Tschernenko - »die Rache des Apparats«
Die UdSSR trauerte um ihren Staats- und Parteichef und die Geheimpolizisten der UdSSR um den Erfolgreichsten aus ihren Reihen, ihren ehemaligen Vorgesetzten Jurij Andropow, der an die Spitze der Sowjet-Union aufgestiegen war.
Dem eben, an Dostojewskis 103. Todestag, hingeschiedenen »ruhmvollen Sohn der Kommunistischen Partei« riefen »Organe und Truppen« des Komitees für Staatssicherheit (KGB) all das nach, was einen Staatsschützer auszeichnet: »Bolschewistische Prinzipientreue, Organisationstalent, äußerste Strenge gegen sich selbst und gegen andere.«
Zwar entsprach der Intellektuelle Andropow so gar nicht dem herkömmlichen Bild eines verbohrten, finsteren Staatspolizisten, wirkte vielmehr für Sowjetverhältnisse vergleichsweise westlich. Doch sein Regierungsstil war autoritär, er wollte Ordnung schaffen im russischen Reich - mit Hilfe des KGB.
Der bäurische Nachfolger Konstantin Tschernenko, 72, ist ganz anders: In seiner Sicht, so faßte die »Prawda« schon am Tag vor Andropows Tod den Inhalt aller Reden und Aufsätze Tschernenkos zusammen, lehnt die Partei »die Methoden des administrativen Kommandierens über das werktätige Volk entschieden ab«.
Das sollte nicht heißen, daß die Partei unter einem Tschernenko etwas von ihrer Allmacht abgeben wird, wohl aber, daß die von Andropow veranlaßte harte Disziplinierung von Volk und Funktionären ein Ende hat.
Der gestrenge Andropow hatte dem sowjetischen Proletariat traditionelle Rechte abgesprochen, etwa während der Arbeitszeit einzukaufen, Domino zu spielen oder sich an einem Schlückchen Wodka zu laben. Zwar ist Tschernenko der älteste Funktionär, der je Parteichef wurde, er ist nur ein Jahr jünger als der große Stalin nach fast 30jähriger Herrschaft bei seinem Tod war. Zwar hat Tschernenko, ein Bilderbuch-Apparatschik der Partei, nie ein Wirtschaftsunternehmen geleitet oder ein Staatsamt verwaltet.
Aber er zog vor drei Jahren aus der polnischen Gewerkschaftsrevolution die weise Lehre, man dürfe niemals die »Verbindungen zu den Arbeitern aufs Spiel setzen«.
Und in seiner Antrittsrede vor dem ZK am vorigen Montag nannte er die »allererste Pflicht: sich mit arbeitenden Menschen zu beraten« und versprach, Anrechtsscheine für Wohnungen und für Ferienreisen gerechter zu verteilen.
Andropow hatte den nicht arbeitenden Menschen, den Funktionären, das
Gewohnheitsrecht auf Korruption genommen - das Privileg auf Zusatzeinkommen aus Schiebereien mit Anrechtsscheinen, Genehmigungen, Beförderungen, Freistellungen, Zuzug, Ausreise, Freispruch. Bis in die Familie des Partei- und Staatschefs Breschnew hinein ließ Andropow nach Durchstechereien fahnden, den Polizeiminister unter Hausarrest stellen, einen Vize-Minister und zwei Gebietsparteisekretäre, sogar den Delikatessen-Lieferanten der Moskauer Oberschicht zum Tode verurteilen.
Tschernenko dagegen, so empfahl ihn Premier Tichonow dem ZK, tritt für ein »wohlwollendes Verhalten« gegenüber den Funktionären ein.
Vertraut mit der Stimmung im Kaderkorps der Partei, wehrte er sich stets gegen häufigen »Kaderwechsel«, also Postenumbesetzung. Dem ZK versprach er jetzt, die Partei wolle sich auf ihre Rolle als »politisches Führungsorgan« beschränken und sich nicht mehr direkt in die Arbeit von Ministerien, Kommunalbehörden und Betrieben einmischen: »Die Praxis, bei der Wirtschaftsleitern Entscheidungen abgenommen werden, erdrückt die Tatkraft der Kader.«
So folgte denn das 276köpfige ZK dem Vorschlag der Mehrheit unter den 12 Politbüro-Mitgliedern, den Partei-Apparatschik Tschernenko als Andropow-Nachfolger zu bestätigen: Da seine Hausmacht, die Parteifunktionäre, nur 39 Prozent der ZK-Mitglieder stellen, muß er auch die Staats- und Wirtschaftsfunktionäre für sich und die Perspektive eingenommen haben, daß sich an den herkömmlichen Strukturen, einschließlich des herkömmlichen Schlendrians, nichts ändert.
Die insgesamt 158 Gebietsparteisekretäre der Provinz, die wichtigsten Amtsträger der KPdSU, hatte Tschernenko wohl ohnehin auf seiner Seite. Sie sehen in ihm den Garanten ihrer Sonderrechte sowie den Beschützer vor Versetzung und gegen Fahndung durch das KGB. Der ehemalige Sekretär Leonid Breschnews repräsentiert wie Breschnew den gesellschaftlichen Status quo: Vermeiden jeden Risikos, Festhalten am bewährten Alten - die guten Jahre der Breschnew-Ära kehren wieder.
Tschernenko wird auch versuchen, sich mit dem Westen wieder zu arrangieren. Der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, »im Zeitalter der supergenauen Raketen« notwendiger denn je, will er »stets die Treue bewahren«. Er verspricht, keine militärische Überlegenheit anzustreben, »anderen Völkern nicht unseren Willen zu diktieren« und auch nicht weiter nachzurüsten: Sein Land, versicherte Tschernenko dem ZK, verfüge über genügend Mittel, »die Hitzköpfe der militanten Abenteurer abzukühlen« - härtere Worte über den Westen, der laut volltourig laufender Sowjetpropaganda den dritten Weltkrieg vorbereitet, waren von Tschernenko nie zu hören.
