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SOWJET-UNION / SWETLANA STALIN Trink das

aus DER SPIEGEL 13/1967

Ohne Dich«, schrieb einst »Papotschka« (Väterchen) seiner Tochter Swetlana, »bin ich so allein.« Der Brief liegt in Väterchens Geburtshaus unter Glas. Der Erde, die seinen Leichnam birgt, kehrte Swetlana vorletzte Woche den Rücken und wählte den Westen.

In den Bergen des Berner Oberlands suchen über hundert Journalisten nach Swetlana, um ihr ihre Memoiren abzukaufen: Sie kann berichten, welch gutes Väterchen ihr Vater war -- Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin.

Daheim bemüht sich derzeit Parteichef Breschnew, den Volksvater zu rehabilitieren (siehe Seite 132). Ein besseres Stalin-Image im Westen kann -- zum 50. Jubiläumsjahr der Oktoberrevolution -- Swetlana Stalin modellieren. Sie weiß alles über Stalin, über sein Privatleben, seinen Tod und die menschlichen Seiten des Diktators -- für den sie zuweilen still gebetet hatte.

Vom Vater erbte die Georgierin die Unrast. Stalin hatte drei Frauen, Swetlana drei Männer. Sie ist die Tochter von Nadeschda Allilujewa, Stalins zweiter Frau. Ihre Mutter war 17 und Sekretärin des »Volkskommissariats für nationale Minderheiten«, als der 40jährige Stalin sie 1919 heimführte.

Vorgängerin Jekaterina ("Keke") Swanidse war 1907 an Tuberkulose gestorben. Ihr Sohn Jakob Dschugaschwili geriet 1941 in deutsche Gefangenschaft und ist verschollen.

Swetlana-Mutter Nadeschda Allilujewa begehrte angeblich gegen den Diktator auf. Nach dem Festkonzert zum 15. Jahrestag der russischen Oktoberrevolution schrie sie ihn an: »Du quälst deinen eigenen Sohn, du quälst deine Frau, du quälst das ganze russische Volk!«

Ehemann Josef blieb kalt: »Trink das«, sagte er und reichte ihr einen Becher, »es wird deine Nerven beruhigen.« Nadeschda wurde sehr still. Wenige Minuten später soll sie tot umgefallen sein. Offiziell erlag sie -- am 8. November 1932 -- einer akuten Blinddarmentzündung*. Ihr Sohn Wassilij, Swetlanas Bruder, starb 1962 als degradierter Luftwaffengeneral in Kasan an Trunksucht.

Tochter Swetlana wurde von Stalin nicht gequält: Sie besorgte ihm den Haushalt. Aber sie sehnte sich nach eigenem Hausstand. Die »hübsche Rothaarige« (so Kremlbesucher Churchill 1942) war 17, als sie gegen Stalins Willen den Grigorij Morosow heiratete.

Die Ehe scheiterte. Morosow wurde vom Schwiegervater verbannt, nach dessen Tod rehabilitiert und lebt heute als Professor für Rechtswissenschaft in Moskau. Der aus der Ehe hervorgegangene Sohn trägt nicht nur den Vornamen des Großvaters, sondern auch sein Antlitz: Erschreckt drehen sich die Moskauer Passanten um, wenn sie ihm auf der Straße begegnen -- Josef Morosow, 22, Medizinstudent im fünften Semester, ist Stalin wie aus dem Gesicht geschnitten.

Seine Mutter hatte 1949 zum zweiten Male geheiratet: den Rostower Physik-Professor Juni Schdanow, Sohn des Kulturkommissars Schdanow. Die Ehe scheiterte wiederum. Mit Sohn Josef aus erster und Tochter Katja, 15, aus zweiter Ehe bewohnte Mutter Swetlana, 42, im dritten Stock des Prominentenblocks an der Moskwa, gegenüber dem Kreml, die Fünfzimmerwohnung Nr. 179 (Familieneinkommen: 2200 Mark monatlich).

Swetlanas Unrast ließ sie neben den Ehemännern die Liebhaber wechseln. unter ihnen Michail Schukow -- ein Vetter des Marschalls -, der vom ergrimmten Stalin verbannte Drehbuchautor Alexis Kapler ("Lenin im Oktober") und der deutsche Kommunist Leo Schapiro.

Dann überfiel Swetlana die Liebe so heftig, daß sie -- im Sommer 1963 -- ein drittes Mal heiratete: den indischen Kommunisten Brijesch Singh, 55.

Der Inder suchte in Moskau Heilung eines Lungenleidens und arbeitete im Verlag »Progress« als Übersetzer. Er fand zwar eine temperamentvolle Ehefrau, nicht jedoch die erhoffte Gesundheit. Im Oktober 1966 verschied er.

Auf Drängen seines Neffen Dinesch Singh, Staatssekretär im indischen Außenministerium, erhielt Witwe Swetlana Singh im Januar einen Sowjetpaß mit Ausreise-Visum, um die Asche ihres Ehemanns der indischen Heimaterde zuzuführen.

Am 6. März buchte Swetlana den Rückflug nach Moskau für den übernächsten Tag und bat Sohn Josef telegraphisch, sie am Flughafen Scheremetjewo abzuholen.

* Von einer dritten Frau, Rosa, der Schwester des Altbolschewiken Kaganowitach, ließ sich Stalin 1938 scheiden.

Er wartete vergeblich. Die rastlose Mutter reiste in die andere Welt.

Swetlana spricht fließend Englisch. Sie hat Philologie studiert und über Dostojewski promoviert; bei ihrer Immatrikulation an der Moskauer Universität schrieb sie als Beruf des Vaters einst in den Fragebogen: »Berufsrevolutionär«.

Jetzt suchte sie nach einem bisher nicht genossenen Erlebnis: In der US-Botschaft zu Neu-Delhi bat sie um ein Einreise-Visum in die USA.

CIA-Agent Robert F. Rayle begleitete die Dame im oliv- und beigefarbenen Kostüm und ohne Gepäck in der Linienmaschine Nr. D/51 der »Qantas« nach Rom. Von dort flog sie nicht in die Neue Welt -- deren Regierung politische Verwicklungen fürchtet -, sondern zunächst mit einem Sonderflugzeug der »Alitalia« in die Schweiz. Mit einem Touristen-Visum darf Swetlana dort erst einmal bleiben.

In Moskau trauerte Sohn Josef: »Warum sie mir das nun auch noch antut. wo ich mir doch schon einen anderen Großvater gewünscht hätte.«

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