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SCHULEN Über den Berg

Mit einem Volksbegehren gegen die Kooperative Schule in Nordrhein-Westfalen will die CDU der angeschlagenen Regierung Kühn zusetzen.
aus DER SPIEGEL 8/1978

Dem Werbekaufmann Ulrich Stroetges, 49, flatterte eine »Benachrichtigung an alle Wahlberechtigten in Düsseldorf« ins Haus. Er war »aufgerufen«, sich »in die Liste der »Bürgeraktion Volksbegehren gegen Kooperative Schule« in dem für Sie zuständigen Eintragungslokal einzutragen«. Erforderlich: Personalausweis.

»Ober 24 Stunden« lang war Stroetges nach eigenem Bekunden »überzeugt«, daß die sozialliberal regierte Stadt Düsseldorf zur Abstimmung über die sozialliberale Landesregierung aufgerufen habe. »Wildfremde Leute« sahen, wie er, in dem Schreiben eine offizielle »Wahlbenachrichtigung«. Erst die Eintragungsfrist machte ihn stutzig und auf den wahren Absender aufmerksam -- auf die »Bürgeraktion Volksbegehren

Mit amtlich aufgemachten, den behördlichen Wahlbenachrichtigungen täuschend ähnlichen Aufforderungen versuchte die »Bürgeraktion« in der vergangenen Woche Wahlberechtigte zu mobilisieren -- für ein Votum gegen die »Kooperative Schule« in Nordrhein-Westfalen, einer Reform der Sekundarstufe I (5. bis 10. Schuljahr), wie sie in anderen Bundesländern längst üblich ist. Die Auseinandersetzung um diese Schule kommt in Nordrhein-Westfalen einer bildungspolitischen Generalabrechnung gleich.

Die CDU spricht von »Schulkampf«, Reizwort in einer Auseinandersetzung, die bis 1980 (Landtagswahl) währen könnte: auf der einen Seite die sozialliberale Koalition, die Lehrer-Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und der Deutsche Gewerkschaftsbund; auf der anderen Seite die CDU und, wie die »Westdeutsche Allgemeine Zeitung« schrieb, ein Dutzend »von ihr vorgeschickter Verbände«, ausnahmslos konservative Eltern- und Lehrer-Organisationen sowie die Kirehen.

Das seit der Poullain-Affäre angeschlagene Kabinett Kühn bietet sieh für die Attacke von CDU und »Bürgeraktion« geradezu an: Das Volksbegehren, das letzte Woche begann und bis 1. März dauert, wird rechtswirksam, wenn 2,4 Millionen Unterschriften geleistet werden -- dann muß die Landesregierung das Gesetz dem Landtag erneut vorlegen; ist das Parlament zu einer Änderung nicht bereit, so folgt, nach der Landesverfassung, innerhalb von zehn Wochen ein Volksentscheid; und würde das Gesetz über die Einführung der Kooperativen Schule dann mit einfacher Mehrheit abgelehnt, müßte »die Landesregierung zurücktreten« (Artikel 68 NRW-Verfassung).

Immerhin haben in einer Umfrage des Allenzbacher Instituts für Demoskopie 67 Prozent das Volksbegehren für »eine gute Sache« gehalten -- was andererseits nicht allzuviel besagt angesichts des Umstandes, daß ein anderes Umfrage-Institut (Infas) ermittelt hat, zwei Drittel der Bevölkerung seien mit der Orientierungsstufe einverstanden. Diese Schulstufe, einstmals allseits anerkannte Substanz der Bildungsreform, ist Kernstück der Kooperativen Schule. Danach sollen die Schüler der Koop-Schule nach vierjähriger Grundschule eine zweijährige Orientierungsstufe besuchen, in der jeder nach individueller Begabung oder Schwäche gefördert werden soll; Eltern und Lehrer entscheiden während der zweijährigen Orientierungsphase in den Klassen 5 und 6 ohne Zeitdruck über die künftige Schullaufbahn ihrer Kinder und Schüler.

