ASYLRECHT Türen ins Nichts
Der temperamentvolle Botschafter Don Manuel Agudelo, Kolumbiens Chefrepräsentant beim Wiener Marathonkongreß für die Kodifizierung des Diplomatenrechts, sorgte am Montag der vergangenen Woche dafür, daß die gelangweilt dahindösenden Delegierten schnell hellwach wurden.
Die fast 500 zeitgenössischen Miniatur -Metternichs und -Talleyrands, die seit dem 3. März ihr Stundenpensum in der Wiener Neuen Hofburg absitzen, horchten
alarmiert auf, als Don Manuel programmwidrig das heikelste Thema des zweiten Wiener Kongresses anpackte: das Asylrecht.
Eine vermeintlich perfekte Konferenzregie, deren Drähte von der US-Delegation gezogen worden waren, hatte manche Anstrengung unternommen, um gerade dieses Problem vom Kongreß fernzuhalten.
Den amerikanischen Bemühungen war es zunächst zuzuschreiben, daß die Genfer Völkerrechtskommission der Uno ausgerechnet ihren Vorschlag zum Thema Asylrecht nicht rechtzeitig fertigstellen konnte, obwohl sie alle übrigen Artikel, von der Immunität der Haremsfrauen bis zur korrekten Abwicklung des diplomatischen Schnapsschmuggels zeitgerecht vorzubereiten wußte.
Darüber hinaus hatte - dank amerikanischen Einflüsterungen der indische Konferenzpräsident Arthur Samuel Lall noch vor der Erörterung des Artikels 20 ("Die Unverletzlichkeit der Gebäude diplomatischer Missionen durch das Gastland") sämtliche Delegierten beschworen, bei dieser Gelegenheit nicht etwa das Asylrecht zur Sprache zu bringen.
Daß die Amerikaner derart emsig bemüht sind, dem Wiener Kongreß das Asyl-Thema zu ersparen, geht auf ein Ereignis am 4. November 1956 zurück. An diesem Tage, da sowjetische Panzer den ungarischen Volksaufstand niederwalzten, flüchtete Ungarns katholischer Primas Kardinal Jozsef Mindszenty mit über den Kopf geschlagener Soutane in das Gebäude der US-Gesandtschaft am Budapester Szabadsag Tér und ersuchte um politisches Asyl, das er auch noch heute genießt.
Die gute Tat der US-Gesandtschaft brachte jedoch das State Department in arge Verlegenheit, denn weder zuvor noch danach hat Washington je ein solches Asyl gewährt; der Fall Mindszenty blieb eine vorbildlose Ausnahme.
Der fatale Widerspruch zwischen diplomatischer Tradition und demokratischem Gewissen blieb dem Regime des ungarischen KP-Chefs János Kádár nicht lange verborgen.
Stichelte der ungarische Außenamtssprecher Laszlo Gyaros: »Das Asylrecht der amerikanischen Gesandtschaft für Mindszenty steht auf äußerst wackligen Beinen, und zwar sowohl aus der Sicht des internationalen Rechtes wie der internen Richtlinien des US-Außenministeriums.«
Die amerikanische Diplomatie war denn auch diskret bemüht, die leidige Affäre aus der Welt zu schaffen. Beauftragte Washingtons schlugen den Unterhändlern Kádárs wiederholt vor, man möge dem Kardinal, der von US-Marine-Infanteristen bewacht wird und von keinem Journalisten interviewt werden darf, freies Geleit zum Vatikan geben, wogegen sich Mindszenty zum Schweigen verpflichten solle. Ungarn lehnte ab.
Besonders peinlich waren daher die Amerikaner berührt, als während der Vorbereitung der gegenwärtigen Konferenz bekannt wurde, der Wiener Diplomaten-Kongreß werde möglicherweise auch das Asylrecht diskutieren: Die Debatte mußte nicht nur die halbvergessene Mindszenty-Affäre erneut aufrühren, sondern auch die USA zu dem blamablen Geständnis zwingen, daß
Washington grundsätzlich jedwedes Asylrecht ablehnt.
Die amerikanischen Bemühungen um Vermeidung dieses Themas stießen trotz aller Anfangserfolge schließlich auf den Widerstand der Südamerikaner, denen das Asylrecht Herzenssache ist, denn die Hintertüren fremder Botschaften gehören zu den buchstäblich lebensnotwendigen Requisiten des südamerikanischen Spiels von Revolution und Gegenrevolution.
Kolumbiens Chefdelegierter Agudelo zeigte sich als erster entschlossen, sich nicht an den Enthaltsamkeits-Rat des Kongreßpräsidenten zu halten. Nicht ohne Doppelzüngigkeit sprach er in der Debatte sehr wohl vom Asylrecht, während er fleißig beteuerte, das unerwünschte Thema getreu der präsidialen Weisung nicht berühren zu wollen.
So Don Manuel Agudelo: »Ich will selbstverständlich das Problem des Asylrechts hier nicht zur Sprache bringen, weil wir ersucht wurden, das Thema aus der Diskussion herauszuhalten. Die Delegation Kolumbiens behält sich aber das Recht vor, diese Frage - Basis unserer Politik - zu jedem ihr angebracht erscheinenden Zeitpunkt zur Debatte zu stellen.«
Die rhetorischen Kniffe Agudelos brachten seine lateinamerikanischen Kollegen so in Wallung, daß von nun an einer nach dem anderen das Asylrecht verteidigte. Wenn es den Lateinern tatsächlich gelänge, das Asylrecht auf die Tagesordnung zu setzen, so bliebe dem US-Chefdelegierten Harrison Freeman Matthews als letzter Ausweg nur die verständnisinnige Hilfe jener Macht, deren Asylgepflogenheiten in amerikanischen Gemütern stets Unbehagen auslösen: der Sowjet-Union. Moskau lehnt das diplomatische Asylrecht ebenso ab wie Washington; der Kreml ist allenfalls bereit, zweiseitige Asyl-Verträge mit Staaten abzuschließen, in denen Kommunisten besonders gefährdet sind.
Noch hoffen freilich die österreichischen Gastgeber, das umstrittene Thema mit der diplomatischen Geschicklichkeit vermeiden zu können, die schon ihre Vorfahren auf dem ersten Wiener Kongreß vor 146 Jahren auszeichnete.
Fünf Türen im Kongreß-Saal des Hauses Ballplatz Nr. 2, Schauplatz der ersten Diplomatenkonferenz, bezeugen noch heute die Kunst der Wiener, heikle Fragen zu umgehen. Als sich die fünf mächtigsten Monarchen der Wiener Kongresses von 1815 nicht einigen konnten, wer als erster den Saal betreten solle, ließ Außenminister Metternich fünf Türen einbauen, die allen fünf gekrönten Häuptern erlaubten, just zur selben Sekunde in den Saal zu gelangen.
Zwei dieser Türen symbolisieren allerdings die eingeschränkten Möglichkeiten aller diplomatischen Raffinesse im Jahre 1961: Kaum hat man die Türen geöffnet, stößt man auf eine Mauer.
Asyl-Kardinal Mindszenty
Bedingte Freiheit ...