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Artikel 45 / 89

»Tschiang Tsching, du bist so grausam«

Todesurteil für die Witwe Mao Tse-tungs - Chinas Vergangenheit wird bewältigt Über Frau Mao und ihre drei Genossen Tschang, Wang und Jao saßen die Sieger im Pekinger Machtkampf, Opfer der Kulturrevolution, zu Gericht. Aus den dramatischen Verhandlungen übermittelte das chinesische Fernsehen nur kurze Ausschnitte. Der SPIEGEL erfuhr Details der Prozeßführung, an deren Ende schwere Zuchthausstrafen für zwei der vier ergingen, für Tschiang Tsching und Mitarbeiter Tschang aber die Todesstrafe - mit zweijährigem Aufschub für den Fall einer späten Reue. Sie sofort zu erschießen wagte die Regierung nicht.
aus DER SPIEGEL 6/1981

Eine große Schauspielerin war Tschiang Tsching, die einst in Ibsens »Nora« und in Kriegsfilmen auftrat, nie gewesen; dies jedoch war eine große Vorstellung: Sie spielte glänzend, nämlich sich selbst, so wie sie gewesen war.

Für ihren Prozeß hatte sie zum ersten Mal eine TV-Show in Farbe mit einem Milliarden-Publikum. Die Ausschnitte des Pekinger Fernsehens, in denen ihr Antlitz -- anders als Übertragungen von Massendemonstrationen in der Kulturrevolution oder von Staatsempfängen -- bildschirmfüllend in voller Aktion zu sehen war, gelangten über Satellit in die Wohnstuben des ganzen Erdballs.

Und die Darstellerin war auch bemüht, bei ihrem mutmaßlich letzten Auftritt gut dazustehen. »Hast du mich im Fernsehen erlebt?«, soll sie eine ihrer Bewacherinnen gefragt haben. »Ich war in Hochform, oder? Ich möchte den Eindruck machen, voll in Form zu sein.«

Sie war es. Tschiang Tsching, 67, Witwe des großen Mao Tse-tung, hatte ihre Gesichtszüge völlig unter Kontrolle. Für ihr Publikum von Los Angeles bis Osaka, Paris bis Lagos und in Schanghai brachte sie nur mit Lippenbewegungen tiefen Haß oder die Arroganz einer Herrscherin zum Ausdruck.

Die Verhandlung im Großen Saal des Obersten Gerichts, das auf dem Gelände des Ministeriums für öffentliche Sicherheit am Rande des alten Pekinger Legations-Viertels liegt, fand vor 880 ausgewählten, täglich wechselnden Zuschauern statt -- dennoch kein Schauprozeß nach Stalin-Art, sondern Bewältigung einer üblen Vergangenheit, wie das in noch keinem kommunistischen Staat jemals versucht worden ist, oft aber fällig war.

Es war ein historischer, atemberaubender Prozeß, der da im fernen Peking und doch im Rampenlicht der Welt ablief, und angeklagt war eine große, wenn auch nicht durchweg sympathische Frau.

Tschiang Tsching hatte das Reich 1966 in die »Große Proletarische Kulturrevolution« geführt, das heißt: Rotgardisten gegen die Staatspartei aufgeboten (deren Funktionäre mit »Schandhüten« durch die Straßen geprügelt wurden), gegen jegliche Autorität und alle althergebrachten Bräuche sowie westorientierten Sitten -- für den »Großen Steuermann« Mao.

In den dreißiger Jahren war sie Schauspielerin in Schanghai gewesen, hatte 1939 den Partisanen Mao Tsetung geheiratet, gegen den Willen der anderen Führungsgenossen. Auf Parteibeschluß durfte sie in der Öffentlichkeit nicht an Maos Seite in Erscheinung treten, bis zu jener Kulturrevolution, dem letzten imposanten Kraftakt, mit dem Mao seine kommunistischen Träume verwirklichen wollte.

100 Millionen Chinesen wurden damals verfolgt und verurteilt, so erklärte jüngst der heutige Partei-Generalsekretär Hu Jao-bang, über 30 000 kamen laut »Beijing Rundschau« ums Leben. Schuld daran soll weniger der kranke, träumende Greis Mao gewesen sein als seine Frau mit ihren nächsten Verbündeten Tschang, Wang und Jao, insgesamt »die Viererbande«.

Vier Wochen nach Maos Tod 1976 wurden die Vier verhaftet, vier Jahre später lief der Prozeß ab, vorletzten Sonntag fiel das Urteil: Tod mit zweijähriger Bewährungsfrist für Tschiang Tsching und Mitarbeiter Tschang Tschung-tschiao, hohe Haftstrafen für Wang Hung-wen und Jao Wen-jüan.

