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Artikel 20 / 84

TROTZ SCHIKANEN KLEINE SCHRITTE

aus DER SPIEGEL 16/1965

SPIEGEL: Herr Minister, die Fensterscheiben klirren, die Türen klappern. Das Zonenregime demonstriert draußen mit tieffliegenden Jägern, mit knallenden Schallmauer-Durchbrüchen und Schikanen auf den Straßen gegen die Bundestagssitzung in Berlin, zu der Sie selber im Januar den Anstoß gegeben haben. Haben Sie damals mit einer derartigen Reaktion Ost-Berlins gerechnet?

MENDE: Wir rechneten mit Schikanen, mit gewissen Erschwerungen mindestens gegenüber den Bundestagsabgeordneten, und haben das einkalkuliert, was sich in diesen Tagen uns gegenüber an, Erschwernissen auftut. Nicht gerechnet haben wir mit den törichten Flugmanövern.

SPIEGEL: Aber Genaues wußten Sie nicht?

MENDE: Wir hatten Informationen, daß gegenüber den Bundestagsabgeordneten, die zu Lande

nach Berlin - reisen wollten, gewisse Erschwerungen eintreten würden.

SPIEGEL: Seit wann wußten Sie das?

MENDE: In der Woche vor, der Berlin-Sitzung wüßten wir das bereits. Die Abgeordneten, die dann in der Lage waren umzubuchen, haben entsprechend für den Flug nach Berlin umgebucht.

SPIEGEL: Wissen Sie, wer sich die Ost-Berliner Repressalien ausgedacht hat? Waren es der Kreml und Ulbrichts Leute zusammen, oder war es Ulbricht?

MENDE: Wir haben ins einzelne gehende Informationen, daß die Initiatoren dieser Repressalien ausschließlich in Ost-Berlin sitzen.

SPIEGEL: . . . aber sowjetische Rückendeckung haben?

MENDE: ... sich selbstverständlich in Moskau dafür Rückendeckung holten.

SPIEGEL: Halten Sie die bisherige Reaktion der alliierten Schutzmächte für angemessen?

MENDE: Die Bundesregierung glaubt fest an die Absolutheit der Garantiefunktion der drei Schutzmächte. Nun machen natürlich die Sowjet-Union wie Ost-Berlin es den Westmächten nicht leicht, die adäquate Reaktion zu finden. Denn stundenlange durch Manöver bedingte Umleitungen oder Sperrungen liegen im Bereich normaler Manöver und militärischer Maßnahmen. Erst wenn sie sich über Stunden hinaus zu tagelangen Sperren entwickeln sollten, dann würde das ganze Schwergewicht westlicher Garantiefunktionen sichtbar werden müssen. Im Augenblick läßt die Verhaltensweise Ost-Berlins und Moskaus eine solche absolute und harte Reaktion noch nicht zu.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß eine Kündigung oder Modifizierung des Abkommens über den Interzonenhandel eine taugliche Gegenwaffe gegen die Verkehrsschikanen wäre?

MENDE: Gerade die letzten Monate beweisen, daß auch hier eine Veränderung in der Einschätzung der Möglichkeiten der Bundesrepublik eingetreten ist. In Schwedt wird für, 44 Millionen Mark ein Chemiewerk durch England gebaut. Frankreich war, wie Sie wissen, sehr stark an der Leipziger Messe interessiert. Amerikanische Firmen trugen sich mit dem Gedanken, ein großes Chemiefaserwerk zu bauen. Im Jahre 1965 bietet der Interzonenhandel nicht mehr die gleiche politische Einwirkungsmöglichkeit, wie das in den fünfziger Jahren noch der Fall war. Ich warne vor spontanen Reaktionen und übereilten Schritten. Ich bin ein Freund ruhiger und besonnener adäquater Verhaltensweisen. Darum sind Überlegungen dieser Art gegenwärtig nicht aktuell.

SPIEGEL: Welche politische Absicht verfolgten Sie, als Sie im Januar - damals gegen den Willen des Bundestagspräsidenten und der beiden anderen Fraktionen - mit Nachdruck eine Berliner Plenarsitzung des Bonner Parlaments verlangten?

