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KIRCHEN Tröstliche Erfindung

In einem Glaubensprozeß gegen den evangelischen Hamburger Pastor Paul Schulz wird entschieden, ob jemand auch ohne Glauben an Gott und ewiges Leben Pfarrer sein kann.
aus DER SPIEGEL 48/1977

Wenn der Hauptpastor Klaus Reblin von der Hamburger Katharinenkirche an den Glaubensprozeß gegen seinen Mitbruder Paul Schulz, 40, Pastor der Nachbargemeinde Sankt Jacobi, denkt, sind es düstere Gedanken. Der Hauptpastor wünschte sich, »es wäre nie zu diesem Prozeß gekommen«. Ihm »widerstrebt, daß ein Streit um die Wahrheit per Abstimmung entschieden werden soll«.

Er wird so entschieden. Die Abstimmung über die Wahrheit markiert, wenn auch erst in vier Monaten, das Ende des vom Kirchengesetz so genannten »Verfahrens bei Lehrbeanstandung«, kurz »Lehrverfahren« genannt, das letzte Woche im Theatersaal der Michaelisgemeinde zu Hannover-Ricklingen begann.

Dorthin hatte der Lehrsenat der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), Dachverband von fünf lutherischen Landeskirchen in der Bundesrepublik, vergangene Woche ein siebenköpfiges Spruchkollegium unter dem Vorsitz des hannoverschen Landesbischofs Eduard Lohse sowie den der »Lehrabweichung« bezichtigten Hamburger Pastor

* Im »Lehrverfahren« mit Kontrahenten (von rechts) Professor Gerhard Friedrich, Landesbischof Professor Eduard Lohse. Richter Horst Gehrmann.

Schulz beordert. In einer Art Disputation mit dem Delinquenten sollen die sieben an vorläufig sieben Verhandlungstagen bis Anfang Februar 1978 die Rechtgläubigkeit des Hamburger Pastors prüfen.

Zweifel an Schulz' rechtem Glauben waren der Hamburger Landeskirehe, die mittlerweile Teil der Nordelbischen Kirche ist, bereits vor rund fünf Jahren gekommen. Damals hatte Schulz als Gemeindepastor an der Hauptkirche Sankt Jacobi begonnen, altvertraute Glaubensthesen kontinuierlich durch neue zu ersetzen. Aus dem Munde eines Pastors klang ungewöhnlich, was Schulz da in Vorträgen und Diskussionsrunden, auf der Kanzel und auch schriftlich von sich gab, beispielsweise über

* Gott: Das »jahrtausende alte Bild von dem persönlichen Gott« sei »eine tröstliche Erfindung von Menschen«. Nicht Gott habe die Welt erschaffen. Gebet sei »Selbstreflexion« des Menschen;

* Tod: Nach dem Tod komme »nichts weiter. Der Tod ist das natürliche Ende, der Mensch löst sich auf. Der Glaube an ein Weiterleben ist nur der Wunsch danach«. Es gebe kein Jenseits, »nur Diesseitigkeit«, »totale Weltlichkeit«;

* Offenbarung: »Ein Gott, den es nicht gibt, kann auch nichts offenbaren.« Die Bibel sei bloßes »Wort der Menschen«, nicht Wort Gottes. Jesus sei nur Mensch, nicht Gottes Sohn oder gar Gott. Eine Auferstehung Jesu habe »nie stattgefunden«.

Angesichts solcher Erkenntnisse sah die Hamburger Kirchenleitung den Paragraphen 60 des Pfarrergesetzes erfüllt und Schulz »in entscheidenden Punkten in Widerspruch zum Bekenntnis der evangelisch-lutherischen Kirche«. Bereits 1974 kurbelten die Kirchenführer das Lehrverfahren gemäß Kirchengesetz vom 16. Juni 1956 an

das erste Lehrzuchtverfahren in Deutschland seit dem Jahre 1911 (damals wurde der protestantische Kölner Pastor Karl Jatho von einem Berliner Spruchkollegium des Pantheismus beschuldigt und des Amtes enthoben).

