Über die Grenze: »Ist ja Wahnsinn«
Schier undurchdringlich scheint die Grenze, die Deutschland von Deutschland trennt, beäugt von Scharfschützen, bewacht von Hetzhunden, bewehrt mit Metallgitterzäunen, Kontrolltürmen, Bunkern, bestückt mit Millionen Tretminen und ungezählten Schießautomaten -- ein mörderisches Exempel auf den sonst komisch-deutschen Gartenschreck »Achtung, Selbstschüsse«.
Und dennoch, Tag für Tag wird diese Grenze überschritten, übersprungen, überklettert. An irgendeiner Stelle dieser 1345,9 Kilometer langen Absperrung kommt immer einer durch -- und immer wieder einer um.
»Ein Mut, der manchmal an Wahnsinn grenzt«, bescheinigt ein Major des Bundesgrenzschutzes den DDR-Bürgern, die da unter Gefahr für Leib und Leben herüberkommen. Schätzungsweise 500 bis 1000 sind es im Jahr, und wenn man die Mauer in Berlin, die Transitwege und die Ostsee hinzunimmt, sind es 45 000 Bürger, die seit 1961 direkt von Deutschland Ost nach Deutschland West herüberwechselten. In den offiziellen Statistiken des Bundesinnenministeriums wird die Gruppe der sogenannten Sperrbrecher (Flucht über Transitwege, Demarkationslinie. Ostsee oder Berliner Mauer) nicht aufgeschlüsselt, um der DDR keinen Hinweis auf bevorzugte Fluchtwege zu geben.
Kein Zweifel, die Chancen. heil über die zu Recht als »Todesstreifen« klischierte Grenze zu gelangen, werden geringer. Das Risiko für den, der sie überwinden will, beginnt schon, wenn ihm der Gedanke kommt. Denn spricht er davon und das Regime erfährt's, droht -- wegen »Vorbereitung und Versuchs« eines »ungesetzlichen Grenzübertritts« -- Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren.
Bleibt sein Vorhaben geheim, endet die Flucht womöglich, bevor sie recht begonnen hat: Bereits 30 Kilometer vor der Grenze muß einer, der aus Sachsen oder aus dem Spreewald kommt, mit verschärften Kontrollen rechnen; im Zweifelsfall wird er schlicht zurückgewiesen.
In die Grenzorte, wo zumeist »Grenztruppen der DDR« stationiert sind, darf er schon gar nicht hinein. Eine 3,30 Meter hohe Betonsperrmauer schirmt besonders grenznahe Orte zusätzlich gegen die Grenze hin ab. Die Wege, die unmittelbar in den Grenzraum führen, ein bis zwei Kilometer vor dem Zaun, sind nur über Kontrollpunkte zu passieren.
Wem es gelingt, sich daran vorbeizuschleichen, wer durch Wald und Feld ungesehen weiterkommt, trifft vielerorts auf ein erstes Grenzhindernis, das schwer zu überwinden ist, den vom Grenzschutz so genannten Schutzstreifenzaun.
Dieser zwischen 100 und 1500 Meter von der eigentlichen Grenze entfernte Zaun, in der unteren Hälfte meist aus Metallgittern, zwei Meter hoch und einen halben Meter tief in die Erde eingegraben, ist derzeit über eine Länge von 513 Kilometer voll ausgebaut. Mehrere Sensordrähte an ihm sind mit Schwachstrom geladen; werden sie berührt, läßt eine Automatik Signalhörner tuten und Blinklichter aufstrahlen;
* Abtransport eines tödlich Verletzten bei Lübeck-Eicbbolz.
spätestens dann endet, so schätzen Grenzschutz-Experten, die Hälfte aller Fluchtversuche.
Wer eine Stelle erwischt, wo noch kein Schutzstreifenzaun errichtet ist, kann deshalb noch nicht von Glück reden. Dort patrouillieren verstärkt, und der Unberechenbarkeit wegen in wechselndem Rhythmus, Streifen der Grenztruppe, und freie Sicht von einem der 570 Beobachtungstürme birgt zusätzlich Gefahr. Die Türme sind aus Beton, Stahl oder Holz, stehen zumeist etwa 50 Meter von der Grenze entfernt und -- je nach Gelände -- 500 Meter bis sieben Kilometer auseinander.