Nach dem totalen Kurswechsel Chinas unter Maos Nachfolgern, die das S.115 Land von der Utopie in die Realität zurückführten, sollte das Pekinger Verfahren die noch vorhandenen Anhänger der Vier abschrecken, das Volk erziehen: Am Abend eines jeden Verhandlungstages brachte das Staatsfernsehen sechs Minuten lang Ausschnitte aus einem fremden Ritual, denn erst seit einem Jahr gibt es in China eine Strafprozeßordnung.

So mußten denn Schilder vor den schwarz gekleideten Richtern und den Staatsanwälten in grau (hinter einem mit rotem Filz bespannten langen Tisch), vor den Angeklagten (hinter einem Holzgitter) und dem Zeugenstand dem Zuschauer erklären, wer dort jeweils agierte.

Landesweit sichtbar wurde gerichtet -- aber aufgrund von Recht, das erst lange nach Begehung der Delikte in Kraft trat; über Angeklagte, die keine eigenen Zeugen benennen und keine Fragen an die Belastungszeugen richten konnten, und mit vom Staat angestellten Verteidigern. Tschiang Tsching hatte auf Anwälte verzichtet.

Über die Angeklagten saßen zudem ihre früheren Opfer zu Gericht: Der Name des Chefrichters und des Chef-Staatsanwalts standen in der Anklageschrift unter den vielen Namen jener, die von Frau Mao und ihren Mitarbeitern einst verfolgt worden waren.

Millionen Chinesen sahen dann etwas Unerhörtes: Die Angeklagte brach unter der Last der ihr vorgehaltenen Verbrechen nicht etwa zusammen -sie griff vielmehr an. Den meisten Vorwürfen widersprach sie nicht mal; sie pries ihre nun kriminell genannten Aktivitäten als »vernünftig«, »gesetzmäßig« oder mindestens von den Zeitumständen her gerechtfertigt.

Sie beschimpfte sogar das Gericht, was in China, wo traditionell Zerknirschtheit und Selbstkritik eines Angeklagten honoriert werden, als das Dümmste gilt, was ein Beschuldigter tun kann. Tschiang Tsching aber kannte keinerlei Konzessionen; sie hielt fest an den großen Ideen und Taten des toten Mao Tse-tung. Sie mußte sich darüber im klaren sein, daß sie etwas Besseres als den Tod kaum erwarten konnte und das Urteil schon feststand.

Sie fand trotz langer und sicherlich schwerer Haft immer noch die Kraft zum Affront: Als ein Staatsanwalt in einer Verhandlungspause die Angeklagte in ihrer Zelle besuchen wollte, verweigerte sie ihm den Zutritt. Er wollte dennoch hinein, da zog sich Tschiang Tsching nackt aus.

Der Staatsanwalt wartete draußen und ließ die Zellenheizung abstellen, bis sich die Frierende wieder angezogen hatte.

Ihre Bühne, den Gerichtssaal, hatte Tschiang Tsching am 20. November um drei Uhr nachmittags erhobenen Kopfes und mit einem geringschätzigen Lächeln betreten, mit ihrem vollen Haar -- kulturrevolutionär kurzgeschnitten -- und voller Selbstsicherheit: Seht, ich bin ungebrochen, in bester Kondition und bereit, gegen meine Ankläger zurückzuschlagen.

Was Tschiang Tsching nach Verlesung der Anklage sagte, übertrug das chinesische Fernsehen nicht: »Ihr laßt mich die Schulden des Vorsitzenden Mao bezahlen. Das ehrt mich sehr.«

Das Werk Maos war gewiß mitangeklagt -- an die hehre Gestalt des großen Vorsitzenden aber trauten sich die Nachfolger noch nicht heran. Deshalb wohl verbanden sie das Verfahren gegen die Viererbande mit dem Prozeß gegen jene Militärs, die 1971 angeblich versucht hatten, mit dem Wehrminister Lin Piao gegen Mao zu putschen: Mao sollte im Tschiang-Tsching-Prozeß als Opfer erscheinen und nicht etwa als Mitangeklagter.

Vor Gericht erklärten sich vier der fünf Lin-Piao-Militärs des Mordversuchs an Mao und des Staatsstreichs, der nie stattgefunden hat, für schuldig. Nur einer der Soldaten blieb uneinsichtig wie Tschiang Tsching: Lin Piaos Generalstabschef Huang, dem vor allem Säuberungen im Wehrbezirk Kuangtung angelastet wurden (85 Tote). Er gestand nichts.

