Sekten Transit zum Sirius
In den ersten Februartagen des vergangenen Jahres hatte der Untersuchungsrichter Andre Piller aus dem schweizerischen Fribourg wichtige Verhöre auf dem Terminplan.
Vier Tage widmete er dem französischen Geschäftsmann Patrick Vuarnet, 27. Beruflich leitete der Verdächtige das väterliche Unternehmen Vuarnet Management SA in Genf, dessen Designer-Sonnenbrillen auf den Skipisten von Gstaad und Saas Fee zu den feineren Accessoires gehören.
Richter Piller untersuchte den Tod von 47 Mitgliedern der Weltuntergangssekte »Orden des Sonnentempels«, die in der Nacht des 5. Oktober 1994 an zwei Schweizer Schauplätzen gewaltsam ums Leben gekommen waren.
In einem Hof des Weilers Cheiry westlich von Fribourg fand die Freiwillige Feuerwehr damals 22 Leichen. Sie lagen in einer Art Kapelle mit verspiegelten Wänden und leuchtendroten Stoffbahnen unter einem Christusgemälde. Bei einigen war der Kopf in einen Müllsack gehüllt, andere trugen Talare.
Drei Stunden später meldete die Autobahnpolizei bei Martigny im Wallis ein Feuer hoch über dem Rhonetal. Im Feriendorf Granges-sur-Salvan war die Brandstätte, ein Chalet am Hang, zum größten Teil verkohlt, als die Kripo eintraf. Das Holzgebäude erwies sich als Massengrab, in dem die Überreste von 25 Menschen lagen, darunter fünf Kinder.
Patrick Vuarnet, Sohn eines Goldmedaillengewinners bei den Olympischen Winterspielen 1960, war für den Untersuchungsrichter deshalb wichtig, weil er Vermächtnisbriefe der Sonnentempler-Gründer Luc Jouret und Joseph di Mambro verschickt hatte - schillernde Prediger und Geschäftsleute, die mit Immobilien handelten und Tonkassetten vertrieben mit Titeln wie »Der Tod, ein einschneidendes Lebensstadium«.
Am Tag vor dem Chaletfeuer war Vuarnet in Granges-sur-Salvan gesichtet worden - und außer ihm zwei Gendarmen aus dem nahen Frankreich, Jean-Pierre Lardanchet und Patrick Rostand.
Doch all dies, fand Untersuchungsrichter Piller, machte die drei nicht hinreichend verdächtig. Er entließ das Trio, statt einen Haftbefehl auszustellen.
Das war, wie sich herausstellte, ein schwerer Fehler. Vorigen Mittwoch gab der Oberstaatsanwalt von Grenoble bekannt, wer für das jüngste Sonnentempler-Massaker kurz vor Weihnachten verantwortlich war: Gendarm Lardanchet und ein Gehilfe hatten auf einem Hangplateau 30 Kilometer südwestlich von Grenoble elf Sonnentempler und drei Kinder getötet, darunter Vuarnet und Rostand.
»Nachdem die Täter methodisch die anderen erschossen hatten, übergossen sie sich mit einem Brandbeschleuniger und begingen Selbstmord mit den Dienstpistolen der Polizisten«, berichtete der Staatsanwalt. Er stützte sich dabei auf Befunde des Gerichtsmedizinischen Instituts, die den Massenmord auf dem Plateau unweit des Taldorfs Saint-Pierre-de-Cherennes als rituelles Blutbad erklärten, von den Sonnentemplern bizarr »Transit« genannt.
Der Transit führt zum Sirius, dem hellsten Stern des Nachthimmels. Dorthin gehe die erlösende Reise, hatten die Sektenführer Jouret und di Mambro ihrer Gefolgschaft in Genf immer wieder eingebleut, wo sich die Kultanhänger in einem cremefarbenen Stadtpalais sonntags zu Weltuntergangsmessen trafen.
Mit der Jahrtausendwende nahe die Apokalypse, verkündete di Mambro, der sich als Wiedergeburt eines Mönchsritters aus dem 12. Jahrhundert und als Besitzer des Artus-Schwerts Excalibur ausgab. Der Orden vermengt mittelalterlichen Mysterienglauben mit obskuren Naturreligionen, New-Age-Bräuchen und Astrologie.