Die Betontürme sind fast immer besetzt, die zu sogenannten Führungspunkten ausgebauten Türme (mit Bunker und Parkplatz) in jedem Fall zu jeder Zeit, die 900 Erdbunker oder Unterstände, die das System der Türme ergänzen, dagegen selten. Zum Kordon gehören schließlich auch insgesamt 470 Hundelaufanlagen, in denen zur Zeit rund 700 auf Biß abgerichtete Schäfer- und Wolfshunde grenzauf, grenzab trotten, fremde Gerüche schnuppernd und jeden Laut beobachtend.
Ihre Leinen sind an Ringen oder Rollen befestigt, die über zwanzig bis fünfundzwanzig Meter lange Drahtseile laufen. Die Anlagen, in denen sich manchmal bis zu zehn Hunde nebeneinander oder in Doppelreihen befinden, sind schnell verlegbar und werden gerne in der Nähe von Grenzbaustellen eingesetzt oder auch dort, wo eine geglückte Flucht eine Schwachstelle verriet.
Mancherorts mag ein Flüchtling auch über Stolperdrähte stolpern, was eine Leuchtrakete freisetzt -- früher als Warnmittel bevorzugt, heute eher vernachlässigt. Wer dennoch bis zum Grenzstreifen durchkommt, hat das Schlimmste vor sich, zehn weitere Hindernisse,
Die ersten drei muten vergleichsweise harmlos an: Lichtsperren (110 Kilometer), deren Laternen den sogenannten Kolonnenweg (1176 Kilometer, davon 753 betoniert), den sechs Meter breiten, sorgsam geeggten Spuren-Sicherungsstreifen und den 1,80 Meter tiefen Kraftfahrzeugsperrgraben (741 Kilometer, davon 420 betoniert) ausleuchten.
Jenseits des Kfz-Sperrgrabens beginnt der tödliche Bereich in verschiedener Variation: als doppelter Stacheldrahtzaun mit vermintem Zwischenraum (520 Kilometer), als 2,40 Meter hoher, doppelter Metallgitterzaun mit vermintem Zwischenraum oder als 3,20 Meter hoher, einreihiger Metallgitterzaun mit Selbstschußanlage SM 70 (Länge des Metallgitterzaunes: 867 Kilometer). An einigen Stellen, wie zwischen Salzwedel und Arendsee, sind Minenfeld und Selbstschußanlage kombiniert.
Der Metallgitterzaun, der den früher üblichen Stacheldrahtzaun zunehmend ersetzt, ist mit bloßen Händen kaum zu überklettern. Seine aus Blech gestanzten Rauten sind nur etwa zwei Zentimeter groß und scharfkantig, bieten keine Möglichkeiten für den Zugriff, es sei denn, der Flüchtling benutzte Bergsteigerhaken. Die Stützpfähle des Zaunes liegen zur Bundesrepublik hin, geben mithin auch keinen Halt für den Flüchtling, der ja immer von der anderen Seite kommt.
Erschossen werden kann der Flüchtling, der so weit gekommen ist, von ziemlich allen Seiten: von rechts und links, vorn und oben durch Selbstschüsse, von unten durch Minen.
Es sind vorwiegend russische Tretminen vom Typ PMP 71, etwas größer als eine Kaffeetasse und mithin viel unauffälliger als die früher installierten Holzkastenminen. Sie sind wenige Zentimeter unter der Erdoberfläche vergraben, können wegen ihres Kunststoffmantels nicht verrotten und gehen schon bei einem Druck von 6 Kilogramm hoch. Ihre Lage -- ein Meter voneinander entfernt, zwei oder drei Reihen gegeneinander versetzt -- kennen selbst die DDR-Wachen nicht.