Dagegen gab selbst das »Sprachrohr« (Anklage) der Vier, Maos mutmaßlicher Schwiegersohn Jao Wenjüan, 49, alle Taten, derer er beschuldigt wurde, zu und wagte nur einzuwenden, es habe sich keineswegs um kriminelle Delikte, sondern um »politische Fehler« gehandelt.

Wenn er sich in seinen Aussagen auf Tschiang Tsching bezog, nannte er sie gelegentlich »Genossin«. Die Richter ließen das durchgehen, sie waren mit seiner Rolle offensichtlich zufrieden.

Noch besser im Sinne der Veranstalter führte sich der Jüngste der Viererbande auf, Wang Hung-wen, 45, ehemaliger Textilarbeiter und V-Mann der Staatssicherheit, der den Titel eines Stellvertreters von Mao Tse-tung errang. Er spielte den Verräter in der Gruppe, bejahte alle Fragen, suchte nichts zu erklären und stufte sich selbst als einen Konterrevolutionär ein, als »Mitglied der Viererbande": »Ich hoffe, das Gericht wird mir eine Chance S.116 geben, zu bereuen und mich selbst zu reformieren.«

Er wurde auch nach einem Ereignis gefragt, das Chinas derzeitige Führung um Mao-Feind Teng Hsiao-ping ganz besonders beschäftigt: Schon zwei Jahre vor seinem Tod soll Mao den in der Kulturrevolution gestürzten Teng zum Ersten Vizepremier vorgeschlagen, mithin den Nachfolger des todkranken Ministerpräsidenten Tschou En-lai designiert haben.

Daraufhin schickten die Vier angeblich ihren Kumpanen Wang mit einer Beschwerde-Botschaft zu Mao, der in der Provinzhauptstadt Tschangscha kurte: Tschou intrigiere vom Krankenhaus aus mit Teng, sie träfen »Vorbereitungen für eine Machtübernahme«, so die Anklageschrift. Auf diese Weise sollte verhindert werden, daß Teng Hsiao-ping Erster Stellvertretender Ministerpräsident wurde.

Als der Gerichtsvorsitzende fragte, warum er zu Mao nach Tschangscha geflogen sei, antwortete Wang: »Es war wirklich eine konspirative Tätigkeit.« Auf die Frage, wessen Idee die Reise gewesen sei, kam es prompt: »Ihre Idee, Tschiang Tschings Idee.«

Dabei bemühte er sich krampfhaft, die Frau, die ihn aus der Schanghaier Textilfabrik an die Spitze des Reiches befördert hatte, nicht anzusehen.

Tschiang Tsching bewegte kaum ihren Kopf zur Seite, in Richtung Wang. Aus ihren Augen schoß Verachtung.

Von anderem Kaliber war da Wangs Genosse Tschang Tschun-tschiao, 63, einst Journalist, Bürgermeister von Schanghai, Vizepremier -- laut Prozeßberichten der Pekinger Presse »ein stumpfsinniges Huhn aus Holz«.

Ihm wurde die Verfolgung von Partei- und Staatsführern wie Premier Tschou, Staatspräsident Liu, Generalsekretär Teng vorgeworfen. Gegen Liu vorzugehen, habe Tschang auf einer Versammlung im Dezember 1966 angeordnet, sagte der aus der Haft vorgeführte Rotgardistenführer Kuai Tai-fu aus. Per Tonband wurde ein Geständnis Wang Hung-wens vorgespielt.

Tschang soll auch im Dezember 1966 in einem blutigen Gefecht die Massenorganisation »Rote Arbeiterabteilung« unterdrückt und im folgenden Mai in Tsinan (Provinz Schantung) 388 Personen illegal verhaftet haben.

Von Beginn bis Ende der Verhandlungen sagte Tschang zu allen Vorwürfen nur zwei Worte, nämlich als ihm die Anklage vorgehalten wurde: »Ich widerspreche.«

Er nahm die Anklageschrift nicht entgegen, er las sie nicht, er zeigte während des ganzen Prozesses keinerlei Emotion, während seiner Befragung nicht und auch nicht bei Zeugenaussagen -- Tschang schwieg. Manchmal schien er gelangweilt, manchmal müde. Nicht einmal auf die Frage nach seinem Namen antwortete er.