Der erste Akt des Lehrverfahrens gegen Schulz, das Lehrgespräch, scheiterte. Weder Gespräche zwischen Kirchenleitung und Pastor noch die Schulz eingeräumten Bedenkzeiten und seine danach eingereichten Schriften »Gott im Denkprozeß« sowie »Ist Gott eine mathematische Formel« brachten zuwege, was sich das Kirchengesetz von dieser Phase des Verfahrens erhofft: »den Betroffenen theologisch zur Einsicht in die Bekenntniswidrigkeit seiner Lehrmeinung zu führen«.

Im Oktober vergangenen Jahres beantragte die Hamburger Landeskirche daraufhin bei der Leitung der VELKD den zweiten Akt des Lehrverfahrens, der im Kirchengesetz Feststellungsverfahren genannt wird: Ein Lehrsenat bestellte jenes Spruchkollegium, das vergangene Woche erstmals mit Schulz zusammentraf -- zwei Richter, zwei Pfarrer, drei Professoren für Neues Testament, unter letzteren der Vorsitzende des Spruchkollegiums, Lohse.

Nur wenn mindestens fünf der sieben Glaubensrichter am Ende des Feststellungsverfahrens gegen Schulz stimmen, ist dieser sein Amt als Pfarrer los. Daß es jedoch auch anders kommen könnte, dazu werden möglicherweise

* Kupferstich aus dem 19. Jahrhundert

die Widersprüchlichkeiten des Verfahrens beitragen:

Die protestantische Kirche kennt kein Lehramt und keinen verbindlichen Dogmen-Katalog wie die katholische Kirche; Grundlage des Feststellungsverfahrens bilden deshalb auch keine Anklagepunkte, sondern vage Themenkreise wie »Gott« oder »Jesus«. Die Abstimmung am Schluß des Verfahrens jedoch stellt eine Art lehramtlicher Entscheidung dar und setzt eigentlich die Existenz eines abfragbaren Dogmen-Katalogs voraus.

Wie das Spruchkollegium selbst das Verfahren verstanden wissen will -- nämlich offenbar eher als Diskussionsrunde denn als Inquisitionstribunal -, deutet schon die Sitzordnung an: Alle Teilnehmer sitzen quasi gleichberechtigt um einen großen quadratischen Tisch herum. Schulz selbst hat, wie auch sein Hamburger Anwalt und Rechtsbeistand Horst Barrelet, uneingeschränkte Redezeit, darf sich jederzeit zu Wort melden und dem Kollegium seinerseits Fragen stellen.

Der Hamburger Pastor, promovierter Theologe und seinen Gesprächspartnern rhetorisch überlegen, nutzt die Chance des Verhandlungsklimas. Seinen Kontrahenten sucht er unermüdlich dreierlei klarzumachen:

Seine Thesen seien keineswegs neu, sondern längst Gemeingut zahlloser Theologen der evangelischen Kirchen. Sie dienten überdies nicht der Demontage des Christentums, sondern brächten die »zentralen Aussagen des Christseins« besser und einsichtiger als früher zur Sprache. Und wo dennoch ein Dissens bestehe, möge das Spruchkollegium bedenken, daß es sich in vielen Fragen selber nicht einig sei.

Dabei gibt Schulz nicht einmal in Andeutungen die Figur eines reuigen Sünders ab. Vielmehr demonstriert er, etwa vor einer Tafel stehend und die Linke in der Hosentasche, unübersehbar, daß er es in Sachen Glauben womöglich doch besser weiß als die anderen -- so, wenn er, »sehen Sie mal«, »Dimensionen aufreißt« und »Methoden an die Hand« gibt, »relativ leicht das Böse« erklären kann und einem der beiden verdutzt dreinblickenden Richter vorhält, er habe wohl vom Wandel der Theologie in den letzten 50 Jahren nicht arg viel mitbekommen.

Das Urteil über Schulz wird, so oder so, nicht nur für den Pastor Konsequenzen habe. Kann Schulz bleiben und weiterpredigen, wäre das eine theologische Sensation: Auch ein Atheist könnte Protestant und Pfarrer sein -- für den großen Flügel konservativer Protestanten möglicherweise ein Anlaß zur Kirchenspaltung.

Muß Schulz gehen, ist dies der amtliche Bescheid, daß die Wege der protestantischen Theologie seit 50 Jahren Irrwege sind -- die Konservativen würden jubeln, viele andere die Kirche verlassen.

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