Dieser verbindliche Kremlherr stammt aus der sibirischen Provinz, dem Dorf Bolschaja Tes ("Große Enge") in der Gegend um Krasnojarsk, 3000 Kilometer jenseits von Moskau - geographisch genau aus der Mitte der weiten Sowjet-Union. Dort nimmt man Prinzipien nicht so ernst wie in der Hauptstadt, dort werden Moskauer Befehle oft den Gegebenheiten Sibiriens angepaßt.
Dort kann ein Parteimann, der nur befiehlt, wenig erreichen. Er muß sich mit seinen Untergebenen gutstellen. Das Land jenseits des Ural, dessen eigensinnige Bewohner nach dem Sturz des Zaren 1917 Autonomie verlangten und sogar erwogen, sich Amerika anzuschließen, hat keine Grenzen: Wem etwas mißfällt, der kann an einen anderen Ort ausweichen.
Nie gab es in Sibirien die Leibeigenschaft; wer sich ihr im Rußland der Zarenzeit entziehen wollte, ging nach Sibirien. Auch Konstantin Tschernenkos Eltern kamen - zur Zeit des Reformers Stolypin nach 1906 - aus der Ukraine nach Sibirien, weil sie dort eigenes Land und mehr Bewegungsfreiheit erwarteten.
Tschernenko gebrauchte oft Worte, die unüblich sind im Parteivokabular, etwa: »unter den Bedingungen der Freiheit«. Was er damit meint, weiß er wahrscheinlich selbst nicht genau - Freiheit im westlichen Sinn gewiß nicht. Aber gewiß möchte er auch nicht wie Andropow die Bürger per Polizei dazu bringen, mehr zu arbeiten und besser zu verwalten.
Für ihn sind Überstunden und Pflichttreue eine Sache des »Bewußtseins«, das durch Erziehung entsteht - und der Erzieher ist die Partei, nicht das KGB.
Diese Partei, so erklärte er vorige Woche dem ZK, kümmere sich um die »Formung des Menschen und sein ideologisch-moralisches Wachstum« - eher eine salbungsvolle als aktivistische Sicht.
Während sich der Durchschnittsbürger freuen mag, daß sich die Partei Tschernenkos mit der Rolle einer milden Kirche begnügen will, verachten die Aufgeklärten in der UdSSR die vermutete
geistige Mediokrität des Bürokraten Tschernenko, sie trauen ihm zu, wie Chruschtschow in der Uno mit dem Schuh auf den Tisch zu hauen und so mit einem Schlag zu ruinieren, was so mühsam aufgebaut worden war: ein gewisses Ansehen der UdSSR auch in der gebildeten Welt.
»Nun erleben wir wieder maximal lange Reden mit einem Minimum an Inhalt«, klagte ein Moskauer Schriftsteller (siehe Seite 126). Der Westkenner Georgij Arbatow, Professor und Andropow-Vertrauter, soll laut dpa vor anderthalb Jahren einem ausländischen Besucher gegenüber geäußert haben, Tschernenko sei »wenig besser als ein Bauer und undenkbar als Führer der Sowjet-Union«.
Wie unter den Apparatschiks könnte sich unter den arbeitsunlustigen Arbeitern der UdSSR in der Ära Tschernenko jedoch Zufriedenheit ausbreiten. Zwar kennt man den Neuen - wie seinen Vorgänger - vom Fernsehen nur wenig, doch sein Gesicht zeigt nicht dessen zerquälte Züge mit sardonischem Lächeln; Tschernenko trägt auch keinen Zynismus im Antlitz wie so viele in der Führungsschicht.
Er sieht aus, wie man sich einen Sibirier vorstellt: gegerbte Haut, starke Backenknochen, listige Augen. Er kann nicht reden, sein Manuskript nicht mehr oder noch immer nicht ohne Stocken vorlesen, so daß bei seiner Grabrede für Andropow das Sowjetfernsehen bald den Ton abschaltete.
Das Alter hat ihn gezeichnet: Er geht gebeugt und läßt die rechte Schulter hängen. Er hat eine frische, drei Zentimeter lange Narbe am Haaransatz, die auf eine Schädelfraktur in jüngerer Zeit hindeutet.
Aber er spricht ein schönes, dem Volk ins Ohr gehendes Russisch - ein Generalsekretär zum Anfassen. Er teilt die schier unbeschränkte Fähigkeit seiner Landsleute zur Geduld: »Wenn sich Washington als unfähig erweist, sich über primitiven Antikommunismus zu erheben, wenn es auf seiner Politik der Drohungen und des Diktats beharrt«, befand Tschernenko in der Krisensituation wenige Tage vor Breschnews Tod 1982, »nun, dann sind wir stark genug und können warten.«
Von einer Öffnung nach Westen - die Unruhe in das System bringt - hält der konservative Parteimann, auch hier einig mit der älteren Generation seines Landes, überhaupt nichts. Das ZK warnte er voriges Jahr vor dem Unterfangen des Auslands, »fremde Ansichten und Sitten bei uns durchzusetzen«.
Natürlich versteht er die Jungen nicht, er sorgt sich um mangelnde Arbeitsbereitschaft bei vielen Jugendlichen, kritisiert mit Altersweisheit »verspätete staatsbürgerliche Reife und politische Naivität, Schmarotzertum« und warnt vor dem »Einfluß der feindlichen Propaganda auf die junge Generation, die den Haß des Imperialismus aus eigener Erfahrung nicht mehr kennt«.
Er selbst kann ihn freilich auch nicht kennen: Im Krieg mit den Deutschen focht er nicht, er steckte weit im sibirischen Hinterland; den Westen hat er erst im Ruhestandsalter, jeweils nur ein paar Tage als Mitglied einer Delegation, besichtigen dürfen.