Entsprechend werden die Schüler nach der Orientierungsstufe auf Hauptschule, Realschule und Gymnasium verteilt, und alle drei Schulzweige werden in der Koop-Schule, bei getrennten Lehrplänen,organisatorisch unter einem Dach zusammengefaßt -- sofern es die Gemeinde wünscht.

Für die Befürworter wie den SPD-Landesvorsitzenden Johannes Rau soll dies die »humane, schülergerechte und ortsnahe Schule erhalten«. Für ihre Kritiker ist es lediglich eine »Kreation der Gesamtschul-Ideologen« ("Deutsche Zeitung") und ein »Schleichweg zur sozialistischen Einheitsschule« (CDU).

An dem wirklich fraglichen Punkt, ob die Orientierungsstufe sozial benachteiligten Schülern bessere Bildungschancen verschafft, wie sich Reformer erhoffen, halten sich die Koop-Gegner bezeichnenderweise gar nicht auf. Sie fürchten durch die »Einheitsbildung für alle« (CDU) vielmehr eine unzureichende Förderung der Begabten und die »Zerschlagung des Gymnasiums« (Philologenverband). Die katholischen Bischöfe fanden: »Fragwürdig« und »überflüssig«.

Dabei bedeuten die Kooperativen Schulen keineswegs den »entscheidenden bildungspolitischen Fortschritt«. was die GEW ohne Umschweife zugibt; nur seien die Koop-Regelungen »naheliegend und notwendig«. Und in der Tat: Die Vorteile der neuen Schulform liegen auf der Hand.

Auch nach dem für Mitte der achtziger Jahre erwarteten drastischen Rückgang der Schülerzahlen um bis zu 40 Prozent kann in kleinen Gemeinden ein vollständiges Schulangebot von Hauptschule, Realschule und Gymnasium gewährleistet werden, den Schülern werden lange Schulwege erspart, Lehr- und Lernmittel optimal genutzt.

Noch vor wenigen Jahren hätte sich die Düsseldorfer SPD/FDP-Koalition daher der Unterstützung der Christdemokraten sicher sein können. Im Kulturausschuß des Landtages plädierte die Union 1973 gar für die »generelle Einführung« der »Kooperativen Gesamtschule«. Und noch im ·.Schulpolitischen Arbeitsprogramm »80« der NRW-CDU von 1975 war die Orientierungsstufe aufgeführt, um eine »vernünftige Aufteilung der Schüler auf die gleichwertigen, aber nicht gleichartigen Schulformen« zu ermöglichen.

Orientierungsstufen, mal schulartübergreifend, mal schulartgebunden, gibt es heute denn auch unter CDU-Kultusministern wie in Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Schleswig-Holstein ebenso in SPD-geführten Ländern wie Bremen und Hessen.

Für die rheinisch-westfälische Union freilich sind sie auf einmal eine »zweijährige Dauerprüfung«, die »zur Schulunlust« beitrage. Und weil es ihr zur Zeit in den Kram paßt, läßt sie andere Argumente nicht gelten -- nicht einmal die von Parteifreunden.

Niedersachsens Kultusminister Werner Remmers (CDU) etwa sieht die Orientierungsstufe als »eine gute Sache« an und »nicht als eine Vorstufe der Gesamtschule«. Man müsse doch zugeben, so der Minister, daß es vielen Kindern guttue« die Entscheidung über ihren weiteren Bildungsweg nicht schon nach vier, sondern erst nach sechs Schuljahren zu treffen.

In Niedersachsen, das die schulartilbergreifende Orientierungsstufe zu über 70 Prozent eingeführt hat, lassen die Berichte von Eltern, Lehrern, Schulräten und Dezernenten an das Ministerium »grundsätzliche Zustimmung der Beteiligten erkennen«.