MENDE: Schon im Januar, als die Fraktionen ja ohnehin in Berlin zusammen waren, sollten nach unserem Willen Plenarsitzungen stattfinden, ohne eine lange Ankündigungszeit. Denn es war doch nicht einzusehen, daß zwar die Fraktionen des Bundestages sich in drei Räumen versammelten, aber nicht bereit waren, für einige Stunden in einen Raum zu gehen, um eine Plenarsitzung abzuhalten.

SPIEGEL: Im Januar hat nun aber keine Plenarsitzung stattgefunden ...

MENDE: Wir haben dennoch darauf gedrängt, daß baldigst auch der 4. Deutsche Bundestag das Recht, in Berlin zusammenzutreten, sichtbar wahrnimmt. Das mußte er spätestens jetzt tun, wenn er nicht durch die Parlamentspause und den Wahlkampf in Schwierigkeiten kommen wollte. Wir standen also unter Zeitdruck.

SPIEGEL: Sie meinen also, daß der Bundestag in jeder Legislaturperiode mindestens einmal hier tagen soll?

MENDE: Ja, mindestens. Es wäre, wenn wir jetzt nicht zusammengetreten wären, zum erstenmal seit 1953 eine Wahlperiode verstrichen, ohne daß das Parlament hier zusammengetreten ist.

SPIEGEL: Sechseinhalb Jahre sind verstrichen, seit das Parlament zum letztenmal hier eine Plenarsitzung abhielt. Haben die deutschen Dinge seit dieser Zeit und dadurch Schaden genommen?

MENDE: Es zeigt sich, daß ein Recht, das man nicht wahrnimmt, schwächer wird, und offensichtlich hat auch Ost-Berlin das Nichtzusammentreten des Bundestages seit 1958 als eine lautlose Preisgabe gewisser früher geübter Rechte gewertet. Deswegen reagiert es ja jetzt auch so streng.

SPIEGEL: Würden Sie sagen, daß diese Bundestagssitzung die Schwierigkeiten lohnt, die Ulbricht nun über West-Berlin und den Berlinverkehr verhängt hat?

MENDE: Gesamtdeutsche Politik ist von Jahr zu Jahr schwerer geworden. Wir erleben auch bei Nachbarvölkern, was für Opfer man für eine nationale Sache zu bringen bereit sein muß. Das, was uns gegenwärtig abverlangt wird, ist noch wenig im Verhältnis zu den Opfern, die andere für die Einheit von Volk und Staat bringen - ich denke beispielsweise auch an die jungen Kolonialvölker. In diesem Lande muß man gelegentlich Unbequemlichkeiten, ja sogar auch Schikanen und Strapazen auf sich nehmen, wenn man sich nicht den Vorwurf gesamtdeutschen Kleinmutes zuziehen will.

SPIEGEL: Sie sind also überzeugt, daß die Präsenz des Deutschen Bundestages in Berlin die West-Berliner Position tatsächlich stärkt und vielleicht auch Bewegung in die deutsche Frage bringt?

MENDE: Das möchte ich absolut bejahen. Die deutsche Frage ist doch in den letzten Jahren etwas in den Hintergrund getreten. Die Gefahr des Sichabfindens mit dem Status quo der deutschen Teilung ist groß. Es ist gut, daß durch die Ereignisse jetzt in und um Berlin die deutsche Frage international aktualisiert wird, und es ist auch eine Art der politischen Demonstration gegenüber dem, was Walter Ulbricht Im Nahen Osten seinerseits an Demonstrationen erreichen konnte.

SPIEGEL: Es sieht doch so aus, als ob die Sowjets und mit Ihnen die Ost-Berliner Machthaber nicht daran denken, sich heute oder irgendwann mit einer Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands einverstanden zu erklären. Falls aber dieses Interesse eines Tages da sein sollte, wäre es da nicht belanglos, ob der Bundestag mit seinem Plenum irgendwann einmal hier in West-Berlin getagt hat oder nicht?