Im Alter von 63 Jahren fuhr er zum erstenmal in ein »imperialistisches« Land, mit Breschnew zum Europa-Gipfel nach Helsinki. Mit 66 Jahren reiste er, begleitet vom emsigen ZK-Vizeabteilungsleiter Sagladin, nach Athen, um auf dem Parteitag der örtlichen KP eine Rede zu halten.
Im folgenden Jahr durfte er - zum erstenmal - nahe Bruderstaaten besuchen: Bulgarien und Ungarn, zusammen mit Breschnew, der ihn im Juni auch nach Wien zur Unterzeichnung des Salt2-Abkommens mitnahm. Derart herumgekommen, konnte Tschernenko sich im Dezember 1979, nun als Hauptperson eines Freundschaftsbesuches, noch einmal nach Bulgarien begeben.
Ein Jahr darauf reiste er zum Parteitag nach Kuba, drei Monate später sogar aus demselben Anlaß nach Frankreich, wo er dem sozialistischen Premier Pierre Mauroy seine Aufwartung machte. Wie es im fernen Amerika aussieht, wird ihm seine Tochter erzählt haben, die dort einige Zeit als Ehefrau eines Sowjetdiplomaten gelebt hat.
Tschernenkos Bezugspunkt ist das »Vaterland«, und zwar das russische. Unvergeßlich blieb ihm, wie im Mai 1943 die Einwohner der Ural-Stadt Tscheljabinsk »nach altem russischem Brauch« ihre Garnison, die Kriegsfreiwilligen vom Uraler 1. Panzerkorps, zum Bahnhof begleiteten, »zu Schlachtensiegen«. Er lobt das »althergebrachte russische Wort« für einen Pädagogen: »Nastawnik« (Lehrmeister).
Er verurteilt als vorschriftsmäßiger Atheist zwar »Gottsuchertum und Idealisieren des Patriotischen in der Literatur«, aber in der herrschenden Ideologie ist Tschernenko, der in verschiedenen Gremien zwei oder drei Jahrzehnte lang für Agitation und Propaganda zuständig war, nicht ganz bibelfest.
Daß er den »Pluralismus« verdammt, stimmt nicht genau mit der Parteilinie überein (die beispielsweise den italienischen Genossen offiziell Meinungsvielfalt gestattet), entspricht aber seinem konservativen Weltbild.
Anders ist es mit seiner Dialektik einer etablierten sozialistischen Gesellschaft, in der es nach sowjetamtlichem Dogma keine »unversöhnlichen« (also nur revolutionär aufzuhebenden) Widersprüche gibt. Tschernenko - oder sein Redenschreiber aus dem ZK-Apparat - sagte, es gebe sie.
Unter dem Eindruck der polnischen Arbeiterrevolte 1980 sorgte sich Tschernenko, auch die Funktionäre der UdSSR seien ihrer Machtpositionen nicht mehr sicher. Er zog daraus die Lehre, _____« wie wichtig es für die Partei und die Stärkung ihrer » _____« führenden Rolle ist, auf die Stimme der Massen zu hören, » _____« entschieden gegen alle Erscheinungen des Bürokratismus zu » _____« kämpfen, die sozialistische Demokratie aktiv zu » _____« entwickeln und eine abgewogene, realistische » _____« Außenwirtschaftspolitik zu betreiben. »
Denn - die »Prawda« zitierte am 8. Februar diese neue Lehre Tschernenkos - auch im Sozialismus gebe es Widersprüche, die auch nicht »radikal anders« als in der bürgerlichen Gesellschaft seien - so etwas hatten bisher nur marxistische
Ketzer behauptet und der chinesische Dichter-Revolutionär Mao Tse-tung.
Vorigen Montag beschwor Tschernenko sein ZK, unter allen Umständen die Verbindung zu den »Massen« zu halten und sich allzeit an deren Gedanken zu messen. Konkrete Folgerung: Der Gewinn aus Mehrarbeit müsse stets an das Volk zurückfließen.
Mit Recht stellte demnach Premier Tichonow als besondere Qualität dieses Generalsekretärs ohne jede wirtschaftliche, militärische oder außenpolitische Praxis dessen »Lebenserfahrung« heraus: Tschernenko habe »die harte Bauernarbeit kennengelernt, den Dienst als Soldat, die täglichen Pflichten eines regionalen Parteikomitees auf dem Lande« - ganz so war es aber nicht.
»Ich wurde 1911 in einer großen und armen Bauernfamilie in der Krasnojarsker Region Sibiriens geboren«, so beginnt Tschernenkos eigener, offizieller Lebenslauf. Er riß zu Hause aus: »Ich verließ meine Mutter, als ich ein kleiner Junge war.« Wenn die Passage vom alleingelassenen Mütterlein von ihm selbst stammt, schätzt er Freimut oder übt Reue; hat sein Ghostwriter sie verfaßt, wollte er seinem Auftraggeber Schaden zufügen im Land der exzessiven Mutterliebe, wo selbst das Vaterland ("Rodina") weiblichen Geschlechts ist und als »Mütterchen« apostrophiert wird.
Über seinen Vater sagt er nichts, steht auch nichts in dem Tschernenko-Artikel der »Großen Sowjet-Enzyklopädie«. Gemäß Tschernenkos Vaternamen Ustinowitsch - so wie der Nachname des gegenwärtigen Verteidigungsministers der UdSSR - hieß der Vater Ustin. Mit zwölf Jahren verdiente Tschernenko sich seinen Lebensunterhalt bei einem »wohlhabenden Herrn«; demnach hat er höchstens die Grundschule besucht, falls es in Bolschaja Tes eine gab.
Mit 15 trat er der Parteijugendorganisation »Komsomol« bei, im Jahre 1926: »Wir waren unterernährt und ärmlich gekleidet, aber die Träume von einer strahlenden Zukunft faszinierten uns und gaben uns ein Glücksgefühl.« Es wirkt wie Sozialkritik am Rußland der ersten Stalinjahre.