Die Hauptangeklagte Tschiang Tsching aber bat nicht um Gnade, suchte sich nicht herauszureden, schwieg auch nicht, sie kämpfte. Wenn jemals Feinde und Opfer ihrer Politik oder ihres persönlichen Hasses auch Respekt vor ihr hatten, dann in diesem letzten Gefecht.

Tschiang Tsching focht allein. Die Viererbande, dies ein karger Triumph ihrer Gegner, war vor Gericht auseinandergebrochen -- die Chefin stand.

Am ersten Verhandlungstag ihres Falls, am 26. November, wird auch der Ehefrau Maos vorgehalten, was kaum ein strafbares Delikt ist, aber Chinas Herrscher von heute, Teng Hsiao-ping, signifikant als das Opfer von damals herausstellt: die Beschwerde Wangs bei Mao in Tschangscha.

Belastungszeugen: Wang Hung-wen, Maos Dolmetscherinnen (sie verstanden die Zeichensprache des Gelähmten) Tang Wen-scheng und Wang Haijung, seine Nichte. Beide wurden 1976 selbst verhaftet und befinden sich derzeit »in der Umerziehung«. Dazu werden Telephonmitschriften von Maos letzter Privatsekretärin Tschang Jüfeng herangezogen, die angeblich auch Maos letzte Geliebte war. S.117

3. Dezember. Tschiang Tsching wird die Verfolgung des ehemaligen Staatschefs Liu Schao-tschi und seiner Ehefrau Wang Kuang-mei vorgehalten. Rotgardisten hatten Frau Wang 1967 gezwungen, ein ordinäres Schlitzkleid anzuziehen, und sie so -- für ein Flugblatt -- photographiert.

»us der Anklageschrift: Tschiang Tsching, (der Geheimpolizeichef)« » Kang Scheng und (der mitangeklagte Sekretär Maos) Tschen » » Po-ta beschlossen im Juli 1967, ohne dazu ermächtigt zu sein, » » daß Liu Schao-tschi kritisiert und bekämpft werden darf ... » » Lius Wohnung wurde durchsucht, und es kam zu körperlichen » » Angriffen gegen Liu und Wang Kuang-mei. Aufgehetzt von Kang » » Scheng und anderen, wurde (das Funktionärsviertel) » » Tschungnanhai umzingelt und versucht, in das Gebäude des » » Staatsrats einzudringen. »

Ob diese Aktion wirklich von ihr beschlossen worden sei, möchte einer der Richter von Tschiang Tsching wissen. »Ich erinnere mich nicht, wer unterschrieben hat«, antwortet die Angeklagte. »Sie gaben mir ein Dokument, und ich machte darauf meinen Kringel. So geschah es, und es war legal.«

Das Gericht spielt ein Tonband von einer Tschiang-Tsching-Rede aus »em Jahre 1968 vor. Man hört: Ich kann euch jetzt sagen, daß Liu » » ein Konterrevolutionär ist, ein heimlicher Verräter, ein » » Renegat und feindlicher Agent. Er verdient den Tod durch » » tausend Schnitte, durch zehntausend Schnitte. »

Ob dies ihre Stimme sei, fragt der Ankläger. »Ich erkenne meine Stimme. aber die Worte kann ich nicht klar hören.« Ihr wird ein Transskript ihrer Rede vorgehalten. Ob das ihre Worte seien? Tschiang Tsching: »Ich habe nichts zu sagen.«

Der Koch des Staatspräsidenten Liu tritt auf. Er wurde im Juni 1967 ins Gefängnis gesteckt -- auf sechs Jahre: »Sie sagten mir niemals, unter welcher Anschuldigung ich einsaß und praktisch jeden Tag hungern mußte. Ich bekam jeden Tag zwei Schalen Wasser.« Er sollte bekennen, daß von ihm bereitete gute Essen habe Liu korrumpiert.

Tschiang Tsching spricht von »Arbeitsteilung« in der Verantwortung für den Fall Liu, oder: »Der Vorsitzende Mao bat mich, das so zu machen.« In der Tat: Mao hatte am 1. Juni 1967 die erste Wandzeitung gegen Liu eigenhändig getuscht.

5. Dezember. Tschiang Tsching wehrt sich zum erstenmal: Das Vorgehen gegen Liu sei die offizielle Politik der Partei gewesen, seine öffentliche Vernehmung vor Rotgardistenmassen, die Durchsuchung seines Hauses und Beschlagnahme von 188 Notizbüchern nennt sie »vernünftige und gesetzmäßige« Maßregeln, die mithin kein kriminelles Verhalten darstellen könnten.

