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"PROGNOS" -PROGNOSE Trist im Revier

aus DER SPIEGEL 27/1966

Der Blick in die Zukunft kostet 2800 Mark. Das ist der Preis für einen dickleibigen Tabellenband, der in den Staatskanzleien westdeutscher Länder seit Wochen von Hand zu Hand geht - diskutiert wie ein Bestseller, behütet wie ein Geheimdossier.

Mit Zahlen, die »bislang überhaupt noch nicht publiziert worden sind«, fertigte die schweizerische Gesellschaft für Wirtschaftsforschung »Prognos AG« eine »Analyse und Prognose der Entwicklung von- Wirtschaft und Bevölkerung« in den deutschen Bundesstaaten. Titel der kostspieligen Geheimschrift, die bis zum 31. Dezember 1968 »an Dritte« nicht weitergereicht werden darf: »Die Bundesrepublik Deutschland 1980«.

Ihr Fazit: Das Profil der westdeutschen Wohlstandslandschaft wird sich binnen eines Jahrzehnts gründlich verändern. Im Glauben an »eine ungestörte wirtschaftliche Entwicklung« in der Bundesrepublik und in der Annahme, daß Deutschlands äußere und innere Grenzen in vierzehn Jahren noch so verlaufen werden wie heute, versichern die »Prognos«-Propheten, daß

- Nordrhein-Westfalen, industrie- und volkreichstes deutsches Bundesland,

seine wirtschaftliche Parade-Position verlieren wird;

- Bayern, das heute noch Zuschüsse aus dem Länderfinanzausgleich* begehrt und bekommt, zur Spitzengruppe aufschließt;

- Hessen schließlich zu einem Hort des Wohllebens geraten und alle anderen Gliedstaaten überrunden wird. Das rote Musterland dankt seine rosige Zukunft einer »günstigen Zusammensetzung der Branchen in der Industrie«, wie etwa Chemie, Fahrzeugbau, Elektrogeräte - sämtlich aufstrebende Erwerbszweige. Daß auch Bayern zur Industriemacht aufsteigt, lassen heute schon die Silhouetten neuer Raffinerie-Zentren (Ingolstadt) erkennen. Deutschlands Südstaatler werden laut »Prognos« in wenigen Jahren nur knapp hinter den schon jetzt begüterten Baden-Württembergern rangieren, deren Wirtschaft weitgehend auf Maschinenbau, Fahrzeugproduktion und Elektrotechnik ausgerichtet ist.

Schleswig-Holstein, Niedersachsen und »zum Teil auch Rheinland-Pfalz« werden sich - so »Prognos« - im Mittelfeld der Länder-Liga halten. Trist aber sieht das kommende Jahrzehnt für die Stadtstaaten Hamburg und Bremen

- mit einer dahinkriselnden Werftindustrie - wie für die Reviere an Ruhr und Saar aus, die ihrer einseitigen Kohle- und Stahlstruktur wegen im Wohlstandswettlauf zurückbleiben werden.

Die Zukunft, die »Prognos« den Bundesländern verheißt, hat hier und da schon begonnen. Sie ist abzulesen in den Karteien der Einwohnermeldeämter, die sich in favorisierten Landstrichen zusehends auffüllen, und an den Beiträgen, die einige Gliedstaaten alljährlich für den Länderfinanzausgleich herausgeben müssen. Reiche Regionen, die bislang für bedürftige Bundesgenossen spendeten, geraten allmählich zu Fürsorgeempfängern.

So sank der Beitrag Nordrhein-Westfalens zwischen 1961 und 1965 um 29 Prozent. Aber: Vor fünf Jahren mußte jeder Hesse 32 Mark für die innerdeutsche Entwicklungshilfe aufbringen, 1968 werden es 107 Mark sein.

Und »bereits seit 1958«, so entdeckten die »Prognos«-Forscher, gibt es »eine steigende Mobilität der inländischen Erwerbspersonen, die auf der Suche nach besseren Verdienstmöglichkeiten, Arbeits- und Lebensbedingungen den Arbeitsplatz und Wohnort wechseln«.

So entwichen der Dunstglocke des Ruhrreviers zwischen 1960 und dem Vorjahr 146 000 Bürger mehr, als Einwanderer darunterzogen (siehe Graphik) - soviel wie die Bevölkerung der Großstadt Mainz. Als Magnet hingegen erwies sich Hessen mit einem Umzügler-Überschuß von 110 000 - soviel wie in der Industriestadt Herne leben.

Das Land der Mitte, Testfeld sozialdemokratischer Administratoren, dankt diese Anziehungskraft - so »Prognos« - nicht nur seiner idealen Industrie-Mixtur, sondern auch einer umsichtigen Sozialplanung. Hessens Finanzminister Albert Osswald: »Die Leute wollen wissen, wie sie wohnen, wohin ihre Kinder zur Schule gehen, wie die Verkehrswege beschaffen sind.«

Wie Nordrhein-Westfalen werden auch das Saarland und das Reben-Revier Rheinland-Pfalz Leidtragende der bundesdeutschen Völkerwanderung sein. Für diese beiden Länder aber haben die Zukunftsforscher für die fernere Zukunft Trost bei der Hand: Dort werden bis 1980 die meisten Kinder geboren.

* Bundesgesetz vom 23. Juni 1961, wonach finanzstarke Länder finanzschwachen Ländern Zuschüsse zahlen missen. Ansprüche und Leistungen werden jährlich nach Steueraufkommen und Einwohnerzahl jedes einzelnen Landes errechnet.

Königsallee in Düsseldorf, Hauptwache in Frankfurt: »Die Leute wollen wissen, wie sie wohnen«

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