblick nötig. Drei Faktoren werden in der Fachwelt diskutiert:
* Der soziale: Die aztekische Gesellschaft war streng und hart. Unentwegt führte das Land Krieg. Soldaten und Priester arbeiteten Hand in Hand.
* Der politische: Menschenopfer dienten dem König als Mittel der Unterdrückung. Es waren Machtdemonstrationen, mit denen er seine Untertanen, aber auch feindliche Staaten einschüchterte.
* Der psychoanalytische: Die Azteken betrieben zwar Kannibalismus - aber nur streng eingegrenzt als heilige Handlung. Es waren »Totemmahlzeiten« - laut Sigmund Freud die älteste Religionsübung der Menschheit.
Die Debatte führt damit tief ins Getriebe einer Hochkultur, die ohne Kontakt zur Alten Welt gedieh. Fast 10 000 Kilometer lagen die Kraftzentren des menschlichen Fortschritts entfernt. Rom, Athen, Babylon, Memphis - das waren die Hot Spots, gleichsam der Leib des Zivilisationsprozesses. Der Raum um Mexiko hingegen war eher der Blinddarm.
Gleichwohl brachte auch das abgelegene Mittelamerika Erstaunliches hervor. Bereits ab 1600 vor Christus machten dort die Olmeken von sich reden. Es folgten die Maya, Tolteken und Inka. Als stärkstes Glied dieser Kette traten die Azteken auf, die in einem 200 Jahre währenden Sturmlauf im Hochtal von Mexiko das wohl erstaunlichste Imperium dieses Kontinents errichteten (siehe Chronik Seite 164).
Die Herkunft des Indianervolks ist unbekannt. In den alten Kodizes wird ein Ort »Aztlan« als Heimat genannt. Einige Forscher vermuten, dass sie aus der Gegend von Utah stammen. Ihr Ritus, Menschen an Gerüste zu spannen und mit Pfeilen zu töten, ist sonst nur von den Pawnee-Indianern in Nebraska bekannt.
Irgendwann um 1200 nach Christus, so viel ist gewiss, drangen die Nomaden von Norden aus ins Hochland von Mexiko ein. Es waren Leute mit brauner Haut, mittelgroß und mit leicht vorspringenden Wangenknochen.
Bei ihrer Wanderung stießen die Fremden in uraltes Kulturland vor. Mächtige Ruinen erhoben sich in dem bewaldeten Hochtal, wo die Winde kühler strichen. Auf Teotihuacan wuchs Unkraut. Tula mit seinen Steinriesen, ehemals Hauptstadt der Tolteken, lag unter dichtem Gestrüpp. Und auch die Maya-Stätten auf der Halbinsel Yucatán waren längst marode.
Am Texcoco-See machte der vielleicht 10 000 Personen umfassende Stamm Halt. Das Gebiet war bereits dicht besiedelt. Weil die Neuankömmlinge Streit anfingen, verjagten die Anrainer sie auf eine morastige Schilfinsel in der Seemitte, auf der Klapperschlangen lebten. Dort gründeten die Azteken im Jahr »Ome Calli« (um 1325 nach Christus) die Stadt Tenochtitlan.
Heute ist das Gewässer bis auf wenige Pfützen verschwunden. Stattdessen erstreckt sich die gigantische Hauptstadt Mexikos, errichtet auf dem Grund des Texcoco-Sees (den im 17. Jahrhundert ein Hamburger Ingenieur trockenlegte).
Vor 500 Jahre glitten hier noch Einbäume durch Lagunen. Dammstraßen verbanden die vielen Inseln mit dem Festland. Lastenträger mit schweren Fasersäcken liefen umher. In kleinen Gärten zogen die Bauern Bohnen und Kürbis, gedüngt mit Seeschlamm, Humus und Fäkalien. Ihre Hauptnahrung war der Mais.
Doch schon bald hatten die Sumpfler die Nase voll vom Kürbiszüchten. Mutig und militärisch gesinnt, begannen sie Händel mit den anderen Uferbewohnern. Rot färbte sich der See vom Blut der Nachbarstädte. Die Ethnologin König nennt die Azteken »Parvenüs, die auf bestehende Hochkulturen draufsattelten und diese grausam austricksten«.