Die Selbstschußanlagen sind an jedem vierten Pfahl (alle zehn Meter) in drei verschiedenen Höhen (40, 180, 300 Zentimeter) an der ostwärtigen Seite des Metallgitterzaunes angebracht -- ein Schußapparat mit trichterförmiger Mündung nebst Zündvorrichtung und Halterung. Wenn die Automatik abdrückt, feuert ein Sprengsatz scharfkantige Metallsplitter mit Streuwirkung aus dem Trichter, vorwiegend parallel zum Metallgitterzaun.
Die Explosion wird ausgelöst, sobald einer der am Zaun entlang geführten Spanndrähte bewegt oder durchtrennt wird. Im selben Moment blinkt und tutet es im nächstgelegenen Führungspunkt der Grenztruppe -- die Signale zeigen, wo am Zaun etwas geschieht.
Obwohl der SM-70-Automat seit 1971 verwendet wird, weiß der Bundesgrenzschutz bis heute nicht genau, wie er funktioniert. So sind sich Grenzschutzoffiziere im Norden und Süden uneins darüber, wie er beispielsweise von einem Flüchtling gefahrlos entschärft werden könnte: ob etwa das Durchtrennen der Zündkabel, die frei aus dem Trichter ragen (siehe Skizze Seite 84), die Sprengtrichter lahmlegt. oder oh auch dann eine Explosion ausgelöst wird; ob der Versuch tunlich sei, den Spanndraht durch einen Nagel oder dergleichen zu arretieren (so daß er nicht als Auslöser funktionieren kann), oder ob es besser wäre, das Stromkabel zu den Verteilerkästen am Fuß des Zaunes zu unterbrechen.
Bliebe für den, der das Richtige tut und selbst dieses tödliche Hindernis samt Zaun überwindet, noch der bis zu 100 Meter breite Geländestreifen, der unmittelbar an die Bundesrepublik grenzt. Der Streifen sieht harmlos aus, kostete aber bereits manchen das Leben und viele die Freiheit. Flüchtlinge, die sich nach dem letzten Zaun in Sicherheit wähnten, sahen sich plötzlich einer DDR-Streife gegenüber, die auch hier noch jeden Fluchtversuch mit der Maschinenpistole stoppt.
Und in 675 Fällen ermittelt die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter gegen DDR-Soldaten, weil sie Flüchtende gar vom Territorium der Bundesrepublik wieder auf DDR-Gebiet zurückgeholt haben.
Was an dieser Grenze geschieht, müßte eigentlich jeden entmutigen, sie zu überwinden. Die Zentralstelle in Salzgitter registrierte seit 1961 allein 98 Todesfälle im Grenzbereich; die wirkliche Zahl der Getöteten liegt vermutlich weit höher. Über die Zahl der Verletzten und der Festgenommenen gibt keine Statistik Auskunft.
Wenn es typisch ist, daß immer mal wieder einer durchkommt, dann ist doch auch typisch, was beispielsweise schon 1966 bei Coburg geschah: Ein 15- und ein 16jähriger werden von zwei Posten gestellt und beschossen. Der eine stirbt an einem Lungendurchschuß, der andere wird festgenommen.
Oder so: Jutta Jahn flüchtet am 14. Dezember 1971 mit Mann und zweijährigem Kind bei Duderstadt über den Grenzstreifen. Die Frau tritt auf eine Mine, die Detonation reißt ihr das rechte Bein bis zum Oberschenkel und das linke bis zum Knie ab -- sie kommt durch, als Krüppel. Oder so: Von Metallteilen durchsiebt, stürzt am 4. Oktober dieses Jahres ein Flüchtling bei Helmstedt, vom Westen her kann man es sehen, vom Metallgitterzaun, tot.
Bundesgrenzschutz-Offiziere, die sich an der Grenze auskennen, würden keinem zur Flucht über den Streifen raten. »Natürlich gibt es noch Löcher in der Grenze«, sagt einer von ihnen, »aber wer kennt die schon genau?« Ein anderer möchte »lieber gleich tot sein als übern Streifen«.