Tschernenko meldete sich freiwillig zu den »Grenzwachen«, weil er nach eigener Erinnerung in der Zeitung über Konflikte mit ausländischen Eindringlingen gelesen hatte. Voriges Jahr, als Tschernenko das für die englische Ausgabe seiner Reden und Aufsätze niederschrieb, entsprach es dem Stil der Ära des regierenden KGB-Manns Andropow: In der UdSSR untersteht der Grenzschutz als uniformierte Verfügungstruppe der Geheimpolizei.
Doch auch Geheimpolizisten im Trenchcoat, die sich ihrer Tätigkeit oft ein bißchen schämen, geben sich euphemistisch als »Grenzwächter« aus. So einer kann Tschernenko gewesen sein und ein tüchtiger offenbar dazu: Schon mit 20, im Jahr des großen Bauernlegens 1931, nahm ihn die Partei als Mitglied auf.
Welche Grenze er schützte, scheint ihm heute nicht erwähnenswert, wie auch seine Beschäftigung in den folgenden zehn Jahren - in der Terrorzeit: »Sekretär der Parteiorganisation einer Grenzschutzabteilung, Abteilungsleiter für Agitprop an einem Rayon-Parteikomitee«. Das ist nicht nur undeutlich, sondern auch unvollständig.
Im Westen stellten vor einem Vierteljahrhundert Sowjet-Emigranten einen Bericht über Säuberungen 1938/39 in Dnjepropetrowsk zusammen, einer ukrainischen Stadt, wo Leonid Breschnew Abteilungsleiter im Parteikomitee war. Ein Augenzeuge will gesehen haben, wie eines Nachts Häftlinge in die Autowaschhalle des örtlichen Dienstsitzes der Geheimpolizei (NKWD) gebracht wurden.
Sie waren gefesselt, ihre Münder mit Gummibällen verstopft. Sie wurden erschossen. Der Vize-Personalleiter der NKWD-Verwaltung Dnjepropetrowsk soll nach diesem Bericht mitgeschossen haben. Er trug den in Rußland beliebten Vornamen eines Zaren-Bruders Konstantin und den in der Ukraine häufigen Nachnamen Tschernenko (etwa: Der Schwarze).
Vorigen Montag füllte die Sowjetagentur »Tass« die Lücke im Tschernenko-Lebenslauf und stützte sich dabei auf die »Kriegsenzyklopädie« von 1980, für die Tschernenko seine Biographie offenkundig etwas militarisiert hatte: _____« Von 1929 bis 1930 leitete Konstantin Tschernenko die » _____« Agitprop-Abteilung des Kreis-Komsomol-Komitees » _____« Nowoselowo, Region Krasnojarsk. 1930 trat er als » _____« Freiwilliger » _(Protestantische Kirche. ) _____« in die Rote Armee ein. Bis 1933 diente er in den » _____« Grenztruppen und war Sekretär der Parteiorganisation » _____« einer Grenzeinheit. Nach Beendigung des Dienstes in der » _____« Armee arbeitete Konstantin Tschernenko in der Region » _____« Krasnojarsk als Leiter der Abteilung Propaganda und » _____« Agitation der Kreisparteikomitees Nowoselowo und Ujar, » _____« als Direktor des Parteischulungshauses der Region » _____« Krasnojarsk, als stellvertretender Leiter der » _____« Agitprop-Abteilung ... »
Bei diesen Details fehlt etwas: Laut »Großer Sowjet-Enzyklopädie« betätigte er sich zu jener Zeit nicht nur in Partei-, sondern auch in Staatsorganen. Das NKWD war ein Staatsorgan.
Mit dem Jahr des deutschen Angriffs 1941 setzt der selbstverfaßte Lebenslauf des heutigen Chefs der KPdSU wieder ein: Der Grenzschützer a. D., 29, meldete sich freiwillig zu jener Roten Armee, bei der er laut »Tass« und Kriegsenzyklopädie schon gedient hatte, wurde aber nicht angenommen.
Er verbrachte den Krieg im sicheren Sibirien als Parteisekretär, machte morgens seinen Waldlauf und vervollständigte in Schulungskursen an der Moskauer »Hochschule für Parteiorganisatoren« seine als Kind abgebrochene Bildung. Daraufhin bekam er gleich nach dem Krieg den Posten eines Gebietsparteisekretärs in Pensa (an die 200 000 Einwohner), gelegen zwischen der mittleren Wolga und dem Straflagergebiet Mordwinien.
Hernach schickte ihn die Zentrale auf sechs Jahre nach Moldawien, jener Sowjetrepublik, die auch das damals gerade wieder angeschlossene Bessarabien umfaßt. Als Agitprop-Leiter hatte Tschernenko die zuvor rumänisch regierten Einwohner von den Vorzügen des Sowjetregimes zu überzeugen - keine leichte Aufgabe.
Er machte das Beste daraus und besorgte sich nebenher das Abschlußzeugnis der Lehrerbildungsanstalt Kischinjow. Vor ihm lag eine Provinzkarriere bis zum lokalen Parteichef, also Gouverneur unter Leuten, deren Sprache er nicht einmal verstand.
Aber er hatte in der Landeshauptstadt Kischinjow einen zupackenden, kriegserfahrenen Vorgesetzten, den moldawischen Parteichef, den er vielleicht schon von früher her kannte und den es mit Macht zu Höherem zog: Leonid Breschnew.
Tschernenko brauchte sich nur an dessen Karriere anzuhängen. Als Breschnew 1956 im fernen Moskau zum ZK-Sekretär und Kandidaten des Politbüros befördert wurde, suchte er jemanden, der ihm den Papierkram erledigte - die Akten zusammenhielt und die Korrespondenz besorgte. Er holte Tschernenko in die Sowjethauptstadt und machte ihn erst einmal in der Agitprop-Abteilung des ZK-Sekretariats zum Sektoren-Leiter und Redakteur des Parteiorgans »Agitator«.
