Altlasten Totenstille im Forst
Durch den dichten Forst bei Klengel im Kreis Eisenberg, nahe dem Hermsdorfer Kreuz, wo sich die Autobahnen nach Leipzig und Jena kreuzen, schlängelt sich ein makelloser Rundkurs. Die 3500 Meter lange Asphaltstrecke ist gepflegt und intakt wie kaum ein anderer Kilometer Straße in Deutschland Ost: offiziell eine Trainingsanlage für Radsportler.
Der offiziellen Version glaubten die Menschen in den umliegenden thüringischen Dörfern nie. Nur wenige Male sah man in den letzten Jahren Rennfahrer radeln. Dafür war der 14 Millionen Mark teure Radweg nachts taghell erleuchtet.
Spaziergänger wurden von scheinbar zufällig anwesenden Herren in Schlips und Kragen nach Hause geschickt. Warum, fragte keiner. Nachfragen waren allemal gefährlich im Staate Honeckers.
Inzwischen darf wenigstens gefragt werden. Antworten gibt es immer noch nicht. Hartnäckig, aber mit wenig Erfolg bemüht sich das Bürgerkomitee im nahen Jena, hinter die Geheimnisse der Anlage zu kommen.
Die Bürgerrechtler sind beunruhigt über Berichte von seltsamen Erkrankungen in den umliegenden Dörfern Klengel, Serba und Hainspitz. Hunderte von Menschen leiden in regelmäßig wiederkehrenden Abständen an Krämpfen und Hautausschlägen, Stirnhöhlenvereiterungen und atypischen Lungenentzündungen, an Erbrechen und Durchfall.
Klagen gab es schon seit Jahren. Auch Fisch- und Kaninchensterben wurden immer wieder beobachtet. Manchmal, erinnert sich Sigfried Kubelke, Elektronik-Ingenieur aus Klengel, »herrschte Totenstille im Klengeler Forst«.
Schnell stießen die Leute vom Bürgerkomitee und vom Neuen Forum bei ihrer Suche nach den Ursachen auf die Asphaltbahn im Wald von Klengel. Beim ersten Besuch wurde klar: Dies war kein Platz zum Radeln. Die Bürger entdeckten Spuren von Kettenfahrzeugen, zahlreiche elektrische Schaltkästen und geteerte Ableger des Rundkurses, die im Wald endeten.
Verdachtsmomente ergänzten sich: Der Klengeler Forst, so kam heraus, diente den Raketeneinheiten der Nationalen Volksarmee und den sowjetischen Streitkräften, die rund um das strategisch wichtige Hermsdorfer Kreuz stationiert sind, als Übungsgelände. Und in einem Bericht der Olof-Palme-Kommission fanden Forum-Leute Hinweise auf Kampfgaslager.
Der Grund für die Erkrankungen, so die Vermutung, könnten Giftgasübungen der Soldaten im Wald gewesen sein. Doch Enthüllungen über die unglaublichen Machenschaften des alten Regimes sind in der DDR nun an der Tagesordnung. Die Leute am Wald von Klengel hörten sich gelassen an, mit welchen immer neuen Theorien die Aufklärer aus Jena ihnen kamen.
Als Quelle des Unheils geriet bei den Bürgerrechtlern bald auch das Kombinat Industrielle Mast (Kim) in Verdacht. Die Farm, inzwischen umbenannt in Thüringer Geflügelhof Hermsdorfer Kreuz, war bislang nur wegen des dort herrschenden Gestanks gefürchtet: In rund hundert Hallen werden Hunderttausende von Hühnern gehalten.
Kim, so stellte Martin Krautwurst, Geschäftsführer des Neuen Forums Jena, fest, wurde in den Berliner Stasi-Akten als militärisches Objekt geführt. Alle weiteren Informationen waren jedoch durch Manipulationen am Stasi-Computer gelöscht.
Der Verdacht, ein Kampfgaslager befinde sich unter der Geflügelfabrik, wurde von Nachbarn genährt, die beim Bau des Unternehmens aufwendige Erdarbeiten beobachtet hatten. Bei einer Inspektion des Hühnerhofs suchten die Mitarbeiter des Bürgerkomitees jedoch vergebens nach einem Eingang.
Irgend etwas aber stimmte mit der Farm nicht. Anonyme Anrufer drohten den Forum-Leuten: »Laßt die Finger von Kim.« Ins Jenaer Haus der Parteien, wo das Neue Forum sitzt, wurde mehrmals eingebrochen, Feuer gelegt.
Nach einem Einbruch in die Räume des Neuen Forums fehlte nichts außer einem militärischen Lageplan des Gebietes rund ums Hermsdorfer Kreuz. Den Forum-Mitarbeiter Markus Heckert versuchten Fremde nachts in ein Auto zu zerren. Seitdem wechselt er »ganz wie früher mal wieder öfter die Schlafstelle«.