Beweis: Ein 16-Punkte-Beschluß des ZK von 1966, mit dem die Beseitigung der »Vier alten Dinge« (alte Ideen, alte Kultur, alte Sitten, alte Gebräuche) gebilligt worden war. Die Angeklagte: S.118 »Die Beseitigung der vier alten Dinge führt notwendig zu Hausdurchsuchungen und war eine revolutionäre Handlung.«

Sie bestreitet also gar nicht den Massensturm der Rotgardisten auf Privatwohnungen in ganz China, die Zerstörung westlicher Wohlstandssymbole vom Lippenstift bis zum Klavier, das Plündern von Kunstsammlungen und Verbrennen von Bibliotheken. Sie verweist nur darauf, daß der Parteibeschluß, an dem Mao und Tschou beteiligt waren, so ausgelegt werden mußte.

Doch in dem 16-Punkte-Beschluß des ZK stand auch ein Gewaltverbot, und so kommt an diesem Tag auch zur Sprache, was dagegen verstieß. Aus der Haft läßt das Gericht einen Polizisten vorführen, der dabei war, als auf Tschiang Tschings Geheiß zwei Professoren und ein Fabrikdirektor verhaftet und gefoltert wurden, weil man von ihnen Belastungsmaterial gegen den großen Feind Liu bekommen wollte. Alle drei starben dabei.

Von dem 21 Tage währenden Verhör des einen Opfers, des Professors Tschang von der Provinzhochschule Hopei, kann das Gericht sogar einige der 80 Tonbänder vorspielen, die während der Folterungen aufgenommen worden waren.

Der sterbende Professor sollte damals bekunden, daß Lius in Amerika geborene, nach China übergesiedelte Frau Wang Kuang-mei eine Spionin der Vereinigten Staaten sei. Frau Wang, die Mao einmal als Englisch-Dolmetscherin gedient hatte und während der Kulturrevolution ins Arbeitslager eingeliefert wurde, aus dem sie erst 1979 freikam, sitzt als Zuhörerin im Gerichtssaal.

Der Zeuge sagt aus, Tschiang Tsching selbst habe angeordnet, »aus Tschang herauszuquetschen, was wir brauchen, ehe er stirbt«.

Das Tonband läuft. Stimme: »Kennst du Wang Kuang-mei?« Man hört nur ein Stöhnen. Die Frage wird wiederholt. Ein ganz schwaches »Ja« ist zu vernehmen, dann Schreie und wieder Stöhnen.

Dem Gericht wird mitgeteilt, der gefolterte Professor habe Leberkrebs gehabt. Er war bewußtlos, kam zu sich und wollte sich aufrichten. Die Vernehmer drückten ihn nieder und hielten ihn fest, während sie ihre Fragen stellten. Zwei Stunden später starb er.

9. Dezember. Jetzt kann erstmals eine Verbindung zwischen Lin Piaos Leuten -- den Mao-Verbündeten vom Anfang der Kulturrevolution -- und Tschiang Tsching hergestellt werden: Sie soll zusammen mit Lin Piaos Ehefrau und zwei Angeklagten aus dem Militär-Prozeß schon im Oktober 1966 Hausdurchsuchungen bei fünf Künstlern in Schanghai veranlaßt haben, zwei starben dabei.

Es waren Freunde und Kollegen aus Tschiang Tschings Schanghaier Zeit als Bühnendarstellerin und Filmstar in den dreißiger Jahren. Die Frau des Filmdirektors, der damals das Starlet gefördert hatte, sagt nun aus, wie Spezialagenten nach kompromittierenden Briefen und Photos aus der Vergangenheit Tschiang Tschings suchten, um die Belege aus dem Verkehr zu ziehen. Der Ehemann der Zeugin wurde verhaftet und starb im Gefängnis.

Tschiang Tsching blickt mit der Miene ehrlicher Überraschung die Zeugin an: »Davon habe ich nichts gewußt.«

Die Zeugin: »Ich möchte nicht mit dir sprechen.«

Tschiang Tsching, ruhig: »Ich gebe dir die Erlaubnis dazu.«

Ein Richter: »Ich habe hier die Erlaubnis zu geben.«

Die Zeugin schreit: »Nur weil wir wissen, was für eine du in den Dreißigern gewesen bist, hast du meine Familie zerbrochen und meinen Mann getötet.« Am Ende ihrer Aussage sagt die Zeugin, selbst Schauspielerin: »Tschiang Tsching, du bist so grausam.«

Dann wendet sie sich an die Richter: »Ich fordere den Gerichtshof dringend auf, Tschiang Tsching und Tschang Tschung-tschiao, die für all das verantwortlich sind, streng zu bestrafen.«

12. Dezember. Verhandlungsgegenstand: Verfolgung von 88 der 139 Mitglieder und Kandidaten des letzten vor der Kulturrevolution gebildeten ZK auf Grund von Dossiers des Staatssicherheitsdienstes. Chef Kang Scheng hatte selbst eine Tabelle zusammengestellt und die betroffenen ZK-Genossen bewertet: »Geheimagent«, »Renegat«, »Element mit unerlaubten Beziehungen zum Ausland« oder »parteifeindliches Element« stand jeweils hinter dem Namen.