Vier Jahre lang saß Tschernenko in einem der dunklen Büros des Häuserblocks an Moskaus Altem Platz und half nun, das ganze Sowjetvolk von den Vorzügen seines Regimes zu überzeugen. Dann wurde Breschnew zum ersten Mal Staatspräsident, nämlich »Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjet« mit Residenz im Kreml. Tschernenko zog mit ihm um. Er übernahm nun Breschnews Sekretariat.
Schreiben und Lesen kann sein Element nicht gewesen sein. Agitatorischer Überzeugungskraft stand sein mangelndes rhetorisches Talent entgegen, besonders kontaktfähig oder auffallend unterhaltsam für Breschnew war er gewiß auch nicht, da er den männermordenden Wodka mied, von dem in Tschernenkos kalter sibirischer Heimat schon zum Frühstück ein Wasserglas voll getrunken wird.
Hatte er einen hoch entwickelten Sinn für Intrigen, die im Moskauer Machtkampf den Weg nach oben bahnen helfen? Konnte er darin Breschnew beraten? Breschnew, der ihn »Kostja« nannte, schätzte erklärtermaßen eine ganz andere Tugend an seinem Kabinettchef: »Ich kenne keinen Fall, wo du irgend etwas vergessen hättest, sogar wenn es auf den ersten Blick nur um belanglose Dinge ging.«
Tschernenko hatte sich viel zu merken. Über seinen Schreibtisch gingen alle Schriftstücke für das Staatsoberhaupt der Sowjet-Union, vor allem aber
die vorsortierten Bittschriften der Landeskinder. Innerhalb der isolierten Führungsschicht erfuhr niemand so direkt wie Tschernenko, was das Volk als bedrückend empfand.
Tschernenko fertigte jeweils eine Stellungnahme, die er Breschnew zur Entscheidung vorlegte. Breschnew lernte, daß er Tschernenkos Vorschlägen vertrauen konnte, und Tschernenko erlebte, daß er auf den richtigen Mann gesetzt hatte: Der wurde 1964 Parteichef, er nahm Tschernenko mit, zurück zum ZK-Gebäude an Moskaus Altem Platz. Für beinahe zwei Jahrzehnte leitete der Sibirier nun die Allgemeine Abteilung des ZK-Sekretariats.
Er hatte für das Politbüro, das donnerstags zusammentritt, die Beschlußvorlagen zu fertigen und Protokoll zu führen. Über seinen Schreibtisch gingen jene Petitionen der Bevölkerung, die an das ZK oder dessen Generalsekretär gerichtet waren. Aufgrund seiner Zuständigkeit für die interne Sicherheit des ZK stand ihm ein eigener kleiner Geheimdienst zur Verfugung. Und er besaß ungehinderten Zugriff zum wichtigsten Machtinstrument der KPdSU: der Mitgliederkartei mit fast 18 Millionen Personalakten.
Wer etwas werden wollte in der Staatspartei und damit im ganzen Sowjetland, mußte sich mit Tschernenko gutstellen. Fast jeder, der in den letzten Jahren aufstieg, ist Konstantin Tschernenko zu Dank verpflichtet.
Mit nachlassender eigener Kraft ließ der Parteichef seinem Kostja immer mehr freie Hand. Breschnew kam immer seltener in sein ZK-Büro, Tschernenkos Macht wuchs im selben Maß, schließlich brauchte Breschnew seine graue Eminenz dringlicher als der Büroleiter den Chef.
Tschernenko blieb seinem Herrn treu, beriet ihn zu dessen Zufriedenheit, wartete ab und vergaß nichts - da ergab sich alles weitere fast von selbst: 1971 wurde Tschernenko Vollmitglied des Zentralkomitees und gehörte damit zu den 241 Notabeln des Reiches. Zum erstenmal tauchte sein Name in der Auslandspresse auf (SPIEGEL 51/1971).
Wiederum vier Jahre später trat Tschernenko erstmals aus dem Hintergrund heraus. Er stellte sich 1975 in Helsinki vor, fiel aber nicht weiter auf.
Auf dem 25. Parteitag im nächsten Jahr wurde der kranke Breschnew nicht mehr einstimmig wiedergewählt; Tschernenko griff nach dem Posten eines der zehn ZK-Sekretäre, der eigentlichen Minister der UdSSR - sie beaufsichtigen die beinahe 80 Regierungsmitglieder, die den Weisungen der ZK-Sekretäre zu folgen haben. Breschnew verlieh seinem Tschernenko den Orden »Held der Sozialistischen Arbeit«, wofür sich Tschernenko - ungewöhnlich - in der »Prawda« bedankte.
Im nächsten Jahr avancierte er zum Kandidaten des Politbüros, im Jahr darauf zum Vollmitglied jener Dutzendschaft, die im Kreml die letzten Entscheidungen trifft.
Das war 1978, vor erst fünf Jahren. Noch führte im Politbüro bei Breschnews Abwesenheit ein anderer ZK-Sekretär den Vorsitz, Kulakow. Der konnte im Sommer jenes Jahres in der »Prawda« einen Artikel lesen, in dem sein Kollege Tschernenko groß herausgestellt wurde. Zwei Tage später starb Kulakow, 60, »unerwartet« laut Nachruf, an plötzlichem Herzstillstand laut ärztlichem Bulletin, von eigener Hand laut Gerüchten. Bei seiner Beisetzung fehlten Breschnew und Tschernenko.
Der Sibirier verfolgte jetzt offensichtlich einen Karriereplan: Im nächsten Jahr zeigte er sich wieder der großen Welt und redete sogar mit hochmögenden Leuten aus den USA, als er Breschnew nach Wien begleitete.
