PROZESSE Traurige Pflicht
Der Frauenarzt Aquilin Ullrich, 71, fühlte sich todkrank. Eigentlich sei er ein hoffnungsloser Fall, gab er zu Protokoll, und Kollegen könnten das bestätigen. Das alles hinderte den Gynäkologen nicht, in Stuttgart eine Praxis zu betreiben und nebenbei auch noch in einer Stuttgarter Klinik weiter zu operieren.
Ähnlich verhielten sich die Doktoren Heinrich Bunke, 71, und Klaus Endruweit, 72. Die Ärzte konsultierten angesehene Kollegen, die vor allem unheilbare Herzleiden und Kreislaufstörungen bescheinigen sollten. Allein Ullrich suchte sieben Mediziner auf, die mal Fettleberhepatitis, mal Arteriosklerose oder Bluthochdruck »mit Werten bis 250/120« diagnostizierten. Schon vor Jahren hatte ein Professor attestiert, bei Ullrich bestehe »eine erhebliche Lebensbedrohung«.
Vor allem eines, befanden die Gutachter immer wieder, könnten die Kollegen Ullrich, Bunke und Endruweit nicht ertragen - ihren Prozeß. Sie seien, so die gleichlautenden Untersuchungsergebnisse, »verhandlungsunfähig«.
Jetzt wird die Verhandlung gegen die drei Mediziner doch noch anberaumt. Die 22. Strafkammer des Frankfurter Landgerichts setzte sich über die ärztlichen Bedenken hinweg. Eine Gefährdung für Leib oder Leben der Angeklagten sei, so die Begründung, »zwar möglich, nicht jedoch wahrscheinlich«.
Die Kammer will »dem angegriffenen Gesundheitszustand« der drei Mediziner aber Rechnung tragen. Nur einmal pro Woche tagt das Gericht, jeweils höchstens drei Stunden lang.
Zum drittenmal müssen sich Ullrich, Bunke und Endruweit, von Mittwoch dieser Woche an, nach 14jährigem Prozeßstillstand wegen Beihilfe zum Mord verantworten. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten während des Naziregimes an der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« mitgewirkt.
Die Ärzte, so stellte das Frankfurter Landgericht schon 1967 fest, waren an der berüchtigten Aktion »T 4« beteiligt. Die Nazis ließen dabei, in den Jahren 1940/41, über 70000 geistig Behinderte vergasen.
Endruweit hatte in der sächsischen Anstalt Sonnenstein bei der Tötung von mindestens 2250 Geisteskranken mitgemacht. Bunke, damals in Brandenburg und Bernburg eingesetzt, leistete Beihilfe zum Mord an mindestens 4950 Menschen. Und Ullrich, so das Gericht vor fast zwanzig Jahren, wirkte in Brandenburg
an der Tötung von mindestens 1815 Geistesgestörten mit.
Frauenarzt Ullrich gestand bei der Verhandlung 1967, er habe in mindestens 210 Fällen mit eigener Hand den Tod besorgt. Die Patienten seien mit Kohlenmonoxid (CO) vergast worden. Das geschah nach Ullrichs Worten so: _____« Wenn ein Transport kam, entkleideten sich die » _____« Patienten und wurden an einem Tisch vorbeigeleitet, wo » _____« Eberl » _(Dr. med. Irmfried Eberl war zu der Zeit ) _(Direktor der Euthanasieanstalt ) _(Brandenburg und später KZ Kommandant in ) _(Treblinka. Er erhängte sich 1948 in ) _(Untersuchungshaft. ) _____« und ich standen. Dann öffnete sich eine Tür in einen » _____« Raum der als Duschraum bezeichnet war. Darin nen waren » _____« Pritschen, worauf sich die Pa tienten legten. Dann wurde » _____« die Tür ge schlossen und das CO eingelassen. Die » _____« Einströmung des Gases besorgte ein Arzt. Wenn Eberl da » _____« war, tat er es, wenn nicht, dann tat ich es. Die » _____« Patienten schliefen ruhig ein. Man ließ das Gas etwa » _____« 20-30 Minuten im Raum. Die Patienten waren immer tot. Das » _____« Gas wurde abgesaugt, die Tür geöffnet, der Raum » _____« durchlüftet. »
Bunke bestritt, das Gas jemals selbst eingelassen zu haben. Er habe aber »durch das Fenster geschaut, bis alle tot waren«. Endruweit erinnerte sich, daß alle Patienten »mit Sicherheit Endzustände« waren, unheilbare Fälle; in der Anstalt Sonnenstein will er aber »nie einen Toten gesehen« haben.
Die drei Angeklagten gaben im ersten Prozeß einmütig zu, sie hätten unter Pseudonym die Angehörigen der Opfer benachrichtigt: Ullrich als »Dr. Schmitt«, Endruweit als »Dr. Baader« und Bunke als »Dr. Rieper« oder »Dr. Keller« testierten »in Erfüllung einer traurigen Pflicht« den Tod infolge einer »Lungenentzündung« oder »Herzmuskelschwäche«.