Kang Scheng schrieb dazu einen Zettel: »Anbei die gewünschte Namensliste« und steckte alles in einen Umschlag, den er am 21. Juli 1968 Frau Mao schickte. Auf dem Umschlag stand: »Wichtig! Sofort an Genossin Tschiang Tsching weiterleiten, nur von ihr persönlich zu öffnen!«

Unter den Betroffenen waren allein aus der Pekinger Stadtverwaltung der Bürgermeister Peng Tschen -- der jetzt als Zuständiger für die neue Rechtsordnung der Volksrepublik China den Prozeß gegen Tschiang Tsching & Co. organisierte -- und sechs seiner Stellvertreter, von denen vier starben, darunter Vize-Bürgermeister Wu Han.

Ein Mitarbeiter Wu Hans, der Schriftsteller Liao Mo-scha aus Schanghai, beschreibt seine achtjährige Haft: »Sie haben mir alle Zähne ausgeschlagen.« Da greift Tschiang Tsching ein: »Hör mit dieser Komödie auf. Was du sagst, ist unwahr. Es war schon richtig, dich zu verhaften.«

Liao: »Halt den Mund, du hast nicht das Recht zu reden.«

Tschiang Tsching: »Ich habe das Recht, mich selbst zu verteidigen.«

Ein Richter: »Die Angeklagte Tschiang Tsching soll still sein.«

Tschiang Tsching: »Und was passiert, wenn ich weiterspreche?«

Richter: »Dann verletzen Sie das Gesetz durch Mißachtung des Gerichts.« Tschiang Tsching lacht: »Sie sind es doch, die das Gesetz verletzen. Das ist lächerlich. Sie bringen S.119 hier als Zeugen diese Verräter, Spione und schlechten Elemente. Das macht mir Spaß.«

Richter: »Mißachtung des Gerichts. Führt sie ab!« Drei Polizistinnen zerren und schieben die Ehefrau des großen Mao Tse-tung hinaus. Tschiang Tsching ruft: »Ihr seid die Konterrevolutionäre! Alles, was ich getan habe, geschah auf Maos und Tschous Befehl!« Eine Polizistin faßt sie hart an. Tschiang Tsching schlägt zurück. Sie wird hochgehoben, ihre Füße treten in die Luft.

13. Dezember. Wieder muß sich die Angeklagte die Verfolgung von Funktionären vorhalten lassen, speziell das Vorgehen gegen den früheren Minister für Bergbau. Tschiang Tsching wird wütend. Sie nennt einen der Staatsanwälte einen »Winkeladvokaten«. Doch die Staatsanwaltschaft hat die besseren Argumente. Mit einem Dia-Projektor führt sie ein Photo vom Körper des Bergbau-Ministers vor: mit 30 Wunden und gebrochenem Schädel, verursacht durch einen Eisenhut von 30 Kilo, den ihm die Kulturrevolutionäre aufs Haupt gepreßt hatten. Tschiang Tsching wirft dem Gericht vor: »Ihr versucht, mich zu vernichten, weil ihr Mao nicht vernichten könnt« -- Generalthema des Prozesses. Und den Staatsanwälten, im vertrauten Vokabular: »Ihr seid Faschisten und Agenten der Kuomintang«, der nationalistischen Partei, die von Maos Truppen geschlagen und 1949 auf die Insel Taiwan zurückgedrängt wurde.

Zehn Tage lang wird nicht gegen Tschiang Tsching verhandelt, angesagte Termine werden abgesetzt. Die Veranstalter haben begriffen, daß die Strategie der Angeklagten nicht berechenbar ist. Vor allem ist der Versuch mißlungen, Mao aus dem Prozeß herauszuhalten. Die Partei muß ein Wort zur Verantwortlichkeit des verblichenen Vorsitzenden sagen. Am 22. Dezember erklärt die »Volkszeitung": Genosse Mao beging in seinen späten Lebensjahren » » Fehler, besonders in der Großen Proletarischen » » Kulturrevolution, die er persönlich in Gang setzte und » » führte. Diese Fehler brachten der Partei und dem Volk » » schweres Unglück. »

Das aber seien politische Fehler, keine kriminellen Handlungen gewesen. Der Unterschied liege in den angewandten Methoden und verfolgten Zielen. Das hatte auch der Angeklagte Jao Wen-jüan für sich in Anspruch genommen. Wie würde Frau Mao weiter plädieren?