Sein Tischnachbar bei einem Diner im Schloß Belvedere war der US-Botschafter in Moskau, Malcolm Toon, der ihn in leidlichem Russisch in ein Gespräch über den Reisegrund zu ziehen suchte: das Salt-2-Abkommen und seine Auswirkungen auf das amerikanisch-sowjetische Verhältnis. Tschernenko aber redete über das Wetter.
Toon wollte nun, noch realitätsferner, dem Sibirier die Tücken des parlamentarischen Systems erläutern: wie man für das Salt-Abkommen die Zustimmung des US-Senats gewinnen könne. Tschernenko aber gab seinem Partner nicht zu erkennen, daß er wußte, wovon Toon sprach.
Der damalige US-Außenminister Vance berichtete, Tschernenko habe in Wien nichts von Bedeutung gesagt. Der Sicherheitsberater des Präsidenten Carter, Zbigniew Brzezinski, fand den Sowjetmenschen »jovial und beinahe liebenswürdig« im privaten Gespräch über periphere Themen. Wandte sich die Konversation bedeutsameren Dingen zu, ging Tschernenko nicht aus sich heraus.
Er hatte die höchste Sowjettugend voll verinnerlicht: zu schweigen (und nichts zu vergessen). Brzezinskis Eindruck: Tschernenko ist schlau und hat im Blick etwas Berechnendes.
Zu jener Zeit verbreitete sich in den osteuropäischen Hauptstädten die Ansicht, Breschnews Adlatus werde auch sein Nachfolger sein. Die Bulgaren verliehen ihm ihren höchsten Orden. Nur Deutschlands erfahrenster Ostexperte, Erich Honecker, witterte die Anwartschaft des KGB-Chefs Jurij Andropow, dem er 1979 (was die »Prawda« unterließ) zum 65. Geburtstag huldigte, neue Erfolge und, noch wichtiger, Gesundheit wünschte.
Honeckers »Neues Deutschland« veröffentlichte diesen Geheimtip - obwohl in sozialistischen Ländern die obersten Staatsschützer höchst ungern an der Parteispitze gesehen werden: Rußlands Berija
wurde erschossen, Chinas Hua Kuofeng und Polens Kania wurden schnell wieder abgesetzt.
Breschnew gratulierte 1981 seinem Tschernenko zum Geburtstag, dem 70., nach Art einer testamentarischen Nachfolgeregelung: »Du bringst mit dir Effizienz und Genauigkeit, verbunden mit schöpferischem und mutigem Herangehen an die Aufgaben, was immer die Partei verlangt.« Tschernenko wurde zum zweitenmal »Held der Sozialistischen Arbeit«.
Im Jahr darauf scheint Tschernenko begriffen zu haben, daß die Herrschaft seines dienstunfähigen Förderers zu Ende ging und er sich selbst am besten erst einmal mit dem nach vorn strebenden Andropow verbündete.
Dessen KGB ermittelte damals wegen Korruption in der Breschnew-Familie. In der KGB-Führung saßen zwei Breschnew-Vertraute, die beiden Andropow-Stellvertreter Zwigun - mit Breschnew verschwägert - und Tschebrikow, vorher Parteisekretär in Breschnews Heimat Dnjepropetrowsk. Als Zwigun plötzlich starb, stand unter seiner Todesanzeige nicht der Name Breschnews; aber außer Andropow, dem Militärminister Ustinow und dem Aufsteiger Gorbatschow hatte auch Tschernenko unterschrieben - eine neue Koalition an der Spitze der UdSSR zeichnete sich ab.
Zehn Monate später starb Breschnew, das Politbüro trat zur Wahl des Nachfolgers zusammen - da zeigte sich, daß die offenkundige Protektion Breschnews die Eifersucht der anderen Politbürokraten gegenüber dem Kronprinzen Tschernenko geweckt hatte: Armee-Sprecher Ustinow _(Auf dem Parteitag der KPF. )
schlug Andropow vor, und die Politbüro-Mehrheit stimmte ihm zu.
Tschernenko kann unter den elf Politbürokraten nur jene auf seiner Seite gehabt haben, die ihren hohen Rang in der Breschnew-Ära erworben hatten - Premier Tichonow, die Parteichefs der Ukraine und Kasachstans, Schtscherbizki und Kunajew, auch den Leningrader Romanow, an dessen Lebensgewohnheiten der strenge Andropow Anstoß nahm.
Mit Andropow und Ustinow marschierten damals wahrscheinlich die Männer, die schon vor Breschnew und lange vor Tschernenko ihren Weg nach oben gefunden hatten - Außenminister Gromyko, der Leiter der Hauptstadt-Parteiorganisation Grischin, Uraltgenosse Pelsche und der ZK-Sekretär Kirilenko.
Verlierer Tschernenko mochte sich damit trösten, daß der neue Generalsekretär nierenkrank war und schon seit langem im Prominenten-Hospital Kunzewo Wohnung genommen hatte. Tschernenko brauchte ihn nur auszusitzen.
Er selbst schlug Jurij Wladimirowitsch Andropow dem ZK am 12. November 1982 zur Bestätigung vor. Er sagte dabei Worte, die wie eine vorsichtige Warnung vor den Versuchungen der Alleinherrschaft klangen: _____« Alle Mitglieder des Politbüros sind der Ansicht, daß » _____« sich Jurij Wladimirowitsch den Leitungsstil Breschnews, » _____« seine Sorge um die Interessen des Volkes und sein » _____« Verhältnis zu den Kadern ... gut angeeignet hat. » _____« Jurij Wladimirowitsch sind parteiliche » _____« Bescheidenheit, Achtung der Meinung der anderen Genossen » _____« und - so kann man sagen - Leidenschaft für die kollektive » _____« Arbeit eigen. »
Gleich darauf schied Kirilenko »aus gesundheitlichen Gründen« aus dem höchsten Machtgremium aus; Pelsche, 84, starb. Schon auf der Politbüro-Sitzung am 18. November hatte Andropow keine Mehrheit mehr - nicht einmal eine Woche hatte er seine absolute Führungsposition genießen können. Ihm gelang noch, seinen KGB-Konfidenten Alijew ins Politbüro zu lotsen, eine Stimmenmehrheit gewann er dadurch nicht.