MENDE: Das kann man nicht so einfach sagen. Berlin ist ja nicht zum erstenmal Schwerpunkt kommunistischer Pressionen. Berlin-Blockade, Chruschtschow-Ultimatum, Berliner Mauer, das sind alles Kettenglieder einer sehr konsequenten Deutschland- und Berlinpolitik der Sowjets. Daß die Wiedervereinigung gegenwärtig durch die Haltung der Sowjets blockiert ist, daß sie nicht uno actu kommen wird, wie wir noch in den fünfziger Jahren glaubten, daß sie nur in einem langfristigen Prozeß erreichbar ist, in vielen Phasen und Schritten, daß dazu eine Verringerung der Ost-West-Spannungen notwendig ist, ist so bekannt, daß man darauf gar nicht mehr einzugehen braucht.

SPIEGEL: Sie haben vor zwei Wochen auf dem Frankfurter FDP-Parteitag einer Ost-West-Entspannung das Wort geredet. Sie meinten, es sei an der Zeit, alsbald diplomatische Beziehungen zu den osteuropäischen und südosteuropäischen Staaten aufzunehmen. Fürchten Sie nicht, daß diese Politik der kleinen Schritte gegenüber dem Ostblock, etwa gegenüber Rumänien, durch diese Bundestagssitzung gestört, behindert und vielleicht sogar inhibiert wird?

MENDE: Ich meine, daß im Bereich der nächsten Wochen und Monate die Tendenz kleiner und mittlerer Schritte eine vorübergehende Erschwerung erfahren wird. Das muß man leider manchmal in Kauf nehmen.

SPIEGEL: Sie halten aber trotz der Ost-Berliner Schikanen daran fest, nach Möglichkeiten der Verständigung mit dem Osten zu suchen?

MENDE: Wir sind der Meinung, daß es einer aktiveren Ostpolitik bedarf, die mit den Handelsmissionen begann - über Rumänien deuteten Sie schon manches an, was im Gange ist. Wie weit die Verhandlungen gediehen sind, darüber läßt sich nicht öffentlich sprechen.

SPIEGEL: Und das Verhältnis zu Ost-Berlin?

MENDE: Schröder meinte in seiner Rede auf dem Düsseldorfer CDU-Parteitag, daß das, was sich in Mitteldeutschland in zwanzig Jahren gebildet habe, auch in der internationalen Sicht existent sei. Das ist doch auch eine interessante Formulierung: Man kann nicht mehr mit der Fiktion arbeiten, da ist nichts, und man braucht sich daher um nichts zu kümmern.

SPIEGEL: Ja, besonders jetzt spürt man, daß da was ist. - Zu Ihrem Frankfurter Programm, Herr Minister, gehört auch die Einrichtung technischer Kommissionen, die sich paritätisch aus West- und Mitteldeutschen zusammensetzen.

MENDE: In der Frage der gemischten technischen Kommissionen gibt es keinen Unterschied zwischen dem Kollegen Schröder und mir, ja, ich möchte sagen, auch keinen Gegensatz im Kabinett, auch nicht zu dem früheren Bundeskanzler Adenauer. Ich selbst habe das Memorandum eingesehen, das die Paraphe Adenauers trug vom 9. August 1963 - da sind gemischte, paritätisch besetzte Kommissionen vorgeschlagen für den Personenverkehr, für den Wirtschafts- und Warenverkehr und für den Kulturaustausch.

SPIEGEL: Haben Sie Anhaltspunkte dafür, Herr Minister, daß Sie für diese Kommissionspläne im Osten einen Gesprächspartner finden?