In ihrer Wartezelle hat sie sich ständig Notizen gemacht und auf die Seiten ihrer Kopie der Anklageschrift Bemerkungen gekritzelt. Da -- so wird in Peking erzählt -- gelingt es, während sie einmal zur Toilette geht, die Aufzeichnungen rasch zu photographieren.

Das Gericht kann ein Drehbuch für den Fortgang des Prozesses entwerfen, es finden angeblich sogar insgeheim Scheinsitzungen statt, in denen eine Schauspielerin den Part der Angeklagten übernimmt und die echten Richter und Staatsanwälte einüben, wie auf Tschiang Tschings weitere Argumente und Gegenangriffe zu antworten ist.

Doch zur nächsten Verhandlung am 23. Dezember kommt die Angeklagte ohne jede Gedankenstütze -- und ganz anders als erwartet. Die für den Abend angekündigte Fernsehübertragung muß abgesetzt werden. Tschiang Tsching spricht fast zwei Stunden. Sie greift Richter und Staatsanwälte als »Konterrevolutionäre« an, beruft sich abermals auf den Willen ihres Ehemannes Mao und erklärt sich bereit zu sterben (SPIEGEL 4/1981).

Damit hat sie den einzigen, der ihr noch hätte helfen können, desavouiert -- den Parteichef Hua Kuo-feng, selbst in der Kulturrevolution hochgekommen. Er hatte erklärt: »Wir werden sie nicht zum Tode verurteilen.« Er hatte zu ihrem Schutz eine alte Mao-Rede veröffentlicht, wonach zwar »Konterrevolutionäre«, nicht »ber Parteigenossen hingerichtet werden dürften. Mao: Die » » Geschichte hat bewiesen, daß ein Kopf, wenn er gefallen ist, » » nicht wieder aufgesetzt werden kann. Er kann auch nicht wie » » Schnittlauch wieder nachwachsen. Wenn ein Kopf abgeschnitten » » wurde, kann man den Fehler nicht mehr korrigieren, selbst » » wenn man dies wünscht. »

Tschiang Tsching arbeitete ihrem Todfeind Teng Hsiao-ping in die Hände: Am liebsten hätte der gewiß Mao und den ganzen Maoismus auf der Anklagebank gesehen.

In der »Volkszeitung« forderte der Sohn des von Rotgardisten einst mißhandelten Außenministers Marschall Tschen Ji allerstrengste Bestrafung »nicht nur im Interesse der Opfer und der Gerechtigkeit, sondern auch, um ein Wiederauftreten Tschiang Tschings und ihrer Anhänger, die Leid über das Volk bringen, zu verhindern«.

60 »Mitangeklagte« wurden bereits in der chinesischen Presse erwähnt, allein in Schanghai sitzen 600 Maoisten im Gefängnis. Eine Massensäuberung aber scheint unmöglich: Ungefähr die Hälfte der 38 Millionen Kommunisten Chinas ist der Partei während der Kulturrevolution beigetreten, als Mitläufer der Viererbande.

Sie mag beruhigen, daß Führer Wang mit lebenslangem Gefängnis und der ehemalige Chef-Propagandist Jao sogar nur mit 20 Jahren Haft bestraft wurden. Maos Sekretär Tschen Po-ta S.120 erhielt 18 Jahre; wird ihm die zehnjährige Untersuchungshaft angerechnet, ist er mit 84 wieder frei.

Daß die Todesstrafe für Frau Mao und Freund Tschang Tschun-tschiao auf zwei Jahre ausgesetzt wird, war erwartet worden (SPIEGEL 44/1980).