Stadt für Stadt nahmen die Fieslinge im Sturmangriff. Im Jahr 1398 wagte sich das Heer, angeführt vom »Kriegsorden der Jaguare und Adler«, erstmals über die begrenzenden Vulkanketten hinaus. Sie stiegen hinab ins 130 Kilometer entfernte Tal von Puebla - runter ins Dschungelgebiet.
Speere und Holzschwerter mit eingelassenen Obsidianklingen gehörten zur Ausrüstung der Wilden. Als Schutz dienten Holzschilde und Brustpanzer aus Baumwolle.
Immer mehr Siedlungen gerieten in Abhängigkeit. 1464 erreichten die Azteken den Atlantik. 1486, unter König Ahuitzotl, weiteten sich die Feldzüge aus. Ganze Orte wurden ausgelöscht. Am Ende waren 50 bis 60 Stadtstaaten unter Kontrol-
le. Der Azteken-Staat reichte nun bis Guatemala.
Zur kämpfenden Truppe gehörte auch eine Art Religionspolizei. Es waren Priester, die die Götzen der Besiegten in die Hauptstadt abschleppten. Dort kamen die Statuen in kleine Kapellen und wurden mit einem rituellen Pflichtprogramm versorgt. Schließlich drängelten sich 200 Götter im Himmel der Azteken.
Weit mehr Interesse aber hatten die Soldaten an Steuern und Abgaben. Ein steter Strom von Waren aller Art floss in Richtung Inselhauptstadt. Bohnen, Früchte und fette Truthähne zog der König ein, auch Edelsteine, bunte Decken und Goldstaub, abgemessen in Federkielen. Um ein einheitliches Verwaltungssystem aber kümmerte er sich nicht. Das Azteken-Reich blieb ein Flickenteppich, in dem über 30 Sprachen erklangen.
Allmächtig war nur das Tributsystem, gesteuert vom »Tlatoani«. In einem Steinpalast mit Holzmöbeln lebte König Montezuma II., der 1502 den Thron bestieg. Diener mit Papageienfedern wedelten ihm Luft zu. In seinem Garten am »Heuschreckenhügel« lebten Affen und Jaguare und sogar ein Bison aus Nordamerika.
Eine »Aura der Unberührbarkeit« (Prem) umgab diesen Herrscher. Auch der
Geburtsadel, der etwa zehn Prozent der Bevölkerung stellte, schottete sich im Zuge der imperialistischen Erfolge immer mehr ab. Kleider, besetzt mit Perlen und Muscheln, trugen die Reichen. Sie schlürften teuren Kakao.
Die einfachen Bauern dagegen, im Lendenschurz, aßen Bohnengrütze mit Tortillas. Drei Ernten schafften die Landwirte pro Jahr. Truthähne hielten sie in Käfigen und Xolos - kleine, haarlose Hunde, die ihnen winters im Bett auch als »Wärmflaschen« (Whittaker) dienten.
Eine Sonderrolle in diesem Ständestaat nahmen die Fernhändler ein. In gefährlichen Missionen, quer durch Feindgebiete, schafften sie die begehrten grünen Federn des Quetzal-Vogels aus Guatemala heran.
Mittelpunkt dieser Kultur aber war das prächtige Tenochtitlan, das die Spanier als »fernes Venedig« bewunderten. Gärten säumten die Kanäle der Stadt, an denen sich Lehmhäuser hinzogen. Dort lebten - in Großfamilien - Tanten, Onkel und Großeltern unter einem Dach.
Handwerker, Ärzte, auch Prostituierte, rund 250 000 Leute wohnten in der Metropole, deren Hafen im Osten lag. Anschaulich hat Cortez in einem Brief an den spanischen König den großen Markt beschrieben. »60 000 Menschen« würden dort täglich zusammenkommen.
Leicht und locker hätten diese Leute vom Hochtal der Vulkane das Leben angehen können - als fröhliche Pulque-Trinker, mit Knusperhunden auf dem Teller, in der Stirn den Sonnenhut, während Trommel und Flöte zum Tanz aufspielten.