Alarmiert von den Meldungen aus Thüringen, schaltete sich die Regierung in Ost-Berlin ein. Obwohl Oberst Rolf Büttner, Chef der Chemischen Dienste der NVA, vergleichbar den ABC-Abwehreinheiten der Bundeswehr, versicherte, daß weder die NVA noch die sowjetischen Truppen jemals Kampfgas auf dem Boden der DDR gelagert hätten, wurde er am Dienstag vorletzter Woche vom Volkskammerausschuß für Abrüstung und Verteidigung mit einem radiologisch-chemischen Feldlabor zum Klengeler Forst in Marsch gesetzt.
Doch der Offizier hatte in die Hauptstadt nichts Neues zu melden: Die Boden- und Wasserproben, unter den Augen der Komiteemitglieder gezogen und im mobilen Labor vor Ort untersucht, zeigten nach der Grobanalyse, so Büttner, »keine Spuren von Kampfgasen«.
Schon der äußere Anschein, argumentierte der Oberst, spreche gegen ein Kampfgaslager. Kein Regime würde gefährliche Stoffe wie Tabun, Sarin oder Lost ohne die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen wie Schleusen und Unterdruckkammern lagern: »Solche Anlagen sind aber so aufwendig, daß sie mit Sicherheit nicht verborgen blieben.«
Nur halb überzeugt vom NVA-Einsatz, macht sich das Bürgerkomitee nun auf die Suche nach anderen Ursachen für die Massenerkrankungen. Die zuständigen Behörden, wie die Bezirkshygiene-Inspektion in Gera, unterstützen es nach wie vor nicht.
Zwar hat die Inspektion eine Liste von mehr als 20 Familien, die alle über ähnliche Symptome klagen, zwar hat der Umwelt-Dezernent des Nachbarkreises Stadtroda von massenhaften Brech- und Durchfallerkrankungen in den Kindergärten und Schulen seines Sprengels berichtet - doch bis heute ist kein einziger Patient von den Amtsärzten untersucht worden.
Hans-Joachim Felgenträger, Chef der Hygiene-Inspektion, hat Routine im Abwimmeln von Beschwerden: Er diente hier schon vor der Wende. Der Mediziner ("Wir haben es zu unserer Lebensaufgabe gemacht, Schaden von den Menschen abzuwenden") mag auch heute nicht an Schadstoffe in Luft, Boden oder Wasser glauben.
Grund für die Beschwerden der Anwohner des Klengeler Forstes, so vermutet der Chef-Hygieniker, sei eine Art Massenpsychose: »Die Menschen lesen jetzt ständig etwas über die verseuchte Umwelt. Und jeder, der sich nicht wohl fühlt, glaubt, daß es an der Umwelt liegt.«
Früher sei alles vertuscht und beschönigt worden: »Jetzt haben die Menschen Angst, den offiziellen Stellen traut niemand mehr. Das ist die psychische Altlast, die uns hier zu schaffen macht.«
Daß den Menschen am Wald nicht wegen chemischer, sondern wegen psychischer Altlasten zum Kotzen ist, mag das Bürgerkomitee immer noch nicht glauben. Die Rechercheure wollen jetzt mit Hilfe von Greenpeace und selbstfinanzierten Laboruntersuchungen die eigenen Theorien untermauern.
Mittlerweile ist wahrscheinlich, daß die Ursache in einer Häufung unterschiedlicher Umweltbelastungen liegt. So wird der Hühner-Mastbetrieb, wie Forum-Mitarbeiter Heckert erfuhr, zur Desinfektion regelmäßig mit Formalin ausgesprüht. Zusätzlich werde die Umwelt durch die massenhafte Gabe von Antibiotika belastet.
Obwohl Erhard Wöllecke, Geschäftsführer des Geflügelhofes, und sein Betriebsarzt die Erkrankungen für »aufgebauschte Panikmache« halten, meldeten sich viele der 400 Beschäftigten beim Neuen Forum und klagten über Beschwerden. Aus Angst vor Entlassungen wollen sie anonym bleiben.
Verseucht wurde die Gegend auch durch den jahrzehntelangen Einsatz von Agrarfliegern, die die kilometerlangen Getreidefelder wahllos, auch bei starkem Wind, mit Herbiziden und Pestiziden vernebelten. »Die verfuhren«, so Heckert, »immer nach dem Motto: Viel hilft viel.«
Schließlich meldeten sich NVA-Leute, die von Pannen beim Betanken der Raketen im Klengeler Forst berichteten. Dabei seien mehrfach Hunderte von Litern des hochgiftigen Raketentreibstoffs im Boden versickert.
Am Ende, prophezeit die SPD-Volkskammerabgeordnete Christine Rudolph aus Jena, »wird sich der Skandal vom Hermsdorfer Kreuz als einer der ganz alltäglichen fürchterlichen Skandale entpuppen, an denen es in der DDR offensichtlich nie einen Mangel gab«.
Den Beweis, daß es nicht Angst ist, die Krämpfe, Entzündungen und Durchfall bei Bewohnern der Gegend auslöst, bekamen die Komiteemitglieder schon beim Ortstermin mit der NVA am Dienstag vorletzter Woche. Der Oberst steckte der Kommission aus Jena: »Da ist noch was, der Zeiger schlägt aus, ich weiß nur noch nicht, was.«