Nach Chinas neuem Strafgesetz ist das (mit Umwandlung in Haft auf Lebenszeit) möglich, wenn sich der Angeklagte vor Gericht einsichtig zeigte, anders als Tschiang Tsching, und Aussicht auf seine Reue besteht -- kaum bei Tschiang Tsching. Nach der Urteilsverkündung rief sie ungerührt: »Nieder mit den von Teng Hsiao-ping angeführten Revisionisten! Revolution ist gerechtfertigt! Nieder mit denen, die das Land den Massen geraubt haben!«

Dennoch wurde sie nicht schwerer bestraft als beispielsweise der Student Tian Hui, 21, der auf einen Busfahrer eingestochen hatte; das Opfer blieb am Leben. Sie kam besser davon als jeder einfache Totschläger in der Volksrepublik China, als jener Mörder auch, dessen Hinrichtung durch Genickschuß das chinesische Fernsehen 1979 übertragen hatte.

Tschiang Tschings aufgeschobener Tod läßt darauf schließen, daß Chinas derzeit Regierende noch zwei Jahre brauchen -- nicht nur für einen endgültigen Entscheid, sondern auch, um sich darüber einig zu werden, wie weit der neue Kurs gehen, was vom Maoismus eigentlich übrigbleiben soll.

Im Land herrscht Unzufriedenheit, weil es mit der Modernisierung nicht vorangeht, der Lebensstandard nicht rasch steigt; hier und da streiken Arbeiter gegen Preiserhöhungen. Die Zeitungen drucken wieder Mao-Losungen -- das Bindemittel Volksvater wird noch gebraucht, da kann man seine Witwe nicht erschießen.

Aktive Tschiang-Tsching-Anhänger rühren sich im Untergrund. »Zur Zeit entdecken wir an manchen Orten eine Handvoll Leute, die sehen möchten, wie unser Land ins Chaos stürzt«, meldete die Pekinger Zeitschrift »Debatte«, »sie wenden die Methoden der Kulturrevolution an, um Unruhe zu stiften, sie bilden illegale Organisationen, stellen geheime Schriften her, verbreiten politische Gerüchte.«

Vor einem Vierteljahr explodierte auf dem Pekinger Bahnhof eine Bombe (neun Tote); während des Prozesses fand man in einem Pekinger Kaufhaus eine Höllenmaschine. Als illegales Flugblatt läuft in der chinesischen Hauptstadt ein anonymer Brief an das Politbüro um: »Wenn ihr Tschiang Tsching tötet, wird es in ganz China Bomben geben!«

Wang Kuang-mei, die Liu-Witwe, richtete an die »Volkszeitung« vorige Woche einen Brief: »Manche Leute träumen von einer neuen Großen Kulturrevolution und von einem Comeback. Vor der Asche des Genossen Liu Schao-tschi drücke ich meine einzige Hoffnung aus -- daß einer solchen historischen Tragödie wie der Großen Kulturrevolution eine Wiederholung nicht gestattet wird.«

Tschiang Tschings Richter aber scheinen Angst vor den Geistern der Vergangenheit zu haben: Das Hauptargument der Angeklagten, die Verantwortung Mao Tse-tungs, wird im Urteil nicht ein einziges Mal erwähnt.

S.117

Tschiang Tsching, (der Geheimpolizeichef) Kang Scheng und (der

mitangeklagte Sekretär Maos) Tschen Po-ta beschlossen im Juli 1967,

ohne dazu ermächtigt zu sein, daß Liu Schao-tschi kritisiert und

bekämpft werden darf ... Lius Wohnung wurde durchsucht, und es kam

zu körperlichen Angriffen gegen Liu und Wang Kuang-mei. Aufgehetzt

von Kang Scheng und anderen, wurde (das Funktionärsviertel)

Tschungnanhai umzingelt und versucht, in das Gebäude des Staatsrats

einzudringen.

*

Ich kann euch jetzt sagen, daß Liu ein Konterrevolutionär ist, ein

heimlicher Verräter, ein Renegat und feindlicher Agent. Er verdient

den Tod durch tausend Schnitte, durch zehntausend Schnitte.

*

S.119

Genosse Mao beging in seinen späten Lebensjahren Fehler, besonders

in der Großen Proletarischen Kulturrevolution, die er persönlich in

Gang setzte und führte. Diese Fehler brachten der Partei und dem

Volk schweres Unglück.

*

Die Geschichte hat bewiesen, daß ein Kopf, wenn er gefallen ist,

nicht wieder aufgesetzt werden kann. Er kann auch nicht wie

Schnittlauch wieder nachwachsen. Wenn ein Kopf abgeschnitten wurde,

kann man den Fehler nicht mehr korrigieren, selbst wenn man dies

wünscht.

*

S.116O.: Mit Staatsgast Hartini Sukarno;*u.: in einem Kostüm, das ihr zum Spott aufgezwungen wurde.*S.120Polizisten legen ihr Handschellen an, bevor sie abgeführt wird.*

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