Die »Arbeitsgruppe Orientierungsstufe« an der Pädagogischen Hochschule Niedersachsen in Lüneburg veröffentlichte »erste empirische Ergebnisse«, nach denen etwa die Orientierungsfunktion der Schulstufe von Schülern, Eltern und Lehrern »durchweg positiv veranschlagt« wurde.

Bei einer Untersuchung in Osnabrück äußerten sich von rund 1000 Eltern 83 Prozent »zufrieden« über die Schulstufe. Und von fast 1500 Eltern in verschiedenen Regionen Niedersachsens stimmten 64 Prozent »eindeutig für« und nur zwei Prozent »entschieden gegen« die Orientierungsstufe.

Nach einer repräsentativen Umfrage glauben 57 Prozent der rheinland-pfälzischen Lehrer an schulartübergreifenden Orientierungsstufen, eine bestmögliche Begabungsentfaltung sei an dieser Schulstufe »besser als im dreigliedrigen Schulsystem zu erreichen«.

Zwei Buxtehuder Gymnasien urteilten gar im vergangenen Jahr über ihre erste Schülergeneration aus Orientierungsstufen:

Die Schüler zeigen sich ungewöhnlich schulfreudig. Sie sind offen, fröhlich und unbefangen, und sie zeigen ein lebhaftes Interesse am Unterrichtsgeschehen und am Lehrstoff ... Die Schüler bringen aus der Orientierungsstufe ein Fundament mit, auf dem der weitere Unterricht sinnvoll aufbauen kann.

Remmers will sich denn auch nicht irremachen lassen: »Wenn mir einer sagt, mit der Orientierungsstufe setzen wir die heiligsten Güter aufs Spiel, dann glaube ich das nicht.«

Eben dies aber soll den Rheinländern und Westfalen glauben gemacht werden: daß nämlich die Koop-Schule »ein gefühlloses Instrument zur Zerstörung unserer Schulsysteme« (CDU) sei. Und dabei verbittet sich Oppositionsführer Heinrich Köppler jegliche Belehrung. Der liebe »Herr Kollege Remmers«, ließ er den streitbaren Niedersachsen wissen, möge sich im nordrhein-westfälischen »Schulkampf« einer »entsprechenden Zurückhaltung befleißigen«.

Die lassen die Christdemokraten selber freilich an Rhein und Ruhr nicht walten. Schulleiter ließen, wie am Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium in Wuppertal, Elternversammlungen nicht verstreichen, ohne Nachhilfe über die vermeintlichen Gefahren der neuen Schulform zu erteilen. Elfjährige Schüler wurden, wie am Konrad-Adenauer-Gymnasium in Kleve-Kellen, um zwei Mark gebeten für eine Sache, »für die eure Eltern auch sind«.

Und an katholischen Schulen registrierte das Düsseldorfer Kultusministerium gar »ganz massiven Druck« auf Lehrer, die Anti-Kampagne durch Aufkleber an ihren Autos zu unterstützen oder, besser noch, aktiv Werbung für das Volksbegehren zu betreiben. Überzeugungshilfe für eine Studienrätin zur Anstellung: Derlei Engagement könne sich für ihre Anstellung auf Lebenszeit günstig auswirken.

Aktive Unterstützung möchte auch der nordrhein-westfälische Magenbitter-Fabrikant Underberg leisten und -- frei nach seiner TV-Werbung -- der CDU »ein klein wenig über den Berg« helfen. In einem Schreiben »an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter« forderte Mitinhaber Karl-Hubertus Underberg »aktive Mitwirkung« seiner Angestellten. Auf einer vorgedruckten und freigemachten Rückantwort ("Persönlich! Vertraulich") hatten die Underberg-Beschäftigten anzukreuzen, wie sie sich ihre Mitarbeit vorstellen: »Einsatz im Wahllokal, Verteilung von Informationsmaterial, Beförderung von Mitbürgern mit eigenem Pkw oder Firmenwagen zum Wählen -- oder aber: »Ich kann leider nicht mitmachen.«

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