Obwohl die Beteiligung an den Greueltaten nachgewiesen war, sprach das Landgericht die drei Euthanasie-Ärzte damals frei. Sie hätten »nicht schuldhaft gehandelt«, lautete die Begründung, sondern seien »einem unvermeidbaren Verbotsirrtum« erlegen. Das Schwurgericht akzeptierte auch die Versicherung der Angeklagten, sie hätten »nur« bei der Tötung von Geisteskranken »ohne natürlichen Lebenswillen« mitgewirkt.
Dieses Urteil wurde 1970 vom Bundesgerichtshof (BGH) wegen krasser Widersprüche in der Urteilsbegründung kassiert. Die Frankfurter Richter hätten selbst festgestellt, daß das Fehlen des »natürlichen Lebenswillens« kaum »auf einen von hundert« Patienten zutraf und daß die Opfer über ihr Schicksal bewußt getäuscht wurden, damit »sie sich ihrer Tötung nicht widersetzten«.
Nach Neuauflage des Prozesses, im Dezember 1971, meldeten sich die Angeklagten nacheinander krank; 14 Jahre lang reichten sie regelmäßig neue Atteste ein, freiwillig oder auf Anordnung des Gerichts.
Vor allem Ärzten gelingt es immer wieder, sich verhandlungsunfähig schreiben zu lassen. Da werde, stellte der Richter am Düsseldorfer Oberlandesgericht, Uwe Seetzen, fest, ärztliche Kunst oft mißbräuchlich angewandt; »auffällig häufig« machten »wohlhabende und intelligente Beschuldigte« Verhandlungsunfähigkeit geltend. Dabei könnten sie sich »nicht selten auf Gutachten angesehener Ärzte berufen, die etwa hochgradige Erregbarkeit und die Gefahr eines Schlaganfalls« prognostizierten.
Der Bad Cannstatter Professor Klaus Heinkel etwa stellte dem Euthanasie-Arzt Ullrich schon 1971 ein entsprechendes Zeugnis aus. Es bleibe »fraglich«, attestierte der Professor, ob der Facharzt für Frauenkrankheiten »je wieder in einen vollen Arztbetrieb eingegliedert werden« könne. Der kollegiale Rat: Ullrich solle »seine Tätigkeit als praktizierender Gynäkologe« aufgeben.
Doch Ullrich und die beiden mitangeklagten Mediziner, bei Gericht krank gemeldet und für verhandlungsunfähig erklärt, waren noch lange fit genug, Patienten zu verarzten.
Bunke betrieb bis 1979 eine Praxis für Frauenkrankheiten in Celle. Endruweit unterhielt eine Allgemeinpraxis in Bettrum bei Hildesheim. Vor zwei Jahren schließlich drohte die Bezirksregierung Hannover »entsprechende Zwangsmittel« zur sofortigen Schließung an: Der Mediziner hatte jahrelang ohne Approbation praktiziert. Die ruhte wegen des Strafverfahrens.
Trotz seines angeblich miserablen Gesundheitszustands operierte Frauenarzt Ullrich bis 1979 regelmäßig in der Stuttgarter »Staatsrat-von-Fetzer-Klinik«. Erst vor zwei Jahren gab er seine Praxis auf - gezwungenermaßen: Auch bei ihm ruhte nun wegen des laufenden Verfahrens die Zulassung.
Daß die drei Ärzte so lange verschont blieben, liegt freilich am Frankfurter Landgericht selbst. Großzügig und ohne Eile prüfte die 20. Strafkammer, unter Vorsitz von Richter Theodor Haller, jahrelang die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten.
Schon Anfang 1980 hatte der Stuttgarter Medizinprofessor Peter Heimburg der Kammer mitgeteilt, daß Ullrichs Bluthochdruck »durch geeignete Medikamente« gesenkt und damit die Verhandlungsfähigkeit sichergestellt werden könne.
Doch unbeeindruckt lehnte das Landgericht im Mai 1980 eine Fortsetzung des Prozesses ab; es sah eine »unvermeidbare und unverhältnismäßig hohe Schädigungsgefahr für den Angeklagten«. Richter Haller hatte zudem ganz andere Probleme zu bewältigen: Bei ihm lief noch ein weiterer NS-Prozeß. Es erscheine ihm »nicht möglich«, so Haller damals, zwei umfangreiche Verhandlungen zur gleichen Zeit zu führen.
Das Verfahren gegen Ullrich, Bunke und Endruweit kam erst wieder in Gang nachdem es an die 22. Strafkammer abgegeben worden war. Die Vorsitzende Richterin Johanna Dierks trieb zur Eile und drohte einem Internisten ein Ordnungsgeld von 1000 Mark an, wenn er nicht endlich sein Gutachten vorlege.
Ob das verschärfte Tempo den Prozeß rettet, ist allerdings fraglich. Die drei Ärzte, inzwischen älter und sicher nicht gesünder geworden, könnten, so befürchten Prozeßbeteiligte, schnell wieder in eine Krankheit verfallen.
Wenn die Angeklagten »nur das Wort Mord hören«, ahnt Nebenklägervertreter Johannes Riemann, »dann kippen sie schon um«.
Dr. med. Irmfried Eberl war zu der Zeit Direktor derEuthanasieanstalt Brandenburg und später KZ Kommandant in Treblinka.Er erhängte sich 1948 in Untersuchungshaft.Wenn ein Transport kam, entkleideten sich die Patienten und wurdenan einem Tisch vorbeigeleitet, wo Eberl