MENDE: Mein letztes Gespräch mit dem Botschafter Smirnow fand Mitte Dezember statt, vor seiner Abreise nach Moskau. Ich habe ihm erklärt - er sprach auch mit dem Bundeskanzler -, daß wir zu den kleinen Schritten der menschlichen Begegnung - Passierscheine, Rentnerbesuche und das alles - weitere Maßnahmen hinzufügen müßten, insbesondere die Öffnung von mehr Verkehrswegen, sowohl Straße wie Schiene, die Verbesserung also des Reiseverkehrs, die Modernisierung des Wirtschaftsverkehrs, mehr Kulturbegegnungen, und auch das Problem eines innerdeutschen Zahlungsverkehrs müsse sich anders regeln lassen als über den damals gerade verfügten Zwangsgeldumtausch. Ich sagte ihm, das wäre am besten möglich, wenn wir diese gemischten Kommissionen einrichteten unter einem Auftrag der vier Mächte. Das lehnte er allerdings ab.

SPIEGEL: Sie haben mit Ihren Frankfurter Forderungen dieses Vier-Mächte-Dach da nun auseinanderoperiert: Die Bundesrepublik sollte Ihrer Auffassung nach im Auftrag der drei -Westmächte und Ost-Berlin im Auftrag Moskaus in die technischen Kommissionen eintreten. Verträgt sich das mit der bisher für sakrosankt gehaltenen Konstruktion einer ungeteilten Vier-Mächte-Verant-wortung für ganz Deutschland?

MENDE: Da Smirnow Bedenken gegen den Auftrag hatte und gegen eine Vier-Mächte-Institution, glaubte ich auf eine alte Modifizierung zurückgreifen zu können, nämlich auf das Jessup-Malik -Abkommen vom Frühjahr 1949*: Damals bekam die Bizone eine Order der drei Westmächte, Ost-Berlin eine Order von Moskau. Die Vier-Mächte-Verantwortung will auch ich aufrechterhalten; nur wenn sie nicht erreichbar ist in dem ursprünglich angestrebten Sinne einer ständigen Deutschland-Konferenz der vier Mächte, also expressis verbis als Vier-Mächte-Auftrag, dann frage ich mich, ob drei plus eins nicht auch vier sein können im analogen Schluß zum Jessup-Malik-Abkommen.

SPIEGEL: Ost-Beilin hat auf die Bundestagssitzung mit Schikanen geantwortet, Ist nicht anzunehmen, daß Ulbricht sich nun auf lange Sicht gegen jede Zusammenarbeit sperrt?

MENDE: Gerade auch die Berliner Tage beweisen, daß wir zu technischen Vereinbarungen die andere Seite an den Tisch werden bitten müssen, wie bei den Passierscheinen, wie bei der Saale-Brücke. Damit aber nicht eine Mißdeutung im Sinne der sowjetischen Zwei-Staaten-Theorie entstehen kann, wird man immer bei solchen technischen Vereinbarungen die Vorbehaltsklausel anwenden wie beim Passierscheinabkommen, wonach über Orts-, Behörden- und Amtsbezeichnungen eine Einigung nicht herbeigeführt werden konnte.

SPIEGEL: Erwarten Sie, daß die DDR da mitspielt?

MENDE: Bei den Passierscheinen ist es geschehen, bei der Saale-Brücke haben wir eine Formel gefunden. Warurn soll das nicht für künftige Vereinbarungen möglich sein?

SPIEGEL: Sie halten es also für denkbar. Herr Minister, daß mit Zustimmung Ost-Berlins auch über Sitzungen des Bundestages in West-Berlin eine Einigung erzielt werden könnte?

MENDE: Es wird sich zeigen, ob dieser Protest, den wir jetzt erleben, eine Pflichtübung größeren Rahmens war oder mehr. Darum: Ich glaube, daß Ost-Berlin auch In der Frage von Plenarsitzungen In West-Berlin anderen Sinnes werden kann.

SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Die Uno-Delegierten Philip Jessup (USA) und Jakob Malik (UdSSR) handelten die Aufhebung der Berliner Blockade (23. Juni 1948 bis 12. Mai 1949) aus.

Mende (M.) beim SPIEGEL-Gespräch im Reichstag*

Mende-Gesprächspartner Smirnow

Drei plus eins gleich vier?

* Mit SPIEGEL-Redakteuren Hans Schmelz (l.) und Hans Dieter Jaene.

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