STRAFAUSSETZUNG Trinken, Fahren, Sitzen
Den Vatertag beging der baden württembergische Finanzminister Dr. Hermann Müller in Freiburg. Das war sein Glück.
Wäre Müller am Vatertag daheim in Schwäbisch Hall geblieben, so hätte das Volk von Baden-Württemberg auf die Dienste seines Finanzministers vermutlich einige Zeit verzichten müssen.
Denn den Vatertag 1964 hatte Minister Müller auf volkstümliche Weise verbracht - »privat so etwas gefeiert«, wie er es nannte. Nach der Feier setzte sich der Minister in sein Auto, doch ging die Fahrt nur über 300 Meter. Dann hielt ihn die Polizei an und bat um Wagen und Zündschlüssel.
In Freiburg kam der fahruntüchtige Müller auch vor den Richter. Das Amtsgericht verurteilte ihn wegen Trunkenheit am Steuer zu zwei Wochen Haft, doch wurde die Strafe - bei Zahlung einer Geldbuße von 1000 Mark - zur Bewährung ausgesetzt.
Zu Hause in Schwäbisch Hall hätte der Minister mit einiger Sicherheit einsitzen müssen: Schwäbisch Hall gehört zum Landgerichtsbezirk Heilbronn, in dem - nach der neuesten Strafverfolgungsstatistik - binnen eines Jahres von 161 verurteilten Trunkenheitstätern nur sechs (rund vier Prozent) eine Bewährungsfrist bekamen.
Im Landgerichtsbezirk Freiburg dagegen, wo Minister Müller trunken und straffällig wurde, pflegt man weit milder zu verfahren: hier, nahe den Weinbaugebieten Kaiserstuhl und Markgräflerland, konnten zur selben Zeit (1962) von 187 beschwipsten Wagenlenkern gleich 139 (rund 74 Prozent) das Gericht zwar vorbestraft, aber frei verlassen.
Solche Ungleichheit vor dem Gesetz ist freilich nicht auf Baden-Württemberg beschränkt. Nach Beobachtungen der Hamburger Fachzeitschrift »Kriminalistik« urteilen überall in der Bundesrepublik die großstädtischen Richter im allgemeinen »sehr streng«, die Kollegen vom Lande häufig »milde« - wobei es noch einen Unterschied macht, ob das Gericht in einer traditionell trockenen oder in einer feuchtfröhlichen Region angesiedelt ist**.
Jedenfalls fand das Fachblatt: »Wer ... genau aufpaßt, wo er trinkt und wo er fährt, kann sich vor Schlimmem bewahren.«
Zwar hat der Bundesgerichtshof in mehreren Urteilen dekretiert, bei Alkohol am Steuer solle die Freiheitsstrafe »grundsätzlich« nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden, weil das öffentliche Interesse die Vollstreckung erfordere. Doch wird - so der baden württembergische Justizminister Dr. Haußmann - diese BGH-Generallinie »von Rechtsprechung und Schrifttum nicht einheitlich ausgelegt«.
Den Abgeordneten des Stuttgarter Landtags erläuterte Haußmann die unterschiedlichen Sitz-Sätze genauer. Danach liegen -die Länder mit einer geringeren ... Verkehrsdichte, also Bayern, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein, in der Strafzumessung im Schnitt milder, teilweise sogar erheblich milder als Länder mit großen industriellen Ballungsräumen und großer Bevölkerungsdichte«.
Eine scharf bestrafende Justiz sorgt laut Haußmann vor allem in Nordrhein -Westfalen und in den Stadtstaaten dafür, daß hinter berauschten Verkehrssündern auch wirklich das Gefängnistor ins Schloß fällt.
Zu einer gründlichen Diskussion dieses föderalistischen Justizproblems ist es - ausgelöst durch den Fall des Ministers Müller - bislang allerdings nur in Baden-Württemberg gekommen, wo die Aufsplitterung in »scharfe und milde Gerichtsbezirke« - (Regierungsdirektor Neidhard in Stuttgart) freilich auch besonders groteske Formen angenommen hat.
Zu den »milden« Landgerichtsbezirken gehören in diesem Bundesland vor allem die badischen Bezirke Freiburg, wo Minister Müller freigesetzt wurde, Konstanz, Heidelberg und Mannheim: In diesen Gebieten wurden 1962 zwischen 61 und 75 Prozent aller Alkoholtäter, die Gefängnisstrafen bekamen, mit Bewährungszeiten in die Freiheit entlassen. Am großzügigsten aber erwies sich Karlsruhe, die deutsche »Residenz des Rechts": In diesem Landgerichtsbezirk wurden sogar 203 von 260 der verurteilten Alkoholfahrer - also 78 Prozent - auf freien Fuß gesetzt.
Im württembergischen Landesteil ist das Verhältnis zwischen Wein und Sühne umgekehrt. So wurden etwa im Landgerichtsbezirk Stuttgart von 569 Verurteilten nur acht einer Strafaussetzung teilhaftig (1,4 Prozent).
Klagte der CDU-Landtagsabgeordnete und Rechtsanwalt Dr. Hagmann aus Eßlingen: »Wir müssen die Einheitlichkeit wiederherstellen, wenn nicht das Vertrauen in die Verkehrsstrafjustiz verlorengehen soll.«
Tatsächlich hat das baden-württembergische Justizministerium bereits erste Schritte unternommen, um die Rechtsunsicherheit zu bannen, und
- für die Antrags- und Rechtsmittelpraxis der Staatsanwaltschaften neue Grundsätze über die Strafaussetzung zur Bewährung ausgearbeitet sowie
- die Gerichtspräsidenten im ganzen Land »über das Ausmaß der unterschiedlichen -Rechtsprechung und die Rückwirkung auf das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung« (Minister Haußmann) aufgeklärt.
Justizchef Haußmann ist gleichwohl nicht optimistisch: »Man wird nicht er warten dürfen, daß sich die Rechtsprechung, die sich auf diesem Gebiet in jahrelangen Entwicklungen leider auch in ihrer Unterschiedlichkeit gefestigt hat, Von heute auf morgen radikal ändern wird.«
Konstatierte die Zeitschrift »Kriminalistik": »Wie die Notzucht und die fahrlässige Tötung hat auch die Trunkenheit am Steuer ... ihre verschiedenen Taxen.«
** Nach Paragraph 23 des Strafgesetzbuches kann das Gericht »die Vollstreckung einer Gefängnis- oder Einschließungsstrafe von nicht mehr als neun Monaten oder einer Haftstrafe aussetzen, damit der Verurteilte durch gute Führung während einer Bewährungszeit Straferlaß erlangen kann ...«
Stuttgarter Finanzminister Müller*
In feuchten Regionen ...
Stuttgarter Justizminister Haußmann
. . . sind Richter milder
* Bei der Besichtigung einer Zelle des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim.