WAHLKAMPF Toter Käfer
Ein ehemals kaiserlicher Husar ficht derzeit gegen die schwarz-roten Teufel von Westberlin. Sein Name, William Bonn, ist den Wählern weithin unbekannt. Dennoch stehen die Zeichen günstig für den 67jährigen Chef der Berliner Freidemokraten: Meinungsforscher verheißen ihm den Einzug in das am 17. Februar neu zu wählende Berliner Abgeordnetenhaus. Die laut Bonn schreckliche, weil oppositionslose Ära des Berliner Stadtstaat -Parlaments würde zu Ende sein und damit wahrscheinlich auch die Herrschaft der schwarz-roten Regierungsteufel, die Bonns FDP auf ihre Wahlplakate malte.
Diese Chance verdanken die Berliner FDP-Frontkämpfer kaum den wahltaktischen Schachzügen der eigenen Generalstäbler. Bonns schwaches FDP -Häuflein, das 1958 nur 3,7 Prozent aller Wählerstimmen errang und daher aus dem Abgeordnetenhaus verbannt wurde, war vor gut vier Wochen zum Wahlkampf angetreten, ohne Attraktionen bieten zu können.
Sein Programm: Schaffung eines lebendigen Parlaments«, das entgegen allen rot-schwarzen Einigkeitsparolen den Feinden jenseits der Mauer endlich einmal das demokratische Spiel von Regierung und kontrollierender Opposition vorexerzieren solle.
Ein derartiges Theoretisieren konnte allenfalls eine dünne intellektuelle Wählerschicht ansprechen, die sich seit Jahren über das vom Berliner Parlament zelebrierte sterile Gemeinsamkeits-Duett erbost. So rügte der Berliner »Tagesspiegel«, das permanente Zweiparteien-Parlament sei im Zeichen der großen Koalition zu einem »erweiterten Verwaltungsausschuß der Regierung« degeneriert.
Klagte der Leitartikler: »Das Parlament (war) eher Chor in der griechischen Tragödie, als daß es handelnde... Mitglieder vorgewiesen hätte.«
Obschon verschiedene handfeste Skandale wie die Berliner Justizkrise (SPIEGEL 49/1960) nur stillschweigend beerdigt werden konnten, weil eine parlamentarische Opposition fehlte, zeigte sich der Berliner Durchschnittswähler von der liberalen Sauberkeits-Kampagne wenig beeindruckt. Eine Meinungsumfrage aus der ersten Januar-Hälfte prophezeite der sich als Oppositions -Wachhund anbietenden FDP nicht einmal fünf Prozent der Wählerstimmen.
Erst als Willy Brandt unter massivem CDU-Druck in letzter Stunde seinen geplanten Dialog mit Nikita Chruschtschow absagte (SPIEGEL 47/1963 und 5/1963) machte sich in der öffentlichen Meinung ein Umschwung zugunsten der Liberalen bemerkbar. Professionelle Wahlpropheten schätzen den Stimmenanteil der FDP neuerlich auf acht bis zehn Prozent.
Vorsorglich wollen William Bonns Freidemokraten für die Wahlnacht Sekt bereitstellen. Denn der unverhoffte Eklat zwischen Brandt, dem SPD-Vorkämpfer der Gemeinsamkeit, und seinem christdemokratischen Berliner Regierungs-Kollegen Amrehn hat inzwischen solche Wellen geschlagen, daß die Berliner FDP sich nach Überspringen der Fünf-Prozent-Hürde sogar eine Chance ausrechnet, im neuen Berliner Abgeordnetenhaus nicht etwa auf der harten Oppositionsbank, sondern neben der SPD in gepolsterten Senatorensesseln Platz nehmen zu können.
