ANDORRA / DE-GAULLE-REISE Toter, erhebe dich
Der Olympier wechselte vom Welttheater auf den Operettenboden. Der Gladiator spielte Buffo. 270 000 Kilometer ist Frankreichs Charles de Gaulle durch Orient und Okzident gereist. Mehr als einer halben Milliarde Menschen hat er die Botschaft der Grollen Nation verkündet. Anfang vergangener Woche bestieg er den Gipfel: das Pyrenäen-Fürstentum Andorra.
»Frankreich sieht euch, hört euch, liebt euch, es lebe das freie Quebec«, rief er im Juli vor mehr als 100 000 jubelnden Kanadiern in Montreal. »Es lebe Zabrze, die polnischste aller polnischen Städte«, rief er im September vor Hunderttausenden jubelnder Polen. »Visca el pahis d'Andorra (Es lebe das Land Andorra), jetzt sind wir mit euch vereint«, rief er 3000 Andorranern in deren Hauptstadt Andorra la Vella zu.
Die meisten der besuchten Länder waren größer als Frankreich, Andorra aber ist 1185 mal kleiner als de Gaulles Vaterland. Diesmal war Frankreich wirklich groll.
»Niemand weiß, warum de Gaulle eigentlich gekommen ist«, rätselte das spanische Falange-Blatt »Arriba«. Doch der General hatte seinen Grund: »Karl der Große war da, also muß ich auch bin«, vertraute er seinen Beratern an.
Tatsächlich hat nie ein französischer Souverän Andorra betreten, seit Karl der Große um 800 die Sarazenen aus den Pyrenäen vertrieb. Dabei ist Frankreichs Staatsoberhaupt seit 1607 Ko-Fürst von Andorra. Zusammen mit dem spanischen Bischof von Urgel, Monsignor Iglesias Navarri, 78, teilt sich Charles de Gaulle, 76, die Herrschermacht. Er ist der 47. französische Ko-Fürst von Andorra.
Bevor er anrückte, durchsuchten 1000 französische Polizisten die Bergfeste nach potentiellen Attentätern. Zwei örtliche Richter begleiteten die Wagenkolonne, um bei einem Anschlag auf den General die traditionelle »Befragung« vornehmen zu können.
Danach muß der Nunci, der Gerichtsdiener, mit entblößtem Haupt den Toten fragen: »Toter, wer hat dich gelötet?« Bleibt der Tote stumm, hat der Büttel zu rufen: »Toter, erhebe dich, auf daß dir Gerechtigkeit widerfahre!«
Der »Hochillustre Generalsyndikus« Francisco Escudé Ferrero, Andorras Regierungschef, hatte sich geweigert, den General auf der französischen Seite der Grenzstation »Pas de la Casa« zu empfangen. Stur wartete er hinter seinem Schlagbaum. Escudé: »Bei uns will es die Tradition, daß wir unseren Gast auf eigenem Boden empfangen.«
Blau-weiß-rote Trikoloren, gelbweiße Vatikan-Flaggen und. Andorras blau-gelb-rote Landesfarben schmückten die Nationalstraße des Pyrenäenstaates, als der Ko-Fürst aus Paris kam. »Visca el copríncep«, begrüßten die 15 000 Andorraner ihren Halb-Souverän auf katalanisch.
In der Kapitale Andorra la Vella salutierten die Andorra-Nationalgardisten -- 16 Mann mit schwarzen Baretts und grünen Jägerröcken. 500 Schulkinder stimmten die andorranische Nationalhymne an und danach die Marseillaise.
De Gaulle bestieg das Rednerpult: »Eben haben die Schulkinder die Marseillaise gesungen, aber wir haben sie noch nicht gesungen.« Deshalb sang der No-Fürst noch mal »Allons, enfants de la Patrie«.
Daraufhin intonierten auch die Andorraner ihr nationales Lied noch einmal:
»Karl der Große, mein Vater, hat mich aus der Hand der Mauren befreit ... Frei gedeih ich, elfhundert Jahre, und in Freiheit will ich gedeihen.« Elf Jahrhunderte lang waren die freien Andorra-Menschen kärglich bei Ackerbau und Viehzucht gediehen. Um die Mitte des 20. Säkulums entdeckten sie den Fremdenverkehr.
Um auch bundesdeutsche Urlauber beherbergen zu können, schloß Andorra 1959 mit Deutschland Frieden. Denn das Bergvolk führte noch immer Krieg gegen Kaiser Wilhelm: »Beim Versailler Vertrag«, beklagte sich Andorras Ex-Regierungschef Caerat, »bat man uns vergessen.«
Dem Fremdenverkehr galt auch das Gastgeschenk General de Gaulles. »Der Tag kommt«, versprach der Herrscher seinen Landeskindern, »wo eure wunderschöne Straße durch einen Tunnel ergänzt werden muß. Euer Ko-Fürst wird euch dabei hellen.« Die einzige Straße nach Frankreich führt über den 2407 Meter hohen Envalira-Paß und ist nur im Sommer befahrbar.
Aber nicht der Tunnel verbindet de Gaulle mit Andorra, sondern das Herz. »Ich fühle es«, vertraute er den Andorranern an, »zwischen euch und mir gibt es schon jetzt ein direktes Band.«