»Der Tod existiert nicht, er ist reine Illusion«, hieß es auf Zetteln, die in den Wohnungen der Opfer von Saint-Pierre-de-Cherennes gefunden wurden. Um auf den Sirius zu gelangen, müßten die Anhänger im Feuer gereinigt werden, predigte di Mambro in seinen Lehrsätzen.
Am Rand einer Langlauf-Loipe fanden die Hinrichtungen im französischen Vercors-Massiv bereits am 16. Dezember statt, nach einem Muster ganz wie in Cheiry. Die Erwachsenen und Kinder legten sich in Form eines Sterns nieder, die Füße der Todeskandidaten zeigten auf einen Scheiterhaufen in der Mitte. Die Opfer trugen schwarze Plastiksäcke über dem Kopf, und wie in Cheiry waren ihnen Betäubungsmittel injiziert worden - der Tod kam im Schlaf.
Die Killer setzten mit ihren Neun-Millimeter-Waffen jeweils zum Kopfschuß an und drückten ab. Dann zündeten sie die Leichen an - auch die von drei Mädchen. Es waren die sechsjährige Tochter der Freundin von Patrick Vuarnet sowie die zwei und vier Jahre alten Töchter des Polizisten Lardanchet. Der und sein unidentifizierter Komplize lagen abseits von den Stern-Leichen im feuchten Gras. Unter den Toten befand sich auch Vuarnets Lebensgefährtin, die ihre Genfer Wohnung in Panik verlassen haben mußte. Kriminalbeamte fanden das Essen noch auf dem Tisch.
Die Bilanz beweist, daß die Sonnentempler trotz der Massenmorde in der Schweiz vor einem Jahr noch immer aktiv sind. Die Gurus Jouret und di Mambro starben im Chalet von Granges-sur-Salvan; auch di Mambros »kosmisches Kind« Emmanuelle und dessen schweizerische Mutter Dominique Bellaton befanden sich damals unter den Opfern.
Der Walliser Kantonspolizei gelang es seinerzeit auch, die Leiche eines Ex-Drogensüchtigen zu identifizieren, der kurz vor den Massakern in der Schweiz nach Kanada geflogen war, um gemeinsam mit Dominique Bellaton unweit von Montreal zwei Abtrünnige zu ermorden: das Ehepaar Tony und Nicky Dutoit.
Di Mambro zürnte ihnen, weil sie ihr gerade geborenes Kind gleichfalls Emmanuel nannten. Nicky Dutoit wurde mit acht Messerstichen in den Rücken niedergemetzelt - symbolisch für die acht Gebote des Ordens. Vier Messerstiche galten dem Hals der Frau, weil die Sonnentempler glauben, Empfängnis und Geburt erfolgten durch den Mund; Nicky Dutoit sollte in einer anderen Welt nicht mehr gebären können. Das Baby wurde ebenfalls getötet.
Französische Anwälte, Sektenforscher und Patricks Vater Jean kritisierten die schweizerischen Gesetzgeber und die Justiz, weil sie die Selbstmordsekten, anders als in Frankreich, nicht als kriminelle Vereinigung verfolgten. »Wenigstens hätte man die Telefone anzapfen können«, meinte Jacques Barillon, der Angehörige von Kultopfern in der Schweiz vertritt.
Das apokalyptische Kauderwelsch der Sekte findet offenbar trotz der Todesorgien noch Freunde. Dem Orden sollen über 20 Millionen Franken überwiesen worden sein, doch noch zu Lebzeiten di Mambros leerte sich die Sektenkasse, je näher die Jahrtausendwende rückte.
Der Transit zum Sirius geht womöglich weiter, und in Genf dient angeblich ein neuer Großmeister: der Dirigent Michel Tabachnik, der früher den Berliner Philharmonikern seines Gönners Herbert von Karajan den Taktstock schlug. Tabachnik zelebrierte mit di Mambro Messen, stellt sich heute aber als Opfer des Kults dar, weil seine erste Ehefrau im Chalet von Granges-sur-Salvan verbrannte.
Oberstaatsanwalt Lorans hält es für möglich, daß es Drahtzieher im Hintergrund und Auftraggeber für weitere Templer-Morde gibt. Derzeit fahndet er nach drei Mercedes-Limousinen mit schweizerischen Kennzeichen, die angeblich in der Nähe des Tatorts gesehen worden sind.