JUGOSLAWIEN / WAHLEN Über den Kopf
Wahlen sind »eine lustige Sache«, fand die Beigrader Zeitung »Politika« schon vor genau 50 Jahren im südslawischen Königreich. Auch die Wahlen, die am 13. April im kommunistischen Tito-Reich begannen, waren lustig.
Im Kampf um eines der 43 678 Mandate schlug der Bürgermeister von Prilep einem Genossen einen Aschenbecher über den Kopf, kaufte in Krusevac ein orthodoxer Pope Wählerstimmen zum Stückpreis von sieben Mark (und wurde gewählt), belauschten kommunistische Funktionäre im bosnischen Srebrenik gegenseitig ihre Telephongespräche. Dort kostete eine Wählerstimme 17 Mark. Ein Bewerber Aleks Arsenic bot für vier Stimmen in der Kandidaten-Auswahlkommission sogar 190 Mark. In Brezik stimmte die Wahlkommission selbst für 87 Analphabeten mit ab.
Anders als in anderen kommunistischen Staaten sollte in Jugoslawien diesmal ein echter Wahlkampf geführt werden, »mit mehr Kandidaten, mit neuen Namen, mehr Arbeitern, Frauen und Jugendlichen«, wie es sich das Zagreber Wochenblatt »Vjesnik u srijedu« ausmalte. Die mit mindestens 800 Mark, dem dreifachen jugoslawischen Durchschnittsverdienst, wohldotierten Fauteuils im Belgrader Bundesparlament, in den sechs Land- und zwei Provinztagen sowie in Zehntausenden von Rathäusern wirkten attraktiv: In Brod kandidierten 64 Bewerber für das Bürgermeisteramt in einer halben Stadt (die andere Hälfte gehört zu einem anderen Bundesland).
In Titovo Uzice rangelten gleich 600 Bewerber um nur 25 zu vergebende Staatsposten, und in Kosovska Mitrovica waren es gar 850 Aspiranten, die sich nach 21 Ämtern drängten. Einer von ihnen lobte sich auf einer Wahlversammlung selbst: »Ich bin doch allen als guter Genosse, Aktivist und Kommunist bekannt!« Zwischenruf: »Von wem sprechen Sie eigentlich?«
In Novi Sad kandidierte der Sohn gegen den eigenen Vater, bei Kucevo nahm ein Vater das Vertrauen der Wähler für seinen Sohn entgegen, der persönlich nicht auftreten konnte: Er mußte in der ihm gehörenden Kneipe Gläser spülen. In Pljevlja schlugen gute Menschen eine arme, alte Frau vor -- sie habe eine gutdotierte Position am meisten nötig.
Sogar für den in ganz Jugoslawien als Komiker geschätzten Fernsehstar Miodrag Petrovic-Ckalja plädierte eine Wählerstimme: Er solle in das Parlament einziehen, »denn wenn ich ihn sehe, muß ich immer lachen«.
Ernsthaftere Wahlkämpfer fochten für politische Vorhaben: albanische« Nationalisten, die eine eigene Republik im Rahmen des jugoslawischen Bundesstaates verlangen; alte Partisanen, die Jugoslawien zum zentralistischen Kampfkommunismus zurückführen möchten; Studenten, die im vorigen Jahr außerparlamentarisch etwas mehr Demokratie und etwas mehr Sozialismus gefordert hatten.
Im größten jugoslawischen Bundesland, in Serbien, tauchten sogar nichtkommunistische Vorkriegspolitiker auf, die bisher ihre letzte Chance, bei allgemeinen Wahlen öffentlich hervorzutreten, 1945 gehabt hatten. Damals aber boykottierte die bürgerliche Opposition die Scheinwahlen. Das Wahlergebnis von damals: 90,48 Prozent für die »Volksfront«.
Diesmal traten die Jugoslawen nicht geschlossen an die Urne: 86,96 Prozent gaben ihre Stimme, und rund ein Zehntel der Stimmen war ungültig. Aber auch diesmal hatte die Partei, der »Bund der Kommunisten«, mit Hilfe ihres »Sozialistischen Bundes der Werktätigen« vorsichtshalber Filter in die Wahlmaschine eingebaut. Kandidatenkommissionen und Wählerversammlungen prüften schon Monate vor den Wahlen jeden Bewerber und lehnten ihn ab, wenn er der Partei mißfiel. Unterstützt von der parteigeleiteten Landespresse brachten die Wahlmanager schon vor dem Wahlakt jeden Außenseiter zu Fall: Sie kolportierten Vorstrafenregister und intime Details aus seinem Privatleben, setzten Rollkommandos ein und fälschten notfalls -- so in Lisnica und Vranje -- die Ergebnisse der Vorauswahlen.
Sogar 82 Mitglieder der Partei wurden unmißverständlich darauf hingewiesen, daß ihre Kandidatur nicht erwünscht sei und zurückgezogen werden müsse,
Spätestens im Februar, so erklärte die Beigrader »Borba« freimütig, stand fest, »wer gewählt wird«. Bereits 62 Tage vor Konstituierung des neuen Bundesparlaments wurde der ehemalige slowenische Sicherheitschef Mitja Ribicic mit der Bildung der neuen Bundesregierung beauftragt. Nach diesem Vorbild wurde noch vor den Wahlen der zukünftige Bürgermeister des Touristenortes Budva bestimmt -- durch einen Parteibeschluß im Beigrader Kaffeehaus »Moskva«.
Wählerversammlungen und Kandidatenkonferenzen siebten in Permanenz -- zwei Tage lang in Ivangrad und 19 Stunden ohne Pause in Bijelo Polje. Dann kamen sie zu dem, was das Beigrader Parteiblatt die erste »Wahlüberraschung« nannte: Statt, wie geplant, mehrerer Kandidaten stand in vielen Wahlkreisen wieder nur ein Bewerber zur Auswahl.
Die zweite Überraschung: Das sozialistische Jugoslawien wird auch in Zukunft nicht von einem Arbeiter- und Bauernparlament geleitet werden, das sich Beigrader Gewerkschaftler und Studenten gewünscht hatten. Unter Serbiens 305 Abgeordneten sind 23 Bauern und sieben Arbeiter, aber 43 »soziopolitische Arbeiter« (Funktionäre) und 86 Betriebsdirektoren.
Ein Bauer, der nicht sollte, kam dennoch auf die Wahlliste: Vukasin Mitic aus dem südserbischen Nisch. Noch zwei Tage vor den Wahlen hatte er nach einem harten Gespräch mit ehemaligen Tito-Partisanen seine Kandidatur zurückgezogen, aber das Wahlgesetz, das eine siebentägige Frist vorsieht, ließ den Rückzug nicht zu.
Er wurde gewählt, Die »Borba« wußte dennoch einen Ausweg: »Ein gewählter Kandidat kann schließlich auch noch nach den Wahlen zurücktreten.« Bauer Mitic ist vorbestraft. 1952 war er zu acht Monaten Zuchthaus wegen »Wühlarbeit »gegen die Volksmacht« verurteilt worden.