Freilich ist der Mann, der den Berliner Liberalen die Aussicht auf so herrliche Zeiten freikämpfte, keineswegs in den Reihen der eigenen Partei zu suchen. Vielmehr hat dem William Bonn ausgerechnet sein ärgster Feind geholfen: der geschäftsführende CDU-Bundesvorsitzende
Josef Hermann Dufhues, der nach dem Schildbürger-Krach um das Chruschtschow- Gespräch spornstreichs nach Berlin eilte, um sennen bedrängten Parteifreund Amrehn zu beraten.
Schon eine erste flüchtige Inspektion der Wahlfront belehrte den westfälischen Parteistrategen Dufhues, daß die Berliner CDU mit schweren Verlusten rechnen müsse. Zwar hatte Amrehn gerade eine Senatsbataille für sich buchen können, als er Brandt den Weg nach Ostberlin versperrte. Die Reaktion der Berliner Bevölkerung indes war eindeutig: Die Mehrheit stellte sich hinter Brandt, der mit Chruschtschow hatte reden wollen, und nahm Partei gegen die Christdemokraten, die das Teteà tete mit der Drohung, die Koalition zu sprengen, verhinderten.
Dufhues erkannte: Amrehns siegreicher Coup konnte der erste Schritt in Richtung auf die Wahlniederlage sein.
Auch den Berliner Christdemokraten waren die gefährlichen Folgen ihres Sabotageakts nicht verborgen geblieben. Aus der übereinstimmenden Analyse zogen die lokalen Wahlkampfleitungen und der geschäftsführende Bundesvorsitzende Dufhues allerdings völlig verschiedene Konsequenzen.
Um das Schlimmste zu verhüten, hatte sich die Berliner CDU zu einem Burgfrieden mit Brandt bereit gefunden und mit den sozialdemokratischen Konkurrenten vereinbart, die Chruschtschow-Episode tunlichst aus dem Wahlkampf auszusparen.
Der nüchterne Dufhues dagegen, der den Wahlkampf ohnehin für verloren hält, wollte das Berliner Terrain wenigstens dazu benutzen, den SPD-Kanzler-Kandidaten Brandt für künftige bundesweite Feldzüge zu disqualifizieren. Sein Konzept: Am Beispiel der mißglückten Chruschtschow-Visite sollte Brandt den Wählern als zaudernder, unentschlossener Politiker hingestellt werden, dem das für das Kanzleramt erforderliche Format fehle.
Die Berliner folgten dem Rat des Westfalen. Ende Januar rollte die Dufhues-Offensive an. Die Wähler vernahmen plötzlich von den CDU-Propagandisten, daß Brandt
- trotz aller Bedenken zu Chruschtschow
hätte fahren sollen, weil der wahre Staatsmann Hindernisse nicht achten dürfe, sondern handeln müsse;
- durch seine Unentschlossenheit sogar das Vertrauen seiner eigenen Parteifreunde verspielt habe, die ihn nicht wieder als Kanzlerkandidaten nominieren wollten.
Auf den westfälischen Paukenschlag folgte eine Anzeigenkampagne in Berliner Tageszeitungen, in der Willy Brandt gefährlicher Alleingänge in der Berlin- und Deutschland-Politik geziehen wurde.
Die Brandt-Mannschaft nahm den Fehdehandschuh auf: Pastor Heinrich Albertz, Brandts streitbarer Innensenator, nannte Amrehns Wahl-Epistel ein Plädoyer für die »Politik des toten Käfers«, des Nichtstuns um der Einfallslosigkeit. Dufhues wolle das Berliner Modell der Gemeinsamkeit, mit dem Brandt 1961 in den Bundeswahlkampf zog, vorsorglich für die nächsten Bundestagswahlen zerstören.
Genüßlich beobachteten die Freidemokraten des William Bonn den Zerfall der schwarz-roten Einigkeit und erklärten lakonisch, nun sehe man ja, wohin die Große Koalition führe. Erich Mendes Berliner Dependance präpariert sich auf den Einzug in das Parlament.
FDP-Wahlplakat in Berlin: Helfen die schwarz-roten Teufel ...
Berliner FDP-Chef Bonn
... dem liberalen Feind?