Dem war nicht so. Als die Spanier 1519 Tenochtitlan erreichten, stockte ihnen der Atem. Von Montezuma achtvoll empfangen, stieg Cortez die 114 Stufen der großen Pyramide hinan und blickte auf eine Zivilisation, die ihm infernalisch vorkam. Noch »an diesem Tag«, erzählt der Soldat Bernal Díaz, sei »viel Blut vergossen« worden.
Zum Klang von Xylophonen und Muscheltröten tanzten sich die Priester in Ekstase. Sie trugen starre Masken, die nassen Leiber mit Vogelfedern geschmückt. Mal zerstachen sie ihre Opfer mit Lanzen, mal schubsten sie die Armen von hohen Gerüsten herab - und umtanzten die Zerschmetterten.
Viermal schon sei die Menschheit durch Katastrophen ausgelöscht worden, wurde in den Schulen gelehrt. »Die Azteken fühlten sich als Kinder der fünften Sonne«, erklärt Whittaker - wiedergeboren durch eine Mixtur aus gemahlenen Skeletten und dem Blut aus einem überirdischen Penis.
Die wichtigste Zeremonie kann die Berliner Ausstellung nicht zeigen. Es ist die Selbstkasteiung: Kaktusstachel steckten sich die Frauen in Ohrläppchen und Zunge, Männer bevorzugten das Gemächte. Abgerundet wurde das Sortiment an Bußübungen durch Fasten, Dauertanz und »nächtliches Wachen«, wie Prem erzählt.
Quälereien dieser Art kannten zwar auch schon die Maya. Das Blutentnahmeritual mit Obsidianklinge oder Rochenstachel war sogar ihre »zentrale liturgische Handlung«, wie die US-Ethnologin Linda Schele sagt. Doch wieder ist es die schiere Quantität, mit der die Azteken alle Vorläuferkulturen in den Schatten stellten.
Psychologisch lässt sich dieses Wehtun leicht erklären. Der Tod war ein Begleiter der Azteken. Ständig wurde gemordet und geschlagen. Die daraus resultierenden Schuldgefühle könnten sich in Gewissensbisse verwandelt haben, in Quäl-Impulse.
Auch die überstarke Furcht dieses Volks vor Dämonen aus dem Jenseits, wäre dann eine Projektion - die Angst vor der Wiederkehr der Getöteten, die nach Rache schreien.
Die Ethnologin König schätzt, dass per anno »etwa 500 bis 700 Menschen« bei den religiösen Zeremonien ihr Leben ließen. Doch das war nicht alles, hinzu kamen die großen Staatsakte. Bei Amtsantritten von Königen und bei Tempelweihen sei die Zahl der Toten noch »wesentlich höher« gewesen.
Einige der damals Geopferten bringen die Archäologen nun als Gerippe wieder zum Vorschein. Die Knochen aus dem Tempel des Tlaloc stammten »von Kindern im Alter zwischen vier und sieben Jahren«, berichtet die Expertin Chávez Balderas. Es war Jungvolk, das wohl während einer Dürre sterben musste.
Mehr noch als der Regengott aber verlangte Huitzilopochtli nach Hämoglobin. Dies war der Stammgott der Azteken. Manchmal trat der Götze in Gestalt eines Kolibri auf. Auf den großen Kultsäulen dagegen war er meist mit einer Halskette aus Totenköpfen oder einer »Feuerschlange« dargestellt - dem Symbol für herabstürzende Kometen.
Der Poltergeist mit dem fast bayerisch klingenden Namen stand im Himmel der Azteken ganz oben. Er war der Gott der Sonne und des Krieges.
Die alten Texte erzählen, dass Huitzilopochtli schon vor der Geburt Probleme hatte. Die Schwester und Mondgöttin Coyolxauhqui trachtete dem pränatalen Brüderlein nach dem Leben. Doch das sprang in voller Rüstung aus dem Mutterschoß, schlug der Neiderin den Kopf ab und zerstückelte sie.