Als fünf Tage später der Oberste Sowjet zusammentrat, wurde Andropow nicht zum Staatspräsidenten gewählt, er kam nur in das 39köpfige Staatspräsidium als einfaches Mitglied, und unter seiner Berufungsurkunde fehlte auch noch die rechtlich erforderliche Unterschrift des Sekretärs des Präsidiums. Tschernenko aber übernahm den Vorsitz im Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten des Obersten Sowjet.
Am nächsten Tag unterbreitete Andropows Nachfolger an der Spitze des KGB, Fedortschuk, dem Obersten Sowjet eine Art Ermächtigungsgesetz für die Geheimpolizei: Die Grenzwachen des KGB sollten auf dem gesamten Territorium der UdSSR tätig werden dürfen - fahnden, festnehmen, Gefängnisse einrichten, Bürger in Haft halten.
Der Oberste Sowjet stimmte zu. Doch gleich darauf beschloß das Politbüro, Fedortschuk zur ordentlichen Polizei abzuschieben und dort Andropows unpopuläre Disziplin-Kampagne gegen Arbeitsbummelanten zu eskalieren. An die Spitze des KGB aber trat Wictor Tschebrikow, 60, der Vertrauensmann des verwaisten Breschnew-Clans und damit Tschernenkos. Jetzt waren es die Breschnewisten, die über jene außerordentlichen KGB-Vollmachten verfügten, welche Andropow seinem eigenen Sozius Fedortschuk zugedacht hatte.
Ob dieser Machtkampf von Tschernenko inspiriert und gelenkt wurde, ist umstritten. Jedenfalls wuchsen seine Aussichten, doch noch an die Spitze zu gelangen, mit der schnell verfallenden Gesundheit Andropows.
Die Allgemeine ZK-Abteilung hatte er an seinen langjährigen Stellvertreter Bogoljubow, 73, abgegeben - er konnte alle Kraft einsetzen, um endlich selbst Generalsekretär zu werden.
Andropow unternahm hastig seine einzige Auslandsreise als Parteichef, nach Prag - ohne Tschernenko. Dann suchte er die Öffentlichkeit, kam am 31. Januar in eine Moskauer Fabrik, redete bei laufenden TV-Kameras mit arbeitenden Menschen und erkundigte sich höflich nach ihrem Lohn.
Wenig später, nur zehn Wochen nach Amtsantritt, hielt ihn von solchen populistischen Ausflügen wohl der Umstand fern, daß (laut ärztlichem Bulletin nach seinem Tod) seine kranke Niere an ein Dialyse-Gerät angeschlossen werden mußte.
Vielleicht war aber auch etwas an Gerüchten, zu jenem Zeitpunkt habe ein Kreml-Wachtposten auf Andropow geschossen, vielleicht traf ein Attentat oder Unfall gleich mehrere Kremlführer: Seit dieser Zeit waren Stirnnarben auf den Photos Andropows wie Tschernenkos zu sehen, sogar der Politbüro-Benjamin Gorbatschow trat plötzlich mit einem Verband auf; ein im Fernsehen sichtbarer großer Fleck auf seinem Kopf, der als Muttermal erklärt wird, ist auf den offiziellen Photos retuschiert.
Am 15. März erschienen Andropow und Tschernenko auf einer ideologischen Konferenz der ZK-Sekretäre des Ostblocks, zwei Tage später fiel die Sitzung des Politbüros im Kreml aus, auf der nächsten Sitzung setzte sich Andropow wohl noch einmal durch: Einer aus seiner Seilschaft, Außenminister Gromyko, wurde zum Ersten Stellvertretenden Premierminister befördert, drei der Generäle Ustinows stiegen gleichzeitig zu Marschällen auf.
Im Juni wurde Andropow doch noch Staatschef. Tschernenko stellte sich im Juni dem ZK als Chef-Ideologe vor - mit einem Referat, in dem er seiner eigenen Theorie über die Widersprüche im Sozialismus widersprach.
Ob bei diesem ständigen personellen Hin und Her Sachzwänge, nach denen die große Sowjet-Union in schwerer Zeit zu führen ist, eine Rolle spielten, ist unbekannt. Die Antwort auf die Herausforderung durch die USA Ronald Reagans, die Zwangslage zwischen Weltgeltung und Rüstungsaufwand einerseits und den Konsumwünschen der Bürger andererseits, das schicksalhafte Dilemma zwischen wirtschaftlich gebotener Öffnung des Systems und politisch gefährlicher Liberalisierung - alle diese Existenzfragen spielten offenbar kaum eine Rolle bei den Nachfolgekämpfen am Ende der Ären Breschnew und Andropow, jedenfalls sind die Bruchlinien nicht auszumachen. Unter den verschiedenen Seilschaften lief ein Kampf um die
schiere Macht und nicht um die richtige Richtung.
Umstritten war allenfalls der fast systemwidrige polizeiliche Rigorismus, mit dem der asketische Andropow dem Volk und den Funktionären Arbeitsdisziplin beibringen wollte. Jenseits dieser unbequemen Neuerung aber ist allen Mitgliedern der führenden Gerontokratie das Bestreben gemeinsam, das in den Fugen krachende, archaisch wirtschaftende System zu halten und das Risiko von Innovationen zu meiden.
Sie können dabei auf den Konsens von Millionen Nutznießern der überkommenen Ordnung bauen: der Funktionäre von Partei und Staat, der Wirtschaftsbürokratie, der Betriebsaristokraten, der Mitglieder der bewaffneten Macht - Mobilität ist da nicht gefragt, und wie der Spitzengenosse heißt, weniger wichtig. Wie immer sich mithin der Mann aus Sibirien in seinem Regierungsstil von seinem Vorgänger unterscheiden mag, er steuert das moskowitische Reich nicht zu neuen Ufern.
