FRANKREICH / WAHLEN Traurig, traurig, traurig
Das kann doch nicht wahr sein. Das kann doch einfach nicht wahr sein«, jubelte Francois Mitterrand. Er konnte nicht glauben, was die gaullistischen Fernsehstationen verkündeten: den unaufhaltsamen Siegeszug seiner vereinten Linken gegen Charles de Gaulle.
»Traurig, traurig, traurig«, murmelte Maurice Couve de Murville. Frankreichs langjähriger Außenminister erfuhr per Telephon, daß er bei den Wahlen zur Nationalversammlung durchgefallen war -- prominentestes Opfer einer überraschenden antigaullistischen Flut.
»Einigkeit, Einigkeit, Einigkeit«, skandierte ein Chor roter Proletarier vor dem Verlagshaus der kommunistischen Partei-Zeitung »L'Humanité« und stimmte die Internationale an. KP-Chef Waldeck Rochet -- sonst auf Bier und Cola abonniert -- ließ den Genossen Champagner kredenzen und rollte in seinem schweren burgundischen Akzent »Forrrmidable.«
Siegessicher waren die Scharen Charles de Gaulles am vorletzten Sonntag zum Stechen für die Wahl zur Nationalversammlung eingetreten*: Bereits im ersten Wahlgang waren 68 von insgesamt 81 direkt gewählten Kandidaten Parteigänger des Generals.
Darüber hinaus hatten Frankreichs bekannteste Meinungsforschungsinstitute, das »Institut francais d'opinion publique« (Ifop) und die »Société francaise d'éudes par sondages« (Sofres), den Gaullisten 255 bis 280 Mandate und damit eine sichere Mehrheit vorausgesagt. Aber nur um Haaresbreite kamen die Getreuen de Gaulles an einem Waterloo vorbei.
Unter Verlust von 39 Mandaten sackten die Regierungsparteien auf 244 Sitze in der Nationalversammlung, das ist (bei 486 Sitzen) eine Mehrheit von nur einer Stimme. Sozialistenchef Mollet: »Des Anfang vom Ende.« »Le Monde": »Das Ende ist oft traurig.«
Selbst diese knappste aller Mehrheiten verdankt de Gaulle nur dem Wahlrecht. Die Bilanz nach Köpfen ist noch trauriger: 62 Prozent aller Franzosen stimmten gegen den Gaullismus, die weitaus meisten von ihnen für Frankreichs neue politische Formation: die vereinte Linke.
Waldeck Rochets Kommunisten, Mitterrands »Föderation der demokratischen und sozialistischen Linken« und Mendès-Frances Linkssozialisten hatten sich im zweiten Wahlgang auf gemeinsame Kandidaten geeinigt. Erfolg: Sie eroberten 60 neue Parlamentsmandate, die Kommunisten allein 32. Mit insgesamt 73 Abgeordneten rückte Frankreichs KP als drittstärkste Fraktion in die Nationalversammlung ein.
Antigaullistische Disziplin machte dir Linke stark. Waren bei den letzten Wahlen mehr als ein Drittel aller gemäßigten Linken zu den Gaullisten übergelau-
* In Frankreich ist nach dem ersten Wahlgang nur gewählt, wer die absolute Mehrheit erreicht; im zweiten Wahlgang hingegen genügt die relative Mehrheit.
fen, wenn die Entscheidung zwischen einem Kommunisten und einem Gefolgsmann des Generals lag, so votierten sie diesmal geschlossen für den gemeinsamen Roten.
Sogar die Hälfte der liberalen und national-konservativen Wähler des bürgerlichen Zentrums um Jean Lecanuet entschied sich gegen den General -- selbst dann, wenn sie damit einem Kommunisten zum Sieg verhalfen.
De Gaulle selbst hatte die Roten entteufelt und ihnen das Wahlterrain planiert. Frankreichs moskaufreundliche Ostpolitik und der Austritt aus der Nato. die Vietnam-Attacken des Generals gegen die USA und seine Schüsse gegen die politische Integration Europas fanden den Beifall der Ultralinken. So konnte es sich Francois Mitterrand leisten, mit der KP zu paktieren. Mitterrand: »Wir haben die Kommunisten aus dem Getto geholt.«
De Gaulle war erstmals ohne sichtbare Erfolge in die Schlacht gegangen. 1958 hatte ihn eine Woge der Entrüstung über die Unfähigkeit der IV. Republik an die Macht getragen. Die Kommunisten verloren zwei Millionen Stimmen. 1962 siegte er, weil er den Algerienkrieg beendet hatte. 1967 aber verbanden sich das traditionelle Mißtrauen der Franzosen gegenüber der etablierten Macht und die latente Volksfrontromantik des linksliberalen Kleinbürgertums mit der Unzufriedenheit der Arbeiter über ihre soziale Lage.
Selbst die gaullistischen »Jungen Wölfe«, eine Elite junger Technokraten, und die sozial aufgeschlossenen Linksgaullisten konnten den Angriff auf die Stellungen der bigotten gaullistischen Bürgerwelt nicht verhindern. Der gaullistische Versuch, den armen und daher traditionell linken Süden und Südwesten Frankreichs zu erobern, scheiterte.
Allein die liberal-konservativen »Unabhängigen Republikaner« des Finanzministers Valéry Giscard d'Estaing überstanden den Sturm auf die bürgerliche Bastille und konnten die totale Niederlage der gaullistischen Streitmacht gerade noch abwenden -- gemein -- sam mit Negern, Mulatten, Mikro-, Mela- und Polynesiern. Denn die Reste des französischen Imperiums schickten zwölf Gaullisten ins Pariser Parlament -- mit List und Tücke:
> Auf der Insel Réunion im Indischen Ozean steckte die Polizei Wähler und Freunde des -- im ersten Wahlgang klar führenden -- kommunistischen Kandidaten Vergès ins Gefängnis. während gaullistische Hilfstruppen 3000 Stimmen verstorbener Insulaner für den General in die Wahlurnen zauberten.
> Auf der Antilleninsel Guadeloupe siegten Gaullisten, die im ersten Wahlgang weniger als die Hälfte der Stimmen ihrer linken Gegner gehabt hatten. »Le Monde": Schwerlich zu erklären.«
In Bastia auf Korsika schließlich schleuderten erregte Linke die Wahlurne ins Meer. Auch hier hatten -- nach Inselbrauch -- Wahlhelfer Hunderte von Briefstimmen verblichener Korsen zugunsten des Gaullisten Faggianelli in die Urnen geschmuggelt. Tobte Mitterrand-Kandidat Zuccarelli: »Wenn die Faggianelli-Wahl anerkannt wird, fließt Blut.«
Charles de Gaulle, dem Partei-Arithmetik widerwärtig ist. mußte von den Höhen staatsphilosophischer Visionen herabsteigen in die Niederungen tagespolitischer Taktik.
Nach der französischen Verfassung können die 22 gewählten Minister ihr Mandat nur ausüben, wenn sie auf ihr Regierungsamt verzichten. So entschied der General, daß sie Anfang April zurückzutreten haben. Denn um den Parlamentspräsidenten und die Ausschüsse nicht an die Opposition zu verlieren, brauchen die Gaullisten jede verfügbare Stimme.
Bei der konstituierenden Sitzung der Nationalversammlung am 3. April wird daher nur Premierminister Pompidou auf der Regierungsbank im Palais-Bourbon sitzen und aller Welt demonstrieren, was sein Staatschef nicht eingestehen mag: daß Frankreichs Regierung vom Parlament abhängt und nicht von de Gaulle.