Vom Kampf zwischen Mann und Frau, Sonne und Mond, Licht und Finsternis erzählt dieser Mythos - aber noch Entscheidendes mehr.
Denn die Azteken glaubten, dass die Sonne für ihre Bewegung am Himmel eine Art Treibstoff brauche, sonst drohe ewige Nacht. »Damit die Sonne die Erde erleuchten kann, muss sie sich von Menschenherzen nähren und Blut trinken«, heißt es in einem Kodex. Mit dieser Verklammerung war das Menschenopfer auf höchster Ebene theologisch abgesichert.
Sogar für die Zauberenergie in den Adern hatten die Priester einen Namen: Der Wirkstoff hieß »chalchihuatl«. Wenn Huitzilopochtli dieses Serum nicht erhielt, so Whittaker, »drohte der ganze Kosmos unterzugehen«.
Die Spanier machten mit dem grausen Solargott kurzen Prozess. Wie im Taumel zerschlugen sie die Statuen mit Hämmern und Schwertern, andere setzten sie in Brand. In der Berliner Ausstellung ist ein einziger Huitzilopochtli zu sehen. Die Figur ist kaum daumengroß.
Hauptbühne und Zentrum des gefährlichen Sonnenkults war der imposante Tempelbezirk in der Hauptstadt. Chefausgräber Eduardo Matos Moctezuma schätzt die Länge des dämonischen Gevierts auf etwa 500 Meter.
An der Ostseite des Feldes stand die große Stufenpyramide. Die Fundamente zeigen, dass der Bau sieben Phasen durchlief. Der Grund: Fast jeder König verkleidete das Heiligtum mit einem neuen Steinmantel. So wuchs es wie eine Zwiebel. Als der Eroberer Cortez den abgeplatteten Kristall bestieg, besaß er eine Grundfläche von 82 mal 82 Metern.
Oben auf der Plattform standen zwei Schreine. Links, blauweiß gestrichen, der Tempel des Regengotts Tlaloc - daneben, rotweiß, der von Huitzilopochtli. Auf dieser Terrasse vollzog sich das entscheidende »kultische Drama« der Azteken - das Herzopfer.
Mit farbigen Streifen bemalt, stiegen die Erkorenen die Treppe empor. Auf der Plattform warteten Priester. Musikanten mit Flöten und Hörnern stimmten ihr Lied an. Sodann wurde das Opfer mit überdehnter Brust rücklings auf den schmalen Altar gedrückt. Vier Helfer hielten den Todgeweihten, ein fünfter würgte ihn bewusstlos.
Was dann geschah, hat Bernal Díaz in seinem Augenzeugenbericht beschrieben. 1519 war der damals 23-Jährige mit Cortez nach Tenochtitlan vorgerückt und in einen aztekischen Aufstand geraten. In dieser Situation musste er mit ansehen, wie einige seiner Kameraden zum »grauenhaften Widerhall« der »markerschütternden Pauke Huitzilopochtlis« auf dem Pyramidendach ihr Leben verloren:
Mit Feuersteinmessern sägten die Azteken ihnen die Brust auf, rissen ihnen das noch zuckende Herz heraus und boten es den Götzen, die dort gegenwärtig waren, dar. Dann stießen sie die Körper mit den Füßen die Stufen hinunter. Unten warteten weitere blutrünstige Priester, die ihnen Arme und Beine abschnitten und die Gesichter häuteten. Diese gerbten sie dann wie Handschuhleder. Samt ihren Bärten bewahrten sie sie auf, um mit ihnen Feste zu feiern, während sie ein Saufgelage veranstalteten und das Fleisch mit Chilmole verschlangen.
Kaum ein Ethnologe zweifelt noch daran, dass der Ritus korrekt wiedergegeben ist. »Die Schilderung deckt sich weitgehend mit den archäologischen Befunden«, konstatiert Whittaker.
Gestritten wird nur über Kleinkram, zum Beispiel, wie es gelang, das Zentralorgan aus der Brust zu kriegen. Der US-Herzchirurg Francis Robicsek glaubt, dass die Priester eine »transverse anteriore Thorakotomie« durchführten (Zersägen des Brustbeins). Prem dagegen meint: »Sie schnitten Oberbauch und Zwerchfell auf.«
Der religiöse Sinn der Aktion aber ist unstrittig.