Während Andropows langer Krankheit und Abwesenheit war auch Tschernenko für geraume Zeit nicht öffentlich aufgetreten. Daß er an einem Lungenemphysem leidet, verraten Kurzatmigkeit und ständiges Hüsteln. _(Emphysem (von griech. emphysan = ) _(hineinblasen): Überdehnung des ) _(Lungengewebes, wobei Lungenbläschen und ) _(-scheidewände irreversibel geschädigt ) _(werden; die Anreicherung des Blutes mit ) _(Sauerstoff ist eingeschränkt. )
Er darf keine Treppen steigen. Vorigen Juni orderte der Kreml bei der westdeutschen Firma Thyssen für 1,53 Millionen Mark zwei für den Lufttransport geeignete Gangways mit Rolltreppe. Liefertermin: Mai 1984.
Die sichtbar zu Ende gehende Ära Andropow war in Moskau auch die Stunde der Unsicherheit, verstärkt durch offizielle Desinformation: Andropows Helfer streuten - wie schon in den Monaten vor seiner Machtübernahme, als sie ihn zum liberalen Reformer hochjubelten - unter das russische Personal ausländischer Botschaften und Redaktionsvertretungen allerlei Geschichten, die postwendend das Sowjetbild des Westens beeinflußten.
Vor allem hieß es, Andropow sei gar nicht dienstunfähig und kehre bald zurück - was ZK-Propagandist Samjatin sogar öfters öffentlich behauptete. Um Andropows politische Stärke zu belegen, berichteten viele Moskau-Korrespondenten, zwei neu ins Politbüro aufgenommene Genossen, ein weiterer als Kandidat, seien erklärte Andropow-Anhänger.
In Wahrheit handelte es sich bei dem Landesfürsten Solomenzew und dem Provinzsekretär Worotnikow um gestandene Partei-Apparatschiks, die unter Breschnew, und das heißt: unter Tschernenko, hochgekommen waren.
Folge: Tschernenko hatte nun, im Dezember 1983, die Mehrheit, die er brauchte. Der neue Politbüro-Kandidat war Tschebrikow, der Breschnewist an der Spitze des KGB.
Drei Tage vor dem Andropow-Tod machte sich der nun wohl selbst irregeführte ZK-Propagandist Samjatin auf eine Reise nach Helsinki und fehlte in der Todesstunde. Andropows Sohn Igor aber konnte Stockholm, wo er die UdSSR auf der europäischen Abrüstungskonferenz KVAE vertrat, erst am Todestag seines Vaters verlassen - er fand ihn nicht mehr lebend.
In Andropows Todesstunde leistete sich das Regime noch ein Extra: Die westlichen Regierungen erfuhren sein Ende früher als das Sowjetvolk. Frankreichs Außenminister Cheysson konnte die Neuigkeit dem EG-Parlament in Straßburg mitteilen, ehe Moskau sie bekanntgab - nach 22 Stunden.
Soviel Zeit brauchte das Politbüro immer noch, um sich einig zu werden. Nur vermuten läßt sich, daß die beiden alten Fuhrleute der Sowjetpolitik, Ustinow und Gromyko, beide noch von Stalin für höhere Weihen ausgewählt, dem Emporkömmling aus Sibirien einigen Widerstand leisteten; daß die jungen ZK-Sekretäre Romanow und Gorbatschow dem neuen Generalsekretär nur für den Preis einer Beteiligung an einer Art kollektiver Führung ihre Stimme gaben. Das Schlußwort vor dem ZK sprach »im Namen des Politbüros« Michail Gorbatschow, 52: Die »Kontinuität der Führung« sei geregelt.
Konstantin Tschernenko muß zu Konzessionen bereit gewesen sein, von der Wirtschaft, vom Militär, gar von der Weltpolitik versteht er nichts - nur eines weiß er: wie man an die Macht kommt.
Er hatte gesiegt und mit ihm der machtbewußte, weltfremde, ruhebedürftige Parteiapparat der KPdSU. Die Funktionäre hatten ihren zweiten Breschnew - der freilich ebenso müde und behindert wirkte wie am Ende sein Mäzen, genauso hilflos wie jener, als er auf der Kreml-Tribüne seinen Nachbarn Gromyko fragte, ob er seine Mütze ziehen müsse (Antwort: »Nein"), und genauso mürrisch wie einst Breschnew zu seinen Nachbarn schielte, ob es wirklich nötig sei, die schlaffe Hand zum Gruß noch hochzuhalten.
Es war ein Triumph, so der Pariser »Canard enchaine«, »des Marxismus-Senilismus«, oder, wie es ernsthafter »Le Monde« nannte, »die Rache des Apparats« an der Variante des Herrschaftsstils, die sich Andropow geleistet hatte.
Wenn denn die Geschichte sich wiederholt - laut Karl Marx tut sie das nur als Farce - und der Sowjet-Union zum Vergnügen ihrer Funktionäre, aber auch zur Beruhigung des Westens, eine neue Breschnew-Ära bevorsteht, schickt sich vielleicht längst schon ein noch kaum bekannter Funktionär an, den neuen Generalsekretär Tschernenko zu ersetzen - ein strengerer Bolschewik. _(In Wien mit Gromyko, Botschafter ) _(Dobrynin, Ustinow beim Abschluß des ) _(Salt-2-Vertrages. )
Protestantische Kirche.Auf dem Parteitag der KPF.Emphysem (von griech. emphysan = hineinblasen): Überdehnung desLungengewebes, wobei Lungenbläschen und -scheidewände irreversibelgeschädigt werden; die Anreicherung des Blutes mit Sauerstoff isteingeschränkt.In Wien mit Gromyko, Botschafter Dobrynin, Ustinow beim Abschluß desSalt-2-Vertrages.