USA / DEMONSTRANTEN Über den Fluß
Amerikanische Fallschirmjäger flogen an die Front -- sie landeten in Washington.
Vor dem Verteidigungsministerium wehten Flaggen des Vietcong. In Los Angeles flammte es wie in Saigon: Aus Protest gegen den Krieg in Vietnam verbrannte sich eine 56jährige Frau. Kalifornische Polizisten prügelten demonstrierende Studenten.
Amerika, über den Vietnam-Krieg zerrissen, erlebte am vorletzten Wochenende die bislang heftigste Protestweile gegen die Vietnam-Politik seines Präsidenten Lyndon Baines Johnson.
Linksliberale und Rechtsradikale, Studenten und Professoren, Kommunisten und Pastoren marschierten Arm in Arm und vereint wie nie zuvor durch die Städte und Städtchen der USA. Sie verdammten Johnsons Krieg in Vietnam und erklärten Johnson den Krieg in der Heimat.
Im kalifornischen Oakland blockierten die Protestanten mit einem Sitzstreik die Einberufungsbehörde. Stämmige Staatsdiener knüppelten den Eingang für Wehrpflichtige und Freiwillige frei. Protest-Sängerin Joan Baez wehrte sich mit Mutter und Schwester gegen die staatlichen Stock-Schläge -- sie wurden vorübergehend festgenommen.
In der Hauptstadt sammelten sich rund 50 000 Bürger zum Massen-Marsch auf die Schaltstation der amerikanischen Kriegsmaschinerie, das Pentagon.
Verteidigungsminister McNamara kommandierte Marine-Infanteristen, Militärpolizisten und Fallschirmjäger zum Schutz seiner bedrängten Behörde in die Hauptstadt. 20 000 Soldaten rückten außerhalb Washingtons als Alarm-Reserve in die Kasernen; im Pentagon gingen 2500 Polizisten und GIs in Stellung.
Im »Kriegsraum« (War room) des Verteidigungsministeriums wechselten die Militärs Landkarten der vietnamesischen Kriegszonen gegen Stadtpläne der Hauptstadt aus. Auf Befehl des Stabschefs des Heeres eilte der Kommandeur der 3. US-Armee, Generalleutnant John Throckmorton, als Sonderberater nach Washington. Der General hat inneramerikanische Front-Erfahrung: Seine Truppen waren bei den Rassenunruhen in Detroit im Einsatz.
In Abständen von 50 bis 100 Metern bewachten Polizisten die Residenz des Regierungschefs. Johnson verzichtete auf den Wochenendausflug zur Ranch. Freunden und Kritikern liest er neuerdings oft spontan vor, was Abraham Lincoln einst »einer aufgeregten und wegen des Krieges besorgten Gruppe Geistlicher vorgetragen« hatte; »Meine Herren, nehmen Sie einmal an, all Ihr Besitz bestände aus Gold und Sie würden dieses Gokl (dem französischen Hochseil-Artisten) Blondin mit dem Auftrag übergeben, es auf einem Seil über die Niagarafälle zu balancieren.«
»Würden Sie dann am Seil rütteln«, so rezitierte Lyndon Baines Johnson seinen berühmten Amtsvorgänger, »würden Sie ihn anbrüllen: »Blondin, stehen Sie aufrecht, Blondin, etwas langsamer, etwas schneller' ...?
»Nein, Sie würden den Atem anhalten ... bis er über den Fluß ist. Stören Sie ihn nicht, bleiben Sie ruhig, und Sie werden heil über den Fluß kommen.«
Viele Amerikaner zweifeln heute, daß Lyndon B. Johnson je heil über seinen Fluß kommt -- obschon immer mehr Soldaten sein Seil halten müssen. In Sonderkursen werden gegenwärtig 46 000 Rekruten, die noch vor einigen Jahren wegen geistiger Mängel vom Wehrdienst freigestellt worden wären, zu Soldaten getrimmt.
Wie das Land aussieht, das sie auf Johnsons Befehl verteidigen sollen, erfuhren die wehrunwilligen Amerikaner von einem Kennedy. Der »Untersuchungs-Ausschuß für Flüchtlingsfragen«, dem Senator Edward Kennedy präsidiert, ermittelte, daß über zwei Millionen Süd-Vietnamesen ein klägliches Flüchtlingsdasein führen. Ihre korrupte· Regierung gibt ihnen kaum
* Von einem Fenster des Pentagon aus beobachtete McNamara die Demonstration.
zu essen. Seiten bekommen die Vietnam-Vertriebenen jene 20 Pfennig pro Tag, die Saigon ihnen als Unterstützung versprochen hatte.
Rund 100 000 Zivilisten werden jährlich durch Bomben, Brände und Geschosse verletzt, doch nicht einmal die Hälfte der Blessierten wird je ärztlich behandelt.
35,6 Millionen Dollar stellte die Regierung der USA im Haushalt 1968 als vietnamesische Elends-Hilfe bereit -- so viel Geld, wie die USA ein halber Tag Krieg in Vietnam kostet.
»Johnson ist ein Schlachter«, behaupteten die Demonstranten deshalb auf ihren Plakaten. »Wo ist (Kennedy-Mörder) Oswald jetzt, wir brauchen ihn«, stand auf anderen Spruchbändern. Und: »Wieviel Jungen hast Du heute umgebracht, LBJ?«
Heitere Hippies mit blühenden Blumen und bärtige Linke mit Porträts des gefallenen Guerilla-Helden Guevara tönen in Sprechchören »Hell no, we won't go« (Zum Teufel nein, wir gehen nicht hin).
Die Protestanten bespuckten die Posten am Pentagon, die Wachen duldeten für Vietnam. Erst als Kriegsgegner in das Ministerium eindringen wollten, kam es zur blutigen Schlacht.
Militärpolizisten prügelten mit Gewehrkolben und schossen mit Tränengas. Die Marschierer warfen mit Flaschen, Zeitungen und Tomaten. Über 600 von ihnen wurden verhaftet.
Am Sonntag nach der Schlacht suchte Johnson Trost in der Washingtoner »National City Christian Church«. Pastor George Davis mühte sich, dem Präsidenten Zuspruch zu geben.
Die Demonstranten, so sprach der Seelsorger, »waren alles andere als verantwortungsbewußt. In unserer Nation gibt es Menschen. die es einfach nicht verdient haben, frei zu sein.«