Die Pyramide wurde zum Schauplatz des Kampfs zwischen Huitzilopochtli und seiner Schwester, der Mondgöttin, wie ihn auch der Mythos erzählt. Ihr Tod gab der Sonne neue Nahrung.
Schon länger ist auch bekannt, wohin die Geopferten beim Sturz vom Tempel fielen. Am Fuß der Pyramide wurde eine runde Steinplatte mit dem Abbild der zerfetzten Mondgöttin Coyolxauhqui entdeckt. Sie wiegt acht Tonnen und zeigt eine Figur ohne Kopf. Aus dem Hals züngeln Schlangen.
Aber wurden die Opfer tatsächlich verspeist? Die Berichte der Missionare enthalten teils sehr genaue kannibalistische Schilderungen. Die Azteken verzehrten demnach mit Vorliebe einen Teil des Oberschenkels. »An den seltenen anthropophagen Handlungen nahmen breite Teile der Bevölkerung teil«, erzählt Whittaker.
Gleichwohl zögern manche Ethnologen, die alten Berichte als voll glaubwürdig anzuerkennen. Zu abscheulich scheinen die Details, die Leute wie Bernal Díaz, Diego Durán, aber auch einige aztekische Adlige erwähnen.
Dabei könnte es auch dafür eine Erklärung geben. Es war Sigmund Freud, der in seinem 1913 erschienenen Werk »Totem und Tabu« als einer der Ersten einen möglichen Schlüssel zur Deutung der Menschenfresserei fand.
Freud ging davon aus, dass der Homo sapiens anfangs in »Horden« lebte, angeführt von einem »Urvater«, der eifersüchtig alle Weibchen bewachte und die Nebenbuhler vertrieb. Diesen Boss, so sein Denkmodell, töteten die Brüder und aßen ihn auf. Durch das Verspeisen des Leithammels habe der Clan Anteil an seiner Kraft genommen und so auch die Identität der Gruppe gestärkt.
Dieses Verbrechen, behauptete Freud, sei im Laufe der Zeit zunehmend vergeistigt worden. Anstelle des Urvaters trat zuerst das »Totemtier«, eine Art Primitivgott. Dann, mit der Sesshaftwerdung der Menschen, entstanden größere soziale Verbände und mit ihnen immer abstraktere Götter.
Die Religion, so Freud, sei aber im Prinzip nichts anderes als die zwanghafte Wiederholung einer alten kriminellen Handlung. Das Opfer, das die gläubige Gemeinde ihrem Gott darreicht und mit ihm gemeinsam verspeist, ist er selbst - der kannibalisch verzehrte Urvater.
Viele Ethnologen geben inzwischen zu, dass diese Annahme viele heidnische Riten erklären könnte. Und sogar die christliche Kommunion geriet durch den Wiener Seelenarzt in ein neues Licht: Das Abendmahl mit Wein und Ob late, Symbol für Blut und Leib Christi, galt ihm als eine Form der Totemmahlzeit.
Bei den Azteken tritt das Schema überdeutlich hervor. Stets wurden die Opfer vorm Töten umsorgt, gebadet und auf ihre zeremonielle Rolle vorbereitet. Man schmückte sie mit Federn, Papierschlangen oder Fellen. »Die Opfergefangenen trugen die Kostüme der Götter«, erklärt Forscherin König.
Manche übernahmen die Rolle sogar freiwillig. Wie Schauspieler ließen sich die Erwählten regelrecht »trainieren«, wie Whittaker berichtet: Sie lernten singen und tanzen. »Vor seinem Schicksal wegzulaufen galt als Schande.«
Bei dem wohl grausamstem Ritus, dem Ochpaniztli-Fest, stand eine junge Frau im Mittelpunkt. 14 Tage zog sich dieser Fruchtbarkeitsritus zu Ehren der Urmutter und Maisgöttin Toci hin. Zu Beginn ging alles ganz locker los. Mit einem karierten Kleid tanzte das Mädchen durch die Stadt. Sie streute Maiskörner auf den Marktplatz und webte im Tempel Tücher. Heilerinnen und Ärztinnen sangen mit ihr.
Doch dann, mitten in der Nacht, trat jäh der Oberpriester heran und enthauptete die Frau.
Drastisch hat der Historiker Durán beschrieben, wie der Schamane »von Kopf bis Fuß in Blut getränkt« sogleich die nächste Scheußlichkeit plante: Jäh schälte er dem Opfer die Haut vom Leib und warf sie sich als Umhang über die Schulter - und wurde damit selbst zur Toci.
Was dann folgte, war ein wilder Lauf quer über den heiligen Bezirk, hoch zur Pyramide. Dort wurden vier Gefangene regelrecht geschlachtet. »Feuerpriester« traten hinzu, Duftharz qualmte, ehe die Aktion mit Todesstürzen von einer Balustrade ausklang. Am Ende waren mindestens neun Menschen tot. Festlich gekleidet nahmen die Azteken an der Schau teil. 18 ähnliche Zeremonien führten sie pro Jahr durch. Jeder Monat gipfelte in einem großen Opferritus. Zum Höhepunkt der Feste strömten Scharen von Zuschau-
ern in den von Mauern umschlossenen Tempelbezirk.
Aus heutiger Sicht mag es verwundern, dass der brutale Staat nicht auseinander flog. Doch nach innen war die aztekische Ordnung halbwegs menschlich gestaltet. Die Sklaverei etwa war unbekannt. Bestechliche Richter wurden hingerichtet. Adlige erhielten für dieselben Vergehen härtere Strafen als die Bauern.
Für die Blutlachen auf den Altären sorgten stets Leute von außerhalb. Gezielt zogen die Soldaten los und holten Nachschub. Prem spricht von einem »kriegerisch-religiösen Komplex": »Menschen für die Opfer heranzuschaffen war die vornehmste Aufgabe der Krieger.«
Wie stark Militär und Priestertum Hand in Hand arbeiteten, zeigen auch die neueren Funde im Nordteil des Tempelbezirks. Dort wurde ein lebensgroßer, tönerner Soldat im Adlergewand entdeckt. Es war ein Häscher im Dienst des Huitzilopochtli.
Die Statue beweist, was die Forscher seit langem argwöhnen. Die Menschenopfer hatten auch eine politische Bedeutung. »Sie waren ein Mittel der Unterdrückung und der Machtausübung gegen das Volk«, wie es die Ethnologin González Torres ausdrückt.
Mit dem Instrument des Terrors spielte der aztekische Staat von Anbeginn. Er verbreitete Schrecken, um zu herrschen - wer es wagte, die Tribute zu verweigern, landete auf dem Schlachtaltar. Die (um 1598 von einem aztekischen Adligen verfasste) »Cronica Mexicana« berichtet, dass Rebellen verhaftet wurden, »um sie zu verbrennen und zu essen«.
Vor allem ihre Thronjubiläen feierten die Könige wie pompöse Drohgebärden. Alle Granden des Reiches mussten zu diesen Veranstaltungen erscheinen und mit ansehen, wie von der Pyramide die Toten kollerten.
Selbst die aztekischen Bildhauer standen im Dienst der Einschüchterung. »Meister der Schockkunst« nennt sie der US-Forscher Jeffrey Quilter. Die Priester bliesen auf Knochenflöten. In einer Vitrine im Berliner Gropiusbau liegt ein Totenschädel. Er ist verziert mit Steinen aus Türkis.
Als besonderes Datum gilt die Tempelweihe von 1487. Die Pyramide hatte einen neuen Steinmantel erhalten. Blitzsauber strahlten die Stufen. Aber nicht lange. Der »Kodex Telleriano-Remensis« notiert, dass damals 20 000 Menschen starben. Die Zahl ist in aztekischen Zahlzeichen angegeben.
In vier Schlangen, heißt es, hätten sich die Opfer angestellt. Oben standen mehrere Altäre, an denen das Messer »vier Tage und Nächte« kreiste. Ein Großversuch mit Schweizer Studenten bewies die praktische Durchführbarkeit des Beschriebenen.
Auch Whittaker hält die Angaben für möglich. »Getötet wurden Gefangene aus dem feindlichen Gebiet östlich und nordöstlich des Hochtals«, sagt er. Sein Kollege Prem dagegen bleibt skeptisch. Er vermutet, »dass die in indianischen Quellen mitgeteilten Zahlen von Zehntausenden Opfern auf Irrtümern« beruhen.
Dass die Mexica in der Schlussphase ihrer Geschichte den Gipfel des Schreckens erreichten, bezweifeln aber auch die Skeptiker nicht. Um den ständig steigenden Bedarf an Menschenopfern zu decken, führten sie so genannte Blumenkriege durch. Bei diesen Kriegen ging es weder um Geländegewinn noch um materielle Güter. Ihr einziges Ziel: Nachschub von Herzen.
In diesen Alptraum platzte jäh der Abenteurer und abgebrochene Jurastudent Hernando Cortez. 90 Tage zogen sich die Kämpfe zwischen Spaniern und Azteken hin, zuletzt mit erbitterten Gefechten auf dem Tempelgelände. Am 13. August 1521 fiel Tenochtitlan. Tausende Indianer starben.
Den Rest besorgten Gelbfieber, Pocken und Pest. Im Jahr 1650 waren fast 90 Prozent der Ureinwohner Lateinamerikas ausgelöscht.
Mit der Bevölkerung verlor der Kontinent auch sein Edelmetall. Der Hafen von Sevilla schlug bis zum Jahr 1560 rund 16 000 Tonnen Silber um. Als Albrecht Dürer anno 1520 in Brüssel einiger aztekischer Pretiosen ansichtig wurde, schwärmte er: »Nichts hat mein Herz so erfreuet.«
Einige der Klunker, die den Schmelztiegeln der Spanier entkamen, werden nun im Gropiusbau ausgestellt. Auch ein Grashüpfer aus rotem Stein ist dort zu bewundern, Tabakpfeifen und ein Altar zu Ehren des Planeten Venus.
Die Fundstücke belegen: Große Himmelskundler waren die Azteken, kunstfertige Handwerker und geschickte Landschaftsarchitekten. Zugleich aber schufen sie eine Religion ohne Gnade.
Immerhin besteht nun Hoffnung, das dunkle Geheimnis zu lösen, das auf dieser Kultur liegt. Die Ausgräber arbeiten auf dem heiligsten Platz dieses Volkes. Wenn dort wirklich Zehntausende Menschen starben, müssen irgendwo weitere Berge an Knochen und Gerippen liegen. Werden die Forscher sie finden?
Zwar hat das archäologische Projekt in Mexiko hohe Priorität. Doch ist die Kathedrale den Ausgräbern im Weg. Unter ihren Fundamenten werden verborgene Tempelanlagen vermutet.
Der Plan, das Gotteshaus abzureißen, ist vorerst gescheitert. Im Stadtrat fand sich keine Mehrheit. Die älteste Kathedrale Lateinamerikas bleibt stehen. MATTHIAS SCHULZ
* Im Hintergrund die Kathedrale von Mexico City.* Links: Schädelwand am Templo Mayor in Mexico City; Mitte:Adlerkrieger aus Terrakotta; rechts: Darstellung einesGefangenen-Opfers (aus einem mexikanischen Kodex des 16.Jahrhunderts).* Darstellung aus dem 19. Jahrhundert.* Dargestellt ist der Feuergott Xiuhtecuhtli.* Beim brasilianischen Stamm der Tupinambá-Indianer;Kupferstich aus dem Werk »America« von Theodor de Bry aus dem 16.Jahrhundert.* Im Vordergrund ein Schlangenkopf am Tempel des Quetzalcoatl.* Links: Maske mit dem Antlitz des Regengottes Tlaloc; rechts:Darstellung des Sonnengottes Huitzilopochtli.* Mit Darstellung eines aztekischen Priesters.* Mit Schädelfunden vom Templo